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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Gin Januskopf

Zeitungen aller druckten deren Beweisführungen als Aktenstücke von welt¬
geschichtlicher Bedeutung ab. Gewiß eine starke Krümmung der deu Fort¬
schritt der Menschheit sinnbildenden Linie, die ja, wie einige Geschichts¬
philosophen behaupten, eine Spirale sein soll! Es hieße den Lesern der
Grenzboten Brechpulver eingeben, wollten wir die in dem Büchlein enthaltenen
Widerlegungen des Unfehlbarkeitsdvgmas nochmals wiederkäuen. Wenn wir
die Aufmerksamkeit darauf lenken und es sogar zu lese" empfehlen, mit Über¬
schlagung der dogmatisch-kirchengeschichtlichen Beweise, so geschieht es der
interessanten Persönlichkeit Döllingers wegen, die uns ein psychologisches
Rätsel zu lösen aufgiebt. Döllinger war in den letzten zwanzig Jahren seines
Lebens unzweifelhaft Protestant, und es ist fast unbegreiflich, wie er sich bei
seinem erstaunlicher Scharfsinn und seinem ungeheuern Wissen bis zu seinem
Tode für einen Katholiken halten konnte. Unter dem passenden Namen Janus
hat er angefangen, dieselbe Kirche mit Erbitterung anzugreifen, der er fünfzig
Jahre hindurch so eifrig gedient hatte, und mit seinem Dvppelantlitz ist er
gestorben. Er hatte jenes Pseudonym für das bekannte Buch gewühlt, weil er
darin in die Vergangenheit und Zukunft schaut, ohne zu ahnen, daß er von
der Zeit ab wirklich ein doppeltes Gesicht zu tragen verurteilt war.

Es handelte sich ja bei ihm gar nicht mehr bloß um den Widerspruch gegen
die vatikanischen Dekrete. In dein Kampfe gegen die absolutistische und aber¬
gläubische Richtung in der katholischen Kirche, für die er -- mit wie viel Recht
oder Unrecht, mag dahingestellt bleiben -- die Jesuiten, und die Jesuiten allein
verantwortlich machte, hatte er die Kirchengeschichte aufs neue zu durchforschen
unternommen, zu einem Zwecke, der jenem gerade entgegengesetzt war, für den
er fimfnndzwanzig Jahre vorher sein Werk über die Reformation verfaßt hatte.
Was er suchte, das sand er, und in reichlicheren Maße, als ihm lieb sein
mochte. Er fand ein System von Fälschungen zu hierarchischen Zwecken, das
bis in die ersten Jahrhunderte der Kirche hinaufreicht, und er fand, daß das
Papsttum im ganzen mehr Unheil als Gutes gestiftet, namentlich aber vom
dreizehnten Jahrhundert ab gleich einer Pest die Christenheit in religiöser,
sittlicher, wirtschaftlicher und politischer Beziehung verheert habe. Und als
er von den kirchlichen Autoritäten zur Unterwerfung aufgefordert wurde, da
verweigerte er den Gehorsam mit Berufung auf seine wissenschaftlich begründete
Überzeugung. Wenn wir uicht auf konfessionellen Gebiet eine unheilbare
Sprachverwirrung anrichten wollen, so müssen wir einen Mann, der den Papst
für die Geißel der Christenheit hält und der die eigne Überzeugung über die
kirchliche Autorität stellt, einen guten Protestanten, einen großen Fachgelehrten
aber von durchdringender Geistesschärfe, der das nicht zugiebt, ein psycho-
logisches Rätsel nennen.

Als er Anfang 1871 von seinem Ordinariat zu einer entscheidenden Er¬
klärung aufgefordert wurde, bat er mehreremal nur Aufschub und ersuchte dann


Gin Januskopf

Zeitungen aller druckten deren Beweisführungen als Aktenstücke von welt¬
geschichtlicher Bedeutung ab. Gewiß eine starke Krümmung der deu Fort¬
schritt der Menschheit sinnbildenden Linie, die ja, wie einige Geschichts¬
philosophen behaupten, eine Spirale sein soll! Es hieße den Lesern der
Grenzboten Brechpulver eingeben, wollten wir die in dem Büchlein enthaltenen
Widerlegungen des Unfehlbarkeitsdvgmas nochmals wiederkäuen. Wenn wir
die Aufmerksamkeit darauf lenken und es sogar zu lese« empfehlen, mit Über¬
schlagung der dogmatisch-kirchengeschichtlichen Beweise, so geschieht es der
interessanten Persönlichkeit Döllingers wegen, die uns ein psychologisches
Rätsel zu lösen aufgiebt. Döllinger war in den letzten zwanzig Jahren seines
Lebens unzweifelhaft Protestant, und es ist fast unbegreiflich, wie er sich bei
seinem erstaunlicher Scharfsinn und seinem ungeheuern Wissen bis zu seinem
Tode für einen Katholiken halten konnte. Unter dem passenden Namen Janus
hat er angefangen, dieselbe Kirche mit Erbitterung anzugreifen, der er fünfzig
Jahre hindurch so eifrig gedient hatte, und mit seinem Dvppelantlitz ist er
gestorben. Er hatte jenes Pseudonym für das bekannte Buch gewühlt, weil er
darin in die Vergangenheit und Zukunft schaut, ohne zu ahnen, daß er von
der Zeit ab wirklich ein doppeltes Gesicht zu tragen verurteilt war.

Es handelte sich ja bei ihm gar nicht mehr bloß um den Widerspruch gegen
die vatikanischen Dekrete. In dein Kampfe gegen die absolutistische und aber¬
gläubische Richtung in der katholischen Kirche, für die er — mit wie viel Recht
oder Unrecht, mag dahingestellt bleiben — die Jesuiten, und die Jesuiten allein
verantwortlich machte, hatte er die Kirchengeschichte aufs neue zu durchforschen
unternommen, zu einem Zwecke, der jenem gerade entgegengesetzt war, für den
er fimfnndzwanzig Jahre vorher sein Werk über die Reformation verfaßt hatte.
Was er suchte, das sand er, und in reichlicheren Maße, als ihm lieb sein
mochte. Er fand ein System von Fälschungen zu hierarchischen Zwecken, das
bis in die ersten Jahrhunderte der Kirche hinaufreicht, und er fand, daß das
Papsttum im ganzen mehr Unheil als Gutes gestiftet, namentlich aber vom
dreizehnten Jahrhundert ab gleich einer Pest die Christenheit in religiöser,
sittlicher, wirtschaftlicher und politischer Beziehung verheert habe. Und als
er von den kirchlichen Autoritäten zur Unterwerfung aufgefordert wurde, da
verweigerte er den Gehorsam mit Berufung auf seine wissenschaftlich begründete
Überzeugung. Wenn wir uicht auf konfessionellen Gebiet eine unheilbare
Sprachverwirrung anrichten wollen, so müssen wir einen Mann, der den Papst
für die Geißel der Christenheit hält und der die eigne Überzeugung über die
kirchliche Autorität stellt, einen guten Protestanten, einen großen Fachgelehrten
aber von durchdringender Geistesschärfe, der das nicht zugiebt, ein psycho-
logisches Rätsel nennen.

Als er Anfang 1871 von seinem Ordinariat zu einer entscheidenden Er¬
klärung aufgefordert wurde, bat er mehreremal nur Aufschub und ersuchte dann


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/524>, abgerufen am 28.09.2024.