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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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geht es fort, vom engsten Kreise der Familie bis in die weitern und weitesten
Kreise des gesamten Zustandes der Nation, des Jahrhunderts, der Menschheit.

Diese Erscheinung ist so normal und so alltäglich wie möglich. Das
Geschlecht der Menschen hat seine eignen Gesetze, die ihm in Form von sitt¬
lichen Idealen bewußt werden. Das wirkliche Leben kaun nicht immer diese
Gesetze verwirklichen. Damit sie aber stets im Bewußtsein wach erhalten werden,
ist es gut, daß die edle Jugend idealistisch ist. So lange die Welt steht, hat
die Jugend gegen den jeweiligen Bestand der Gesellschaft gemurrt, bis auch
sie alt wurde, mit oder ohne Verwirklichung ihrer Wünsche und Forderungen,
und sich gegen die inzwischen herangewachsene neuere Jugend zu wehren hatte.
Denn wahr zu leben, d. h. so in allen äußerlich sichtbaren Formen der Gemein¬
schaft zu leben, wie es den Forderungen des Gemütes entspricht, ist das tiefste
und edelste Bedürfnis der Menschennatur.

Es kommt aber immer darauf an, daß die Kritik der Jugend berechtigt
und wahrhaft schöpferisch sei, und ferner darauf, daß die Jugend nicht immer
bloß Jugend bleibe, sich nicht immer mit der Verneinung dessen, was da ist,
begnüge, sondern auch klar erkenne, was sie will, das Ideal wesenhaft vor
Augen habe. Dann allein ist diese Jugend etwas wert. Wenn nicht, so ver¬
sinkt sie in trostlosen und unfruchtbaren Weltschmerz oder in dieselbe Philisterei,
die sie eben bei ihrem Eintritt ins nationale Leben bekämpft. Zwei Geschlechter
von denen, die uns zunächst liegen, haben ihre Ideale, jedes in seiner Art,
verwirklichen können: das von 1750, die Zeitgenossen Goethes und Schillers,
und das von etwa 1830, die Achtundvierziger. Das eine stellte das Ideal
der deutschen Bildung und Humanität ans, das heute noch gilt; das andre
das Ideal der deutschen Einheit, dessen Verwirklichung es erlebt hat. Beide
zeichnen sich durch einen frischen, freudigen Charakter aus. Dazwischen stehen
Geschlechter des Weltschmerzes, der Enttäuschung. Ob das Geschlecht, das
nach den Achtnudvierzigern gekommen ist, dem erstgenannten oder dem andern
nachgeraten wird, ist noch gar nicht zu entscheiden. Viel Vertrauen uns die
schöpferische Begabung dieser Jugend haben wir bisher noch nicht gewinnen
können.

Auch Hermann Sudermanns Erzählungen*) wurzeln sämtlich in jenem
ursprünglichen Erlebnis jedes begabteren Mannes, und daß man es ihnen
lebhaft nachfühlt, ist kein geringes Zeichen seiner dichterischen Begabung. Dieser
Man -- so empfindet man, nachdem man ihn kennen gelernt hat -- macht
keine Mode äußerlich mit, er schließt sich nicht einer vorhandenen litterarischen
oder politischen Partei an, er folgt einem ursprünglichen Drange seiner Natur.



*) Frau Sorge. Roman. Dritte Auflage. -- Der Katzensteg. Roman. Dritte
Auflage. -- Geschwister. Zwei Novellen. Zweite Auflage. -- Im Zwielicht. Zwanglose
Geschichten. Fünfte Auslage. sämtlich im Verlage von I. und P. Lehmann in Berlin, 1390.

geht es fort, vom engsten Kreise der Familie bis in die weitern und weitesten
Kreise des gesamten Zustandes der Nation, des Jahrhunderts, der Menschheit.

Diese Erscheinung ist so normal und so alltäglich wie möglich. Das
Geschlecht der Menschen hat seine eignen Gesetze, die ihm in Form von sitt¬
lichen Idealen bewußt werden. Das wirkliche Leben kaun nicht immer diese
Gesetze verwirklichen. Damit sie aber stets im Bewußtsein wach erhalten werden,
ist es gut, daß die edle Jugend idealistisch ist. So lange die Welt steht, hat
die Jugend gegen den jeweiligen Bestand der Gesellschaft gemurrt, bis auch
sie alt wurde, mit oder ohne Verwirklichung ihrer Wünsche und Forderungen,
und sich gegen die inzwischen herangewachsene neuere Jugend zu wehren hatte.
Denn wahr zu leben, d. h. so in allen äußerlich sichtbaren Formen der Gemein¬
schaft zu leben, wie es den Forderungen des Gemütes entspricht, ist das tiefste
und edelste Bedürfnis der Menschennatur.

Es kommt aber immer darauf an, daß die Kritik der Jugend berechtigt
und wahrhaft schöpferisch sei, und ferner darauf, daß die Jugend nicht immer
bloß Jugend bleibe, sich nicht immer mit der Verneinung dessen, was da ist,
begnüge, sondern auch klar erkenne, was sie will, das Ideal wesenhaft vor
Augen habe. Dann allein ist diese Jugend etwas wert. Wenn nicht, so ver¬
sinkt sie in trostlosen und unfruchtbaren Weltschmerz oder in dieselbe Philisterei,
die sie eben bei ihrem Eintritt ins nationale Leben bekämpft. Zwei Geschlechter
von denen, die uns zunächst liegen, haben ihre Ideale, jedes in seiner Art,
verwirklichen können: das von 1750, die Zeitgenossen Goethes und Schillers,
und das von etwa 1830, die Achtundvierziger. Das eine stellte das Ideal
der deutschen Bildung und Humanität ans, das heute noch gilt; das andre
das Ideal der deutschen Einheit, dessen Verwirklichung es erlebt hat. Beide
zeichnen sich durch einen frischen, freudigen Charakter aus. Dazwischen stehen
Geschlechter des Weltschmerzes, der Enttäuschung. Ob das Geschlecht, das
nach den Achtnudvierzigern gekommen ist, dem erstgenannten oder dem andern
nachgeraten wird, ist noch gar nicht zu entscheiden. Viel Vertrauen uns die
schöpferische Begabung dieser Jugend haben wir bisher noch nicht gewinnen
können.

Auch Hermann Sudermanns Erzählungen*) wurzeln sämtlich in jenem
ursprünglichen Erlebnis jedes begabteren Mannes, und daß man es ihnen
lebhaft nachfühlt, ist kein geringes Zeichen seiner dichterischen Begabung. Dieser
Man — so empfindet man, nachdem man ihn kennen gelernt hat — macht
keine Mode äußerlich mit, er schließt sich nicht einer vorhandenen litterarischen
oder politischen Partei an, er folgt einem ursprünglichen Drange seiner Natur.



*) Frau Sorge. Roman. Dritte Auflage. — Der Katzensteg. Roman. Dritte
Auflage. — Geschwister. Zwei Novellen. Zweite Auflage. — Im Zwielicht. Zwanglose
Geschichten. Fünfte Auslage. sämtlich im Verlage von I. und P. Lehmann in Berlin, 1390.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/414>, abgerufen am 29.06.2024.