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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Die Aufgabe der Gegenwart

seinerzeit viel böses Blut gemacht; nun hat man seine Klassiker in der Volks¬
schule, aber welcher Segen liegt darin, daß das Kind beim Examen auszusagen
weiß: Goethe ist geboren den 28. August 1749. Er war der Sohn der Frau
Rat Goethe, machte eine Sturm- und Drangperiode durch und starb mit dem
Ausspruche: Mehr Licht? Es ist doch prachtvoll, wenn in der Volksschule
der pythagoreische Lehrsatz, Mikroskopie und Pflanzenphhsiologie gelehrt,
und wenn die Naturkunde auf wissenschaftliche Weise getrieben wird. Ich
könnte ergötzliche Einzelheiten vorbringen, aber auf diese kommt es nicht an,
sondern auf den Grundfehler, daß man glaubt, durch Mehrung des Wissens
den Willen bilden zu können. "Bildung macht frei." Ja wohl, aber Halb¬
bildung ist der Übel größtes und führt stracks in die Sozialdemokratie hinein.
Es sind oft die Schüler mit den besten Zensuren, die später die ärgsten Sozial-
demokraten werden. Wer ist gebildeter, der Mann der Wissenschaft, der eine
Unsumme von Wissen in seinem Kopfe aufgespeichert hat, oder die Frau, die
wenig gelernt hat, aber gut erzogen ist und weiß, was sich ziemt? Die Schule,
wie sie jetzt ist, kaun nicht als der zuverlässige Eckstein des Staates gelten,
als der sie gerühmt wird. Sie thäte gut, die "Last der hundert Kamele,"
mit der sie sich schleppt, in der Wüste zu lassen und alle ihre Kräfte anf die
Hauptsache zu sammeln, auf die Erziehung des Schülers. Wir haben, wie
gesagt, hierbei die Volksschule und ganz besonders die städtische Volksschule
im Auge.

Der Kultusminister hat in seiner Begrüßung der allgemeinen deutschen
Lehrerversammlung in Berlin die Schule den Eckstein des Vaterlandes genannt.
Das ging den Herren höchst linde ein, denn wer hört sich nicht gern als den
Eckstein des Vaterlandes loben! Später hat der Kultusminister seine Worte
dahin ausgelegt, daß er das Institut gemeint habe, nicht die Personen. Aber
was sind denn Institute anders als Personen? Wenn wir von der Schule
reden, haben wir uns vor allem mit der Person der Herren Schulmeister zu
befassen. Und da muß denn billig bezweifelt werden, ob der Staat, der die
Schule sein nennt, die Leiter und Inhaber der Schule, nämlich die Schullehrer,
so an der Hand habe, daß er sich aus sie verlassen kau". Es giebt unter deu
Schullehrern zuverlässige, treue, verständige Leute, wir wollen sogar annehmen,
daß es die Mehrheit sei, aber es giebt unter ihnen auch mehr als genug, die
das Gegenteil davon sind, Leute von radikaler Gesinnung in politischer wie in
religiöser Beziehung, denen der Skat der höchste Lebenszweck und der Schul¬
unterricht das größte Übel ist, und die von sich selbst eine hohe, ja sogar
die allerhöchste Meinung haben. So ein Schulmeister hält sich für einen
Elementarprvfesfor, für den Inhaber einer unfehlbaren Methode, für den
Schöpfer der Nativnalintelligeuz und für den Macher des Ganzen. Dabei ist
er stets unzufrieden. Sein Gehalt würde auch verdoppelt nicht ausreichen,
ihn nach Gebühr zu bezahlen. Den Vorgesetzten gegenüber geben die Herren


Die Aufgabe der Gegenwart

seinerzeit viel böses Blut gemacht; nun hat man seine Klassiker in der Volks¬
schule, aber welcher Segen liegt darin, daß das Kind beim Examen auszusagen
weiß: Goethe ist geboren den 28. August 1749. Er war der Sohn der Frau
Rat Goethe, machte eine Sturm- und Drangperiode durch und starb mit dem
Ausspruche: Mehr Licht? Es ist doch prachtvoll, wenn in der Volksschule
der pythagoreische Lehrsatz, Mikroskopie und Pflanzenphhsiologie gelehrt,
und wenn die Naturkunde auf wissenschaftliche Weise getrieben wird. Ich
könnte ergötzliche Einzelheiten vorbringen, aber auf diese kommt es nicht an,
sondern auf den Grundfehler, daß man glaubt, durch Mehrung des Wissens
den Willen bilden zu können. „Bildung macht frei." Ja wohl, aber Halb¬
bildung ist der Übel größtes und führt stracks in die Sozialdemokratie hinein.
Es sind oft die Schüler mit den besten Zensuren, die später die ärgsten Sozial-
demokraten werden. Wer ist gebildeter, der Mann der Wissenschaft, der eine
Unsumme von Wissen in seinem Kopfe aufgespeichert hat, oder die Frau, die
wenig gelernt hat, aber gut erzogen ist und weiß, was sich ziemt? Die Schule,
wie sie jetzt ist, kaun nicht als der zuverlässige Eckstein des Staates gelten,
als der sie gerühmt wird. Sie thäte gut, die „Last der hundert Kamele,"
mit der sie sich schleppt, in der Wüste zu lassen und alle ihre Kräfte anf die
Hauptsache zu sammeln, auf die Erziehung des Schülers. Wir haben, wie
gesagt, hierbei die Volksschule und ganz besonders die städtische Volksschule
im Auge.

