Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Man rang nach einer neuen Lebensauffassung und nach einer neuen Form Flaubert lebte nur seiner Kunst; er haßte den Bourgeois, der für litterarische Maßgebliches und Unmaßgebliches Man rang nach einer neuen Lebensauffassung und nach einer neuen Form Flaubert lebte nur seiner Kunst; er haßte den Bourgeois, der für litterarische <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0242" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208179"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_655"> Man rang nach einer neuen Lebensauffassung und nach einer neuen Form<lb/> und glaubte sie im Naturalismus gefunden zu haben; man überschlug sich in dieser<lb/> Richtung, aber mau blieb originell; man verrannte sich, aber man bewies eine<lb/> unerschöpfliche Produktionskrnft und sah mit Erstaunen und Befriedigung, daß alle<lb/> Nationen denselben Weg nachliefen, obwohl über sie jene unheilvollen Ereignisse<lb/> gar nicht hereingebrochen waren. Die französischen Naturalisten knüpfen fast alle an<lb/> den letzten Krieg an; in der Novellensammlung I»s koirßs» Ah Nüclan kommt<lb/> kaum eine Geschichte vor, die ihn nicht zum Hintergründe gewählt hätte. Zola<lb/> schließt fast in allen Teilen aus dem Nvmaneyklus I^Sö Rougon-Na.eczrca.re mit einer<lb/> Perspektive auf den deutsch-französischen Krieg. Maupassant verdankt feinen früh<lb/> erworbenen Ruhm hauptsächlich den kleinen, mit köstlichem Humor geschriebenen Ge¬<lb/> schichten aus jener Begebenheit, durch die gleichsam die letzten Reste der Romantik<lb/> in der französischen Litteratur zu Grunde gingen. Fiir diese Wendung und für den<lb/> Eindruck, den Frankreich damals auf hervorragende Geister machte, ist nichts be-<lb/> zeichneuder als die Briefe, die der gefeierte Romanschriftsteller Gustave Flaubert<lb/> an George Sand in jener Zeit schrieb, und die Maupassant in einer Sammlung<lb/> i^Paris, Charpentier u. Co., 1889) herausgegeben hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_656" next="#ID_657"> Flaubert lebte nur seiner Kunst; er haßte den Bourgeois, der für litterarische<lb/> Bestrebungen kein Interesse und Verstnudnis zeigte; er haßte die Politik, weil sie<lb/> die Menschen zu geistlosen Schwätzern heranbildete, er haßte die Kritiker, die sich<lb/> ohne Beruf auf dem Parnaß breit machten, er war ein einsamer Mann, seine<lb/> einzigen Freunde, zu denen er sich freimütig aussprach, waren Turgenjew und<lb/> George Sand; und doch hatte er ein klares Urteil über Frankreichs Lage und eine<lb/> sichere Kenntnis von den Stimmungen und Schwächen des Volkes. Schon im<lb/> Jahre 1307 schrieb er an George Sand: „Frankreich, das manchmal, wie unter<lb/> Karl VI., vom Veitstanz ergriffen wird, scheint jetzt an einer Lähmung des Gehirns<lb/> zu leiden. Man ist ans Furcht blödsinnig geworden: aus Furcht vor Preußen,<lb/> vor den Arbeitseinstellungen, vor der Weltausstellung, die nicht vorwärts kommt,<lb/> aus Furcht vor allem. Man muß bis ins Jahr 1849 zurückgehen, um einen<lb/> solchen Grad von Kretinismus wiederzufinden. Bei der letzten Gesellschaft hat<lb/> mau solche Kutscheruuterhältuug gepflogen, daß ich im Innern geschworen habe, den<lb/> Fuß nicht wieder dorthin zu setzen. Es war die ganze Zeit nur die Rede von<lb/> Bismarck und von Luxemburg; nur steckt das noch in den Gliedern!" Flaubert<lb/> hatte im Jahre 1869 seinen Roman I/6<Iuo»lion ssutinivirwlo veröffentlicht und<lb/> damit in der französischen Kritik einen wahren Sturm der Entrüstung und des<lb/> Beifalls heraufbeschworen. Er wandte sich von der realistischen Richtung weg und<lb/> versenkte sich in philosophische, religiöse und mystische Norstudien zu seinem selt¬<lb/> samen Roman I^i. ^vntntion, <In >Ä'in,t ^ntnino. Da riß ihn das ansprechende<lb/> Kriegsgeschrei seiner Landsleute aus seiner beschaulichen Thätigkeit. „Die Thorheit<lb/> meiner Landsleute, schreibt er an seine Freundin, thut mir weh und ekelt mich an.<lb/> Die unheilbare Barbarei der Menschheit erfüllt mich mit düsterer Traurigkeit.<lb/> Diese Begeisterung, die keine Idee als Beweggrund hat, erweckt in mir Todes¬<lb/> sehnsucht, um nichts mehr zu sehen. Der gute Franzose will sich schlagen: erstens,<lb/> Weil er sich von Preußen gereizt glaubt, zweitens, weil der natürliche Zustand der<lb/> Menschen die bestialische Wildheit ist: drittens, weil der Krieg einen mystischen<lb/> Zauber in sich birgt, der die große Masse fortreißt. Sind wir wieder zu den<lb/> Rassenkriegen zurückgekