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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Die hypnotische Suggestion

Ausnahmen hält, die die Regel, die gesetzmäßige Ordnung der Natur, nur
bestätigen.

Mit der Einwirkung der Snggestionslehre ans die Rechtspflege ist natürlich
gemeint, daß man in Zukunft die Verbrechen als Äußerungen einer entweder
angebornen oder durch suggestiv" angethanen Krankheit behandeln und den
Verbrecher uicht mehr ins Zuchthaus sperren, sondern ins Krankenhaus legen
und dort pflegen soll. Bekanntlich wird diese Ansicht besonders von Professor
Lombroso verfochten. Man kann ihr aber gar nicht entschieden genug entgegen¬
treten. Ihr Wahrheitskern beschränkt sich auf folgendes. Es giebt Menschen,
deren Gehirn so schwach entwickelt ist, daß sie zeitlebens unzurechnungsfähig
bleiben. Das haben wir schon längst gewußt und haben demnach solche
Menschen, wenn sie eine Unthat begingen, nicht als Verbrecher, sondern als
Kranke behandelt. Es giebt ferner Menschen, die nicht gerade unzurechnungs-
fähig, aber so stumpfsinnig sind, daß ihnen bei Verbrechen ihre natürliche Un-
vollkommenheit als mildernder Umstand angerechnet werden kann. Auch das
ist den Richtern lange vor der neuen Theorie bekannt gewesen, und sie haben
darnach gehandelt. Es kommt endlich vor, daß ein Mensch durch leidenschaft¬
liche Aufregung oder lasterhafte Gewohnheit die Herrschaft über sich selbst und
sogar das klare Bewußtsein verliert. Aber dadurch wird seiue Verantwort¬
lichkeit nicht aufgehoben; denn wenn er sich selbst in unzurechnungsfähigen
Zustand versetzt, so bleibt er -- das gilt auch vom Rausch -- für die Folgen
verantwortlich. Diese drei Arten von Verbrechern bilden aber die Minderzahl;
bei der Mehrzahl hat es gar keinen Sinn, von Krankheit zu sprechen. Wir
können hier nicht alle Arten von Anreizen zur Verletzung des Sittengesetzes
und der Staatsgesetze durchgehen, wollen aber wenigstens auf drei Klassen
einen Blick werfen. Eine ungeheure Anzahl von Bergehen und Verbrechen
entspringt aus Not. Ein Mensch, der nach langem Fasten eine Mark stiehlt,
um sich einmal ordentlich satt essen zu können, bekundet dadurch doch wahrlich
keine Krankheit, sondern im Gegenteil einen gesunden Appetit. Sein Charakter
läßt insofern zu wünschen übrig, als er der heroischen Stärke entbehrt; aber
da diese von Durchschnittsmenschen gar nicht verlangt werden kann, so ist
dieser Maugel noch nicht als Krankheit zu bezeichnen. Wenn sich ein junger
Mann, der nicht heiraten kann, in der Hitze der Begierde an einem Mädchen
vergreift oder gar an einem Knaben oder einem Stück Vieh (lebt einer in
der Großstadt und hat er Geld, so kann er seinen Zweck erreichen, ohne mit
den Gesetzen in Konflikt zu geraten), so ist das zwar nicht schön, aber es ist
auch kein Zeichen von Krankheit, sondern vielmehr von kräftiger Gesundheit.
Freilich soll der Mensch seine Begierden beherrschen können; allein, fügt Herbart
diesem allgemein anerkannten Grundsatze bei, anhaltende Nichtbefriedigung der
natürlichen Begierden schadet immer. Wenn nun ein kräftiger, gesunder Mensch
in der Abwehr dieser Schädigung gegen den Stachel des Gesetzes ausschlägt,


Die hypnotische Suggestion

Ausnahmen hält, die die Regel, die gesetzmäßige Ordnung der Natur, nur
bestätigen.

