Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Wegfall des Sozialistengesetzes

so ist doch wahrlich nicht einzusehen, worin der Vorteil liegen soll, wenn jetzt
dieselbe Agitation offen betrieben werden darf. Im Gegenteil, die Gestaltung
dieser offenen Agitation muß der großen Menge den Eindruck machen, als ob
doch die sozialistischen Lehren eine gewisse Berechtigung haben, da man sie nicht
zu unterdrücken wage. Übrigens wird neben der offenen Agitation sicherlich
auch die geheime noch fortdauern für alles das, was auch nach den nun an¬
wendbaren allgemeinen Gesetzen nicht offen betrieben werden darf. Nur wird
diese geheime Agitation fortan wesentlich leichter werden.

Bei der Frage, ob die Zustände, unter denen ein Losbruch der Sozial¬
demokratie in größerm Stile bisher unterblieben ist, sich noch längere Zeit
hindurch als haltbar erweisen werden, kommt es auch auf die für die Partei
maßgebenden Persönlichkeiten an. Es ist nicht zu leugnen, daß die bisherigen
Führer, wenn sie auch nicht minder Fanatismus in sich tragen, als die äußersten
ihrer Genossen, sich doch eine gewisse politische Schulung erworben und dem¬
gemäß die Partei vor unvorsichtigen Schritten bewahrt haben. Bekanntlich
haben aber in der Partei selbst schon vielfach Zerwürfnisse stattgefunden, und
auch in jüngster Zeit sind solche zu Tage getreten. Diese Zerwürfnisse laufen
durchweg darauf hinaus, daß es in der Partei anch vorwärts treibende
Elemente giebt, denen der bisherige Gang der Dinge nicht schnell genng gewesen
ist. Bei einer so leidenschaftlich erregten Partei, wie der Sozialdemokratin ist
aber stets die Gefahr vorhanden, daß die treibenden Elemente ein Übergewicht
erlangen, dem auf die Länge der Zeit nicht zu widerstehen ist. Durch das
Wegfallen des Svzialistcngesetzes werden diese Elemente in ihrer Wirksamkeit
noch gestärkt werden. Und wenn es auch den vorsichtigem Elementen gelingt,
die Partei von einem unzeitigen Losbruch im großen abzuhalten, so kann doch
niemand wissen, zu welchem Unthaten der gesteigerte Fanatismus einzelner
sich hinreißen lassen wird. Waren es doch solche Unthaten, die im Jahre 1878
offen zu Tage brachten, welche Verwilderung in den Massen des Volkes durch
die sozialdemokratische Wühlerei bereits eingerissen war.

Fragen wir nun, was werden würde, wenn es demnächst zu einem Los¬
bruch der Sozialdemokratie käme, so wollen wir die Möglichkeit eines
Sieges über die Ordnungspartei gar nicht ins Auge fassen. Die Folgen
davon würden zu schrecklich sein, als daß wir sie hier ausmalen möchten.
Nehmen wir vielmehr an, daß nach einem blutigen Zusammenstoße die Ord¬
nungspartei Siegerin bliebe. Was würde dann werden?

Sicherlich würde man dann zu sehr ernsten Maßregeln schreiten. Aber
schwerlich würde man ein neues ,,Sozialistengesetz," d. h. ein Gesetz erlassen,
das seine Wirksamkeit auf die Sozialdemokratie beschränkte. Vielmehr würde
man damit vorgehen, die freiheitlichen Einrichtungen, die zu solchen Aus¬
brüchen geführt haben, in weiteren Umfange zu beschränken. Daß das allge¬
meine Stimmrecht nicht in der bisherigen Weise aufrecht erhalten bliebe, würden


Der Wegfall des Sozialistengesetzes

so ist doch wahrlich nicht einzusehen, worin der Vorteil liegen soll, wenn jetzt
dieselbe Agitation offen betrieben werden darf. Im Gegenteil, die Gestaltung
dieser offenen Agitation muß der großen Menge den Eindruck machen, als ob
doch die sozialistischen Lehren eine gewisse Berechtigung haben, da man sie nicht
zu unterdrücken wage. Übrigens wird neben der offenen Agitation sicherlich
auch die geheime noch fortdauern für alles das, was auch nach den nun an¬
wendbaren allgemeinen Gesetzen nicht offen betrieben werden darf. Nur wird
diese geheime Agitation fortan wesentlich leichter werden.

