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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Der Wegfall des Sozialistengesetzes

Wird, gelüstet. Jedenfalls glauben sie, daß mau es damit versuchen könne,
zumal, wenn man damit anfinge, daß den Vermögenden ihr Kapital abgenommen
und den Arbeitern zugewendet würde. Wer die bösen Leidenschaften der Menschen
aufzuregen versteht, der braucht keine Vernunftgründe. Wo aber in dieser Weise
die Leidenschaften angeregt sind, da möchten Engel vom Himmel kommen und
versuchen, den bethörten Massen den Unsinn des sozialistischen Staates klar zu
machen, sie würden doch nichts erreichen. Um völlig gerecht zu sein, müsse"
wir freilich aber zugleich eingestehen, daß der Boden für die Aufnahme solcher
Lehren zum Teil dadurch vorbereitet ist, daß nach der ungeheuern Steigerung
der Gütererzeugung im Laufe des letzten Menschenalters die bürgerliche Ge¬
sellschaft zu lange gesäumt hat, für die Verbesserung der Lage der Arbeiter
das zu thun, waS innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung hätte geschehen
können und bei dem zunehmende" Reichtum der Nation auch wohl Hütte ge¬
schehen sollen.

Fragen wir nun, was bisher die Sozialdemokratie, obgleich sie über
Hunderttausende von Männern mit kräftigen Armen verfügt, abgehalten hat,
ihre Lehren in Thaten umzusetzen, so ist es sicherlich nicht die Achtung vor
der bestehenden Rechtsordnung gewesen, sondern nur die Furcht vor der ihr
gegenüberstehenden Macht. Oder sagen wir es mit einem klaren Ausdruck:
es ist die Furcht vor der Stärke und der Zuverlässigkeit des deutschen Heeres.
In dem Augenblicke, wo dieser Gegendruck oder auch nur der Glaube daran
schwante, würden sofort die gewaltsamsten Ausbrüche erfolgen. Das ist so
klar wie der Tag.

Dieser Partei nun wird vom 1. Oktober an wieder freies Spiel gegeben,
mit allen den Mitteln, die die auf ganz andre Verhältnisse berechnete freiheitliche
Gesetzgebung den Staatsbürgern zur Bethätigung ihrer Teilnahme an öffent¬
lichen Dingen gewährt, ihre Agitation zum Umsturz der Gesellschaft fortzu¬
setzen, immer neue Kreise durch täuschende Vorspiegelungen an sich heranzu¬
ziehen, sich vollständig zu organisiren, und so alles für den Augenblick vor¬
zubereiten, der thuen zum Losbruch der sozialdemokratischen Revolution der
geeignetste erscheint. Man hält dies für ungefährlich, weil ohne Zweifel zur
Zeit der gedachte Gegendruck noch ausreicht, um jede" Losbruch zu hindern
oder, wenn er dennoch stattfände, alsbald niederzuschlagen.

Nun kann freilich niemand den Gang der Weltgeschichte voraussagen. Es
ist möglich, daß die Zustände, wie sie gegenwärtig sind, sich noch lange Jahre
halten werden, und daß dadurch ein Losbrnch der Sozialdemokratie, aller Agi¬
tation ungeachtet, vermieden wird. Daß sich aber die Gefahr eines solchen
Lvsbruchs durch Aufhebung des Svzialisteugesetzes in hohem Maße steigert,
das kann doch kein verständiger Mensch verkennen. Wenn es die Gegner des
Svzialistengesetzes als einen Vorteil preisen, daß die geheime Agitation, wie
sie unter der Herrschaft dieses Gesetzes getrieben wurde, fortan aufhören werde,


Der Wegfall des Sozialistengesetzes

Wird, gelüstet. Jedenfalls glauben sie, daß mau es damit versuchen könne,
zumal, wenn man damit anfinge, daß den Vermögenden ihr Kapital abgenommen
und den Arbeitern zugewendet würde. Wer die bösen Leidenschaften der Menschen
aufzuregen versteht, der braucht keine Vernunftgründe. Wo aber in dieser Weise
die Leidenschaften angeregt sind, da möchten Engel vom Himmel kommen und
versuchen, den bethörten Massen den Unsinn des sozialistischen Staates klar zu
machen, sie würden doch nichts erreichen. Um völlig gerecht zu sein, müsse»
wir freilich aber zugleich eingestehen, daß der Boden für die Aufnahme solcher
Lehren zum Teil dadurch vorbereitet ist, daß nach der ungeheuern Steigerung
der Gütererzeugung im Laufe des letzten Menschenalters die bürgerliche Ge¬
sellschaft zu lange gesäumt hat, für die Verbesserung der Lage der Arbeiter
das zu thun, waS innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung hätte geschehen
können und bei dem zunehmende» Reichtum der Nation auch wohl Hütte ge¬
schehen sollen.

Fragen wir nun, was bisher die Sozialdemokratie, obgleich sie über
Hunderttausende von Männern mit kräftigen Armen verfügt, abgehalten hat,
ihre Lehren in Thaten umzusetzen, so ist es sicherlich nicht die Achtung vor
der bestehenden Rechtsordnung gewesen, sondern nur die Furcht vor der ihr
gegenüberstehenden Macht. Oder sagen wir es mit einem klaren Ausdruck:
es ist die Furcht vor der Stärke und der Zuverlässigkeit des deutschen Heeres.
In dem Augenblicke, wo dieser Gegendruck oder auch nur der Glaube daran
schwante, würden sofort die gewaltsamsten Ausbrüche erfolgen. Das ist so
klar wie der Tag.