Mit der Einwirkung der Snggestionslehre ans die Rechtspflege ist natürlich
gemeint, daß man in Zukunft die Verbrechen als Äußerungen einer entweder
angebornen oder durch suggestiv« angethanen Krankheit behandeln und den
Verbrecher uicht mehr ins Zuchthaus sperren, sondern ins Krankenhaus legen
und dort pflegen soll. Bekanntlich wird diese Ansicht besonders von Professor
Lombroso verfochten. Man kann ihr aber gar nicht entschieden genug entgegen¬
treten. Ihr Wahrheitskern beschränkt sich auf folgendes. Es giebt Menschen,
deren Gehirn so schwach entwickelt ist, daß sie zeitlebens unzurechnungsfähig
bleiben. Das haben wir schon längst gewußt und haben demnach solche
Menschen, wenn sie eine Unthat begingen, nicht als Verbrecher, sondern als
Kranke behandelt. Es giebt ferner Menschen, die nicht gerade unzurechnungs-
fähig, aber so stumpfsinnig sind, daß ihnen bei Verbrechen ihre natürliche Un-
vollkommenheit als mildernder Umstand angerechnet werden kann. Auch das
ist den Richtern lange vor der neuen Theorie bekannt gewesen, und sie haben
darnach gehandelt. Es kommt endlich vor, daß ein Mensch durch leidenschaft¬
liche Aufregung oder lasterhafte Gewohnheit die Herrschaft über sich selbst und
sogar das klare Bewußtsein verliert. Aber dadurch wird seiue Verantwort¬
lichkeit nicht aufgehoben; denn wenn er sich selbst in unzurechnungsfähigen
Zustand versetzt, so bleibt er — das gilt auch vom Rausch — für die Folgen
verantwortlich. Diese drei Arten von Verbrechern bilden aber die Minderzahl;
bei der Mehrzahl hat es gar keinen Sinn, von Krankheit zu sprechen. Wir
können hier nicht alle Arten von Anreizen zur Verletzung des Sittengesetzes
und der Staatsgesetze durchgehen, wollen aber wenigstens auf drei Klassen
einen Blick werfen. Eine ungeheure Anzahl von Bergehen und Verbrechen
entspringt aus Not. Ein Mensch, der nach langem Fasten eine Mark stiehlt,
um sich einmal ordentlich satt essen zu können, bekundet dadurch doch wahrlich
keine Krankheit, sondern im Gegenteil einen gesunden Appetit. Sein Charakter
läßt insofern zu wünschen übrig, als er der heroischen Stärke entbehrt; aber
da diese von Durchschnittsmenschen gar nicht verlangt werden kann, so ist
dieser Maugel noch nicht als Krankheit zu bezeichnen. Wenn sich ein junger
Mann, der nicht heiraten kann, in der Hitze der Begierde an einem Mädchen
vergreift oder gar an einem Knaben oder einem Stück Vieh (lebt einer in
der Großstadt und hat er Geld, so kann er seinen Zweck erreichen, ohne mit
den Gesetzen in Konflikt zu geraten), so ist das zwar nicht schön, aber es ist
auch kein Zeichen von Krankheit, sondern vielmehr von kräftiger Gesundheit.
Freilich soll der Mensch seine Begierden beherrschen können; allein, fügt Herbart
diesem allgemein anerkannten Grundsatze bei, anhaltende Nichtbefriedigung der
natürlichen Begierden schadet immer. Wenn nun ein kräftiger, gesunder Mensch
in der Abwehr dieser Schädigung gegen den Stachel des Gesetzes ausschlägt,


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[0037] Die hypnotische Suggestion Ausnahmen hält, die die Regel, die gesetzmäßige Ordnung der Natur, nur bestätigen. Mit der Einwirkung der Snggestionslehre ans die Rechtspflege ist natürlich gemeint, daß man in Zukunft die Verbrechen als Äußerungen einer entweder angebornen oder durch suggestiv« angethanen Krankheit behandeln und den Verbrecher uicht mehr ins Zuchthaus sperren, sondern ins Krankenhaus legen und dort pflegen soll. Bekanntlich wird diese Ansicht besonders von Professor Lombroso verfochten. Man kann ihr aber gar nicht entschieden genug entgegen¬ treten. Ihr Wahrheitskern beschränkt sich auf folgendes. Es giebt Menschen, deren Gehirn so schwach entwickelt ist, daß sie zeitlebens unzurechnungsfähig bleiben. Das haben wir schon längst gewußt und haben demnach solche Menschen, wenn sie eine Unthat begingen, nicht als Verbrecher, sondern als Kranke behandelt. Es giebt ferner Menschen, die nicht gerade unzurechnungs- fähig, aber so stumpfsinnig sind, daß ihnen bei Verbrechen ihre natürliche Un- vollkommenheit als mildernder Umstand angerechnet werden kann. Auch das ist den Richtern lange vor der neuen Theorie bekannt gewesen, und sie haben darnach gehandelt. Es kommt endlich vor, daß ein Mensch durch leidenschaft¬ liche Aufregung oder lasterhafte Gewohnheit die Herrschaft über sich selbst und sogar das klare Bewußtsein verliert. Aber dadurch wird seiue Verantwort¬ lichkeit nicht aufgehoben; denn wenn er sich selbst in unzurechnungsfähigen Zustand versetzt, so bleibt er — das gilt auch vom Rausch — für die Folgen verantwortlich. Diese drei Arten von Verbrechern bilden aber die Minderzahl; bei der Mehrzahl hat es gar keinen Sinn, von Krankheit zu sprechen. Wir können hier nicht alle Arten von Anreizen zur Verletzung des Sittengesetzes und der Staatsgesetze durchgehen, wollen aber wenigstens auf drei Klassen einen Blick werfen. Eine ungeheure Anzahl von Bergehen und Verbrechen entspringt aus Not. Ein Mensch, der nach langem Fasten eine Mark stiehlt, um sich einmal ordentlich satt essen zu können, bekundet dadurch doch wahrlich keine Krankheit, sondern im Gegenteil einen gesunden Appetit. Sein Charakter läßt insofern zu wünschen übrig, als er der heroischen Stärke entbehrt; aber da diese von Durchschnittsmenschen gar nicht verlangt werden kann, so ist dieser Maugel noch nicht als Krankheit zu bezeichnen. Wenn sich ein junger Mann, der nicht heiraten kann, in der Hitze der Begierde an einem Mädchen vergreift oder gar an einem Knaben oder einem Stück Vieh (lebt einer in der Großstadt und hat er Geld, so kann er seinen Zweck erreichen, ohne mit den Gesetzen in Konflikt zu geraten), so ist das zwar nicht schön, aber es ist auch kein Zeichen von Krankheit, sondern vielmehr von kräftiger Gesundheit. Freilich soll der Mensch seine Begierden beherrschen können; allein, fügt Herbart diesem allgemein anerkannten Grundsatze bei, anhaltende Nichtbefriedigung der natürlichen Begierden schadet immer. Wenn nun ein kräftiger, gesunder Mensch in der Abwehr dieser Schädigung gegen den Stachel des Gesetzes ausschlägt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/37>, abgerufen am 26.06.2024.