Bei der Frage, ob die Zustände, unter denen ein Losbruch der Sozial¬
demokratie in größerm Stile bisher unterblieben ist, sich noch längere Zeit
hindurch als haltbar erweisen werden, kommt es auch auf die für die Partei
maßgebenden Persönlichkeiten an. Es ist nicht zu leugnen, daß die bisherigen
Führer, wenn sie auch nicht minder Fanatismus in sich tragen, als die äußersten
ihrer Genossen, sich doch eine gewisse politische Schulung erworben und dem¬
gemäß die Partei vor unvorsichtigen Schritten bewahrt haben. Bekanntlich
haben aber in der Partei selbst schon vielfach Zerwürfnisse stattgefunden, und
auch in jüngster Zeit sind solche zu Tage getreten. Diese Zerwürfnisse laufen
durchweg darauf hinaus, daß es in der Partei anch vorwärts treibende
Elemente giebt, denen der bisherige Gang der Dinge nicht schnell genng gewesen
ist. Bei einer so leidenschaftlich erregten Partei, wie der Sozialdemokratin ist
aber stets die Gefahr vorhanden, daß die treibenden Elemente ein Übergewicht
erlangen, dem auf die Länge der Zeit nicht zu widerstehen ist. Durch das
Wegfallen des Svzialistcngesetzes werden diese Elemente in ihrer Wirksamkeit
noch gestärkt werden. Und wenn es auch den vorsichtigem Elementen gelingt,
die Partei von einem unzeitigen Losbruch im großen abzuhalten, so kann doch
niemand wissen, zu welchem Unthaten der gesteigerte Fanatismus einzelner
sich hinreißen lassen wird. Waren es doch solche Unthaten, die im Jahre 1878
offen zu Tage brachten, welche Verwilderung in den Massen des Volkes durch
die sozialdemokratische Wühlerei bereits eingerissen war.

Fragen wir nun, was werden würde, wenn es demnächst zu einem Los¬
bruch der Sozialdemokratie käme, so wollen wir die Möglichkeit eines
Sieges über die Ordnungspartei gar nicht ins Auge fassen. Die Folgen
davon würden zu schrecklich sein, als daß wir sie hier ausmalen möchten.
Nehmen wir vielmehr an, daß nach einem blutigen Zusammenstoße die Ord¬
nungspartei Siegerin bliebe. Was würde dann werden?

Sicherlich würde man dann zu sehr ernsten Maßregeln schreiten. Aber
schwerlich würde man ein neues ,,Sozialistengesetz," d. h. ein Gesetz erlassen,
das seine Wirksamkeit auf die Sozialdemokratie beschränkte. Vielmehr würde
man damit vorgehen, die freiheitlichen Einrichtungen, die zu solchen Aus¬
brüchen geführt haben, in weiteren Umfange zu beschränken. Daß das allge¬
meine Stimmrecht nicht in der bisherigen Weise aufrecht erhalten bliebe, würden


