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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Der Eindruck von Kunst und Wirklichkeit

Bei einer solche!? Fragestellung tritt' aber klar zu Tage, daß ein großer Teil
dessen, was wir beim Kunstwerk sehen, gar nicht erfahren werden kann. Gehen
doch gar viele Dinge der Welt nnr so vor sich, wie sie es thun, wenn keine
Zeugen zugegen siud. Eine Liebeserklärung findet in der Regel unter Aus¬
schluß der Öffentlichkeit statt, nur in einem Drama können wir einer bei¬
wohnen; und die seelischen Vorgänge, wie sie ein Roman schildert, sind über¬
haupt jeder Beobachtung unzugänglich. Natürlich setzen wir uus genau wie
beim Kunstwerk auch in der Wirklichkeit als unbeteiligte Zuschauer voraus.
Denn es ist selbstverständlich, daß wir uns unter ganz andern seelischen
Voraussetzungen befinden und ganz andre Gefühle haben, wenn wir uns bei
einem Ereignis thätig beteilige", als wenn wir als unbeteiligte Dritte zugegen
siud. Selbst in heftigen Zorn geraten oder für einen in Zorn geratenen
Menschen Mitgefühl oder Abneigung empfinden, sind zwei gänzlich verschiedne
seelische Vorgänge.

Auch noch in andrer Hinsicht stimmt das, was ich "genau entsprechende
Wirklichkeit" nannte, nicht überein mit der uns zugänglichen persönlichen Er¬
fahrung. Man vergleiche den Anblick einer dramatischen Aufführung mit dem
Erlebnis der dargestellten Vorgänge. Was wir im gewöhnlichen Leben in
längerem Zeitraume und gleichzeitig mit vielen andern Dingen erleben, was
Nur nur bruchstückweise selber sehen und wovon Nur das übrige ungesichtet,
unvollständig und in falscher Reihenfolge durch die Mitteilung andrer erhalten,
das wird uns im Drama planmäßig geordnet und unter Ausscheidung alles
nicht zur Sache gehörigen, in wirksamer Steigerung und in so kurzer Zeit vor
Augen geführt, daß sich alles für die Beurteilung nötige und ausschlaggebende
gleichzeitig in unserm Bewußtsei" vereinigt. Wo kann dies je in Wirklichkeit
der Fall sein? Sollten auch die Einzelheiten eines Kunstwerkes nur eine ge¬
treue Nachbildung des Wirklichen sein, ihre Auswahl, Anordnung und Grup-
pirung ist Sache künstlerischer Thätigkeit. Was man gewöhnlich aus der un-
endlichen Fülle des von der Natur gebotenen ins Bewußtsein aufnimmt, ist
mehr oder minder zufällig und mit fremdartigem Bestandteilen durchsetzt; aber
was der Künstler durch sei" Werk uns ins Bewußtsein aufzunehmen zwingt,
konzentrirt sich auf Wesentliches und Wertvolles. Nicht was jedermann, was
eine besonders organisirte und künstlerisch angelegte Persönlichkeit von der
Wirklichkeit wahrnimmt, wird im Kunstwerke geboten.

Aus dem Gesagten geht hervor, daß der hier behandelte Begriff der einem
Kunstwerke entsprechenden Wirklichkeit nicht etwa mit der Wahrnehmung oder
Erfahrung zu verwechseln ist, die Nur selbst über das Dargestellte erlangen
können. Auch die Kunstwerke, die eine völlig "exakte Reproduktion" der Wirk¬
lichkeit zu geben beanspruchen, können Dinge zur Darstellung bringen, die,
wenn sie überhaupt für uns wahrnehmbar sind, doch unter veränderten sub¬
jektive" Voraussetzungen und in ander"! Zusammeiihauge wahrgenommen


Grenzboten III 1890 77
Der Eindruck von Kunst und Wirklichkeit

Bei einer solche!? Fragestellung tritt' aber klar zu Tage, daß ein großer Teil
dessen, was wir beim Kunstwerk sehen, gar nicht erfahren werden kann. Gehen
doch gar viele Dinge der Welt nnr so vor sich, wie sie es thun, wenn keine
Zeugen zugegen siud. Eine Liebeserklärung findet in der Regel unter Aus¬
schluß der Öffentlichkeit statt, nur in einem Drama können wir einer bei¬
wohnen; und die seelischen Vorgänge, wie sie ein Roman schildert, sind über¬
haupt jeder Beobachtung unzugänglich. Natürlich setzen wir uus genau wie
beim Kunstwerk auch in der Wirklichkeit als unbeteiligte Zuschauer voraus.
Denn es ist selbstverständlich, daß wir uns unter ganz andern seelischen
Voraussetzungen befinden und ganz andre Gefühle haben, wenn wir uns bei
einem Ereignis thätig beteilige«, als wenn wir als unbeteiligte Dritte zugegen
siud. Selbst in heftigen Zorn geraten oder für einen in Zorn geratenen
Menschen Mitgefühl oder Abneigung empfinden, sind zwei gänzlich verschiedne
seelische Vorgänge.