Der Kultusminister hat in seiner Begrüßung der allgemeinen deutschen
Lehrerversammlung in Berlin die Schule den Eckstein des Vaterlandes genannt.
Das ging den Herren höchst linde ein, denn wer hört sich nicht gern als den
Eckstein des Vaterlandes loben! Später hat der Kultusminister seine Worte
dahin ausgelegt, daß er das Institut gemeint habe, nicht die Personen. Aber
was sind denn Institute anders als Personen? Wenn wir von der Schule
reden, haben wir uns vor allem mit der Person der Herren Schulmeister zu
befassen. Und da muß denn billig bezweifelt werden, ob der Staat, der die
Schule sein nennt, die Leiter und Inhaber der Schule, nämlich die Schullehrer,
so an der Hand habe, daß er sich aus sie verlassen kau». Es giebt unter deu
Schullehrern zuverlässige, treue, verständige Leute, wir wollen sogar annehmen,
daß es die Mehrheit sei, aber es giebt unter ihnen auch mehr als genug, die
das Gegenteil davon sind, Leute von radikaler Gesinnung in politischer wie in
religiöser Beziehung, denen der Skat der höchste Lebenszweck und der Schul¬
unterricht das größte Übel ist, und die von sich selbst eine hohe, ja sogar
die allerhöchste Meinung haben. So ein Schulmeister hält sich für einen
Elementarprvfesfor, für den Inhaber einer unfehlbaren Methode, für den
Schöpfer der Nativnalintelligeuz und für den Macher des Ganzen. Dabei ist
er stets unzufrieden. Sein Gehalt würde auch verdoppelt nicht ausreichen,
ihn nach Gebühr zu bezahlen. Den Vorgesetzten gegenüber geben die Herren


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[0059] Die Aufgabe der Gegenwart seinerzeit viel böses Blut gemacht; nun hat man seine Klassiker in der Volks¬ schule, aber welcher Segen liegt darin, daß das Kind beim Examen auszusagen weiß: Goethe ist geboren den 28. August 1749. Er war der Sohn der Frau Rat Goethe, machte eine Sturm- und Drangperiode durch und starb mit dem Ausspruche: Mehr Licht? Es ist doch prachtvoll, wenn in der Volksschule der pythagoreische Lehrsatz, Mikroskopie und Pflanzenphhsiologie gelehrt, und wenn die Naturkunde auf wissenschaftliche Weise getrieben wird. Ich könnte ergötzliche Einzelheiten vorbringen, aber auf diese kommt es nicht an, sondern auf den Grundfehler, daß man glaubt, durch Mehrung des Wissens den Willen bilden zu können. „Bildung macht frei." Ja wohl, aber Halb¬ bildung ist der Übel größtes und führt stracks in die Sozialdemokratie hinein. Es sind oft die Schüler mit den besten Zensuren, die später die ärgsten Sozial- demokraten werden. Wer ist gebildeter, der Mann der Wissenschaft, der eine Unsumme von Wissen in seinem Kopfe aufgespeichert hat, oder die Frau, die wenig gelernt hat, aber gut erzogen ist und weiß, was sich ziemt? Die Schule, wie sie jetzt ist, kaun nicht als der zuverlässige Eckstein des Staates gelten, als der sie gerühmt wird. Sie thäte gut, die „Last der hundert Kamele," mit der sie sich schleppt, in der Wüste zu lassen und alle ihre Kräfte anf die Hauptsache zu sammeln, auf die Erziehung des Schülers. Wir haben, wie gesagt, hierbei die Volksschule und ganz besonders die städtische Volksschule im Auge. Der Kultusminister hat in seiner Begrüßung der allgemeinen deutschen Lehrerversammlung in Berlin die Schule den Eckstein des Vaterlandes genannt. Das ging den Herren höchst linde ein, denn wer hört sich nicht gern als den Eckstein des Vaterlandes loben! Später hat der Kultusminister seine Worte dahin ausgelegt, daß er das Institut gemeint habe, nicht die Personen. Aber was sind denn Institute anders als Personen? Wenn wir von der Schule reden, haben wir uns vor allem mit der Person der Herren Schulmeister zu befassen. Und da muß denn billig bezweifelt werden, ob der Staat, der die Schule sein nennt, die Leiter und Inhaber der Schule, nämlich die Schullehrer, so an der Hand habe, daß er sich aus sie verlassen kau». Es giebt unter deu Schullehrern zuverlässige, treue, verständige Leute, wir wollen sogar annehmen, daß es die Mehrheit sei, aber es giebt unter ihnen auch mehr als genug, die das Gegenteil davon sind, Leute von radikaler Gesinnung in politischer wie in religiöser Beziehung, denen der Skat der höchste Lebenszweck und der Schul¬ unterricht das größte Übel ist, und die von sich selbst eine hohe, ja sogar die allerhöchste Meinung haben. So ein Schulmeister hält sich für einen Elementarprvfesfor, für den Inhaber einer unfehlbaren Methode, für den Schöpfer der Nativnalintelligeuz und für den Macher des Ganzen. Dabei ist er stets unzufrieden. Sein Gehalt würde auch verdoppelt nicht ausreichen, ihn nach Gebühr zu bezahlen. Den Vorgesetzten gegenüber geben die Herren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/59>, abgerufen am 29.06.2024.