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0348" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208285"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Wegfall des Sozialistengesetzes</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1001" prev="#ID_1000"> so ist doch wahrlich nicht einzusehen, worin der Vorteil liegen soll, wenn jetzt<lb/>
dieselbe Agitation offen betrieben werden darf. Im Gegenteil, die Gestaltung<lb/>
dieser offenen Agitation muß der großen Menge den Eindruck machen, als ob<lb/>
doch die sozialistischen Lehren eine gewisse Berechtigung haben, da man sie nicht<lb/>
zu unterdrücken wage. Übrigens wird neben der offenen Agitation sicherlich<lb/>
auch die geheime noch fortdauern für alles das, was auch nach den nun an¬<lb/>
wendbaren allgemeinen Gesetzen nicht offen betrieben werden darf. Nur wird<lb/>
diese geheime Agitation fortan wesentlich leichter werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1002"> Bei der Frage, ob die Zustände, unter denen ein Losbruch der Sozial¬<lb/>
demokratie in größerm Stile bisher unterblieben ist, sich noch längere Zeit<lb/>
hindurch als haltbar erweisen werden, kommt es auch auf die für die Partei<lb/>
maßgebenden Persönlichkeiten an. Es ist nicht zu leugnen, daß die bisherigen<lb/>
Führer, wenn sie auch nicht minder Fanatismus in sich tragen, als die äußersten<lb/>
ihrer Genossen, sich doch eine gewisse politische Schulung erworben und dem¬<lb/>
gemäß die Partei vor unvorsichtigen Schritten bewahrt haben. Bekanntlich<lb/>
haben aber in der Partei selbst schon vielfach Zerwürfnisse stattgefunden, und<lb/>
auch in jüngster Zeit sind solche zu Tage getreten. Diese Zerwürfnisse laufen<lb/>
durchweg darauf hinaus, daß es in der Partei anch vorwärts treibende<lb/>
Elemente giebt, denen der bisherige Gang der Dinge nicht schnell genng gewesen<lb/>
ist. Bei einer so leidenschaftlich erregten Partei, wie der Sozialdemokratin ist<lb/>
aber stets die Gefahr vorhanden, daß die treibenden Elemente ein Übergewicht<lb/>
erlangen, dem auf die Länge der Zeit nicht zu widerstehen ist. Durch das<lb/>
Wegfallen des Svzialistcngesetzes werden diese Elemente in ihrer Wirksamkeit<lb/>
noch gestärkt werden. Und wenn es auch den vorsichtigem Elementen gelingt,<lb/>
die Partei von einem unzeitigen Losbruch im großen abzuhalten, so kann doch<lb/>
niemand wissen, zu welchem Unthaten der gesteigerte Fanatismus einzelner<lb/>
sich hinreißen lassen wird. Waren es doch solche Unthaten, die im Jahre 1878<lb/>
offen zu Tage brachten, welche Verwilderung in den Massen des Volkes durch<lb/>
die sozialdemokratische Wühlerei bereits eingerissen war.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1003"> Fragen wir nun, was werden würde, wenn es demnächst zu einem Los¬<lb/>
bruch der Sozialdemokratie käme, so wollen wir die Möglichkeit eines<lb/>
Sieges über die Ordnungspartei gar nicht ins Auge fassen. Die Folgen<lb/>
davon würden zu schrecklich sein, als daß wir sie hier ausmalen möchten.<lb/>
Nehmen wir vielmehr an, daß nach einem blutigen Zusammenstoße die Ord¬<lb/>
nungspartei Siegerin bliebe.  Was würde dann werden?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1004" next="#ID_1005"> Sicherlich würde man dann zu sehr ernsten Maßregeln schreiten. Aber<lb/>
schwerlich würde man ein neues ,,Sozialistengesetz," d. h. ein Gesetz erlassen,<lb/>
das seine Wirksamkeit auf die Sozialdemokratie beschränkte. Vielmehr würde<lb/>
man damit vorgehen, die freiheitlichen Einrichtungen, die zu solchen Aus¬<lb/>
brüchen geführt haben, in weiteren Umfange zu beschränken. Daß das allge¬<lb/>
meine Stimmrecht nicht in der bisherigen Weise aufrecht erhalten bliebe, würden</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0348] Der Wegfall des Sozialistengesetzes so ist doch wahrlich nicht einzusehen, worin der Vorteil liegen soll, wenn jetzt dieselbe Agitation offen betrieben werden darf. Im Gegenteil, die Gestaltung dieser offenen Agitation muß der großen Menge den Eindruck machen, als ob doch die sozialistischen Lehren eine gewisse Berechtigung haben, da man sie nicht zu unterdrücken wage. Übrigens wird neben der offenen Agitation sicherlich auch die geheime noch fortdauern für alles das, was auch nach den nun an¬ wendbaren allgemeinen Gesetzen nicht offen betrieben werden darf. Nur wird diese geheime Agitation fortan wesentlich leichter werden. Bei der Frage, ob die Zustände, unter denen ein Losbruch der Sozial¬ demokratie in größerm Stile bisher unterblieben ist, sich noch längere Zeit hindurch als haltbar erweisen werden, kommt es auch auf die für die Partei maßgebenden Persönlichkeiten an. Es ist nicht zu leugnen, daß die bisherigen Führer, wenn sie auch nicht minder Fanatismus in sich tragen, als die äußersten ihrer Genossen, sich doch eine gewisse politische Schulung erworben und dem¬ gemäß die Partei vor unvorsichtigen Schritten bewahrt haben. Bekanntlich haben aber in der Partei selbst schon vielfach Zerwürfnisse stattgefunden, und auch in jüngster Zeit sind solche zu Tage getreten. Diese Zerwürfnisse laufen durchweg darauf hinaus, daß es in der Partei anch vorwärts treibende Elemente giebt, denen der bisherige Gang der Dinge nicht schnell genng gewesen ist. Bei einer so leidenschaftlich erregten Partei, wie der Sozialdemokratin ist aber stets die Gefahr vorhanden, daß die treibenden Elemente ein Übergewicht erlangen, dem auf die Länge der Zeit nicht zu widerstehen ist. Durch das Wegfallen des Svzialistcngesetzes werden diese Elemente in ihrer Wirksamkeit noch gestärkt werden. Und wenn es auch den vorsichtigem Elementen gelingt, die Partei von einem unzeitigen Losbruch im großen abzuhalten, so kann doch niemand wissen, zu welchem Unthaten der gesteigerte Fanatismus einzelner sich hinreißen lassen wird. Waren es doch solche Unthaten, die im Jahre 1878 offen zu Tage brachten, welche Verwilderung in den Massen des Volkes durch die sozialdemokratische Wühlerei bereits eingerissen war. Fragen wir nun, was werden würde, wenn es demnächst zu einem Los¬ bruch der Sozialdemokratie käme, so wollen wir die Möglichkeit eines Sieges über die Ordnungspartei gar nicht ins Auge fassen. Die Folgen davon würden zu schrecklich sein, als daß wir sie hier ausmalen möchten. Nehmen wir vielmehr an, daß nach einem blutigen Zusammenstoße die Ord¬ nungspartei Siegerin bliebe. Was würde dann werden? Sicherlich würde man dann zu sehr ernsten Maßregeln schreiten. Aber schwerlich würde man ein neues ,,Sozialistengesetz," d. h. ein Gesetz erlassen, das seine Wirksamkeit auf die Sozialdemokratie beschränkte. Vielmehr würde man damit vorgehen, die freiheitlichen Einrichtungen, die zu solchen Aus¬ brüchen geführt haben, in weiteren Umfange zu beschränken. Daß das allge¬ meine Stimmrecht nicht in der bisherigen Weise aufrecht erhalten bliebe, würden

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/348
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/348>, abgerufen am 25.07.2024.