Dieser Partei nun wird vom 1. Oktober an wieder freies Spiel gegeben,
mit allen den Mitteln, die die auf ganz andre Verhältnisse berechnete freiheitliche
Gesetzgebung den Staatsbürgern zur Bethätigung ihrer Teilnahme an öffent¬
lichen Dingen gewährt, ihre Agitation zum Umsturz der Gesellschaft fortzu¬
setzen, immer neue Kreise durch täuschende Vorspiegelungen an sich heranzu¬
ziehen, sich vollständig zu organisiren, und so alles für den Augenblick vor¬
zubereiten, der thuen zum Losbruch der sozialdemokratischen Revolution der
geeignetste erscheint. Man hält dies für ungefährlich, weil ohne Zweifel zur
Zeit der gedachte Gegendruck noch ausreicht, um jede» Losbruch zu hindern
oder, wenn er dennoch stattfände, alsbald niederzuschlagen.

Nun kann freilich niemand den Gang der Weltgeschichte voraussagen. Es
ist möglich, daß die Zustände, wie sie gegenwärtig sind, sich noch lange Jahre
halten werden, und daß dadurch ein Losbrnch der Sozialdemokratie, aller Agi¬
tation ungeachtet, vermieden wird. Daß sich aber die Gefahr eines solchen
Lvsbruchs durch Aufhebung des Svzialisteugesetzes in hohem Maße steigert,
das kann doch kein verständiger Mensch verkennen. Wenn es die Gegner des
Svzialistengesetzes als einen Vorteil preisen, daß die geheime Agitation, wie
sie unter der Herrschaft dieses Gesetzes getrieben wurde, fortan aufhören werde,


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[0347] Der Wegfall des Sozialistengesetzes Wird, gelüstet. Jedenfalls glauben sie, daß mau es damit versuchen könne, zumal, wenn man damit anfinge, daß den Vermögenden ihr Kapital abgenommen und den Arbeitern zugewendet würde. Wer die bösen Leidenschaften der Menschen aufzuregen versteht, der braucht keine Vernunftgründe. Wo aber in dieser Weise die Leidenschaften angeregt sind, da möchten Engel vom Himmel kommen und versuchen, den bethörten Massen den Unsinn des sozialistischen Staates klar zu machen, sie würden doch nichts erreichen. Um völlig gerecht zu sein, müsse» wir freilich aber zugleich eingestehen, daß der Boden für die Aufnahme solcher Lehren zum Teil dadurch vorbereitet ist, daß nach der ungeheuern Steigerung der Gütererzeugung im Laufe des letzten Menschenalters die bürgerliche Ge¬ sellschaft zu lange gesäumt hat, für die Verbesserung der Lage der Arbeiter das zu thun, waS innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung hätte geschehen können und bei dem zunehmende» Reichtum der Nation auch wohl Hütte ge¬ schehen sollen. Fragen wir nun, was bisher die Sozialdemokratie, obgleich sie über Hunderttausende von Männern mit kräftigen Armen verfügt, abgehalten hat, ihre Lehren in Thaten umzusetzen, so ist es sicherlich nicht die Achtung vor der bestehenden Rechtsordnung gewesen, sondern nur die Furcht vor der ihr gegenüberstehenden Macht. Oder sagen wir es mit einem klaren Ausdruck: es ist die Furcht vor der Stärke und der Zuverlässigkeit des deutschen Heeres. In dem Augenblicke, wo dieser Gegendruck oder auch nur der Glaube daran schwante, würden sofort die gewaltsamsten Ausbrüche erfolgen. Das ist so klar wie der Tag. Dieser Partei nun wird vom 1. Oktober an wieder freies Spiel gegeben, mit allen den Mitteln, die die auf ganz andre Verhältnisse berechnete freiheitliche Gesetzgebung den Staatsbürgern zur Bethätigung ihrer Teilnahme an öffent¬ lichen Dingen gewährt, ihre Agitation zum Umsturz der Gesellschaft fortzu¬ setzen, immer neue Kreise durch täuschende Vorspiegelungen an sich heranzu¬ ziehen, sich vollständig zu organisiren, und so alles für den Augenblick vor¬ zubereiten, der thuen zum Losbruch der sozialdemokratischen Revolution der geeignetste erscheint. Man hält dies für ungefährlich, weil ohne Zweifel zur Zeit der gedachte Gegendruck noch ausreicht, um jede» Losbruch zu hindern oder, wenn er dennoch stattfände, alsbald niederzuschlagen. Nun kann freilich niemand den Gang der Weltgeschichte voraussagen. Es ist möglich, daß die Zustände, wie sie gegenwärtig sind, sich noch lange Jahre halten werden, und daß dadurch ein Losbrnch der Sozialdemokratie, aller Agi¬ tation ungeachtet, vermieden wird. Daß sich aber die Gefahr eines solchen Lvsbruchs durch Aufhebung des Svzialisteugesetzes in hohem Maße steigert, das kann doch kein verständiger Mensch verkennen. Wenn es die Gegner des Svzialistengesetzes als einen Vorteil preisen, daß die geheime Agitation, wie sie unter der Herrschaft dieses Gesetzes getrieben wurde, fortan aufhören werde,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/347>, abgerufen am 26.06.2024.