Auch noch in andrer Hinsicht stimmt das, was ich „genau entsprechende
Wirklichkeit" nannte, nicht überein mit der uns zugänglichen persönlichen Er¬
fahrung. Man vergleiche den Anblick einer dramatischen Aufführung mit dem
Erlebnis der dargestellten Vorgänge. Was wir im gewöhnlichen Leben in
längerem Zeitraume und gleichzeitig mit vielen andern Dingen erleben, was
Nur nur bruchstückweise selber sehen und wovon Nur das übrige ungesichtet,
unvollständig und in falscher Reihenfolge durch die Mitteilung andrer erhalten,
das wird uns im Drama planmäßig geordnet und unter Ausscheidung alles
nicht zur Sache gehörigen, in wirksamer Steigerung und in so kurzer Zeit vor
Augen geführt, daß sich alles für die Beurteilung nötige und ausschlaggebende
gleichzeitig in unserm Bewußtsei» vereinigt. Wo kann dies je in Wirklichkeit
der Fall sein? Sollten auch die Einzelheiten eines Kunstwerkes nur eine ge¬
treue Nachbildung des Wirklichen sein, ihre Auswahl, Anordnung und Grup-
pirung ist Sache künstlerischer Thätigkeit. Was man gewöhnlich aus der un-
endlichen Fülle des von der Natur gebotenen ins Bewußtsein aufnimmt, ist
mehr oder minder zufällig und mit fremdartigem Bestandteilen durchsetzt; aber
was der Künstler durch sei» Werk uns ins Bewußtsein aufzunehmen zwingt,
konzentrirt sich auf Wesentliches und Wertvolles. Nicht was jedermann, was
eine besonders organisirte und künstlerisch angelegte Persönlichkeit von der
Wirklichkeit wahrnimmt, wird im Kunstwerke geboten.

Aus dem Gesagten geht hervor, daß der hier behandelte Begriff der einem
Kunstwerke entsprechenden Wirklichkeit nicht etwa mit der Wahrnehmung oder
Erfahrung zu verwechseln ist, die Nur selbst über das Dargestellte erlangen
können. Auch die Kunstwerke, die eine völlig „exakte Reproduktion" der Wirk¬
lichkeit zu geben beanspruchen, können Dinge zur Darstellung bringen, die,
wenn sie überhaupt für uns wahrnehmbar sind, doch unter veränderten sub¬
jektive« Voraussetzungen und in ander«! Zusammeiihauge wahrgenommen


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[0618] Der Eindruck von Kunst und Wirklichkeit Bei einer solche!? Fragestellung tritt' aber klar zu Tage, daß ein großer Teil dessen, was wir beim Kunstwerk sehen, gar nicht erfahren werden kann. Gehen doch gar viele Dinge der Welt nnr so vor sich, wie sie es thun, wenn keine Zeugen zugegen siud. Eine Liebeserklärung findet in der Regel unter Aus¬ schluß der Öffentlichkeit statt, nur in einem Drama können wir einer bei¬ wohnen; und die seelischen Vorgänge, wie sie ein Roman schildert, sind über¬ haupt jeder Beobachtung unzugänglich. Natürlich setzen wir uus genau wie beim Kunstwerk auch in der Wirklichkeit als unbeteiligte Zuschauer voraus. Denn es ist selbstverständlich, daß wir uns unter ganz andern seelischen Voraussetzungen befinden und ganz andre Gefühle haben, wenn wir uns bei einem Ereignis thätig beteilige«, als wenn wir als unbeteiligte Dritte zugegen siud. Selbst in heftigen Zorn geraten oder für einen in Zorn geratenen Menschen Mitgefühl oder Abneigung empfinden, sind zwei gänzlich verschiedne seelische Vorgänge. Auch noch in andrer Hinsicht stimmt das, was ich „genau entsprechende Wirklichkeit" nannte, nicht überein mit der uns zugänglichen persönlichen Er¬ fahrung. Man vergleiche den Anblick einer dramatischen Aufführung mit dem Erlebnis der dargestellten Vorgänge. Was wir im gewöhnlichen Leben in längerem Zeitraume und gleichzeitig mit vielen andern Dingen erleben, was Nur nur bruchstückweise selber sehen und wovon Nur das übrige ungesichtet, unvollständig und in falscher Reihenfolge durch die Mitteilung andrer erhalten, das wird uns im Drama planmäßig geordnet und unter Ausscheidung alles nicht zur Sache gehörigen, in wirksamer Steigerung und in so kurzer Zeit vor Augen geführt, daß sich alles für die Beurteilung nötige und ausschlaggebende gleichzeitig in unserm Bewußtsei» vereinigt. Wo kann dies je in Wirklichkeit der Fall sein? Sollten auch die Einzelheiten eines Kunstwerkes nur eine ge¬ treue Nachbildung des Wirklichen sein, ihre Auswahl, Anordnung und Grup- pirung ist Sache künstlerischer Thätigkeit. Was man gewöhnlich aus der un- endlichen Fülle des von der Natur gebotenen ins Bewußtsein aufnimmt, ist mehr oder minder zufällig und mit fremdartigem Bestandteilen durchsetzt; aber was der Künstler durch sei» Werk uns ins Bewußtsein aufzunehmen zwingt, konzentrirt sich auf Wesentliches und Wertvolles. Nicht was jedermann, was eine besonders organisirte und künstlerisch angelegte Persönlichkeit von der Wirklichkeit wahrnimmt, wird im Kunstwerke geboten. Aus dem Gesagten geht hervor, daß der hier behandelte Begriff der einem Kunstwerke entsprechenden Wirklichkeit nicht etwa mit der Wahrnehmung oder Erfahrung zu verwechseln ist, die Nur selbst über das Dargestellte erlangen können. Auch die Kunstwerke, die eine völlig „exakte Reproduktion" der Wirk¬ lichkeit zu geben beanspruchen, können Dinge zur Darstellung bringen, die, wenn sie überhaupt für uns wahrnehmbar sind, doch unter veränderten sub¬ jektive« Voraussetzungen und in ander«! Zusammeiihauge wahrgenommen Grenzboten III 1890 77

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/618>, abgerufen am 29.06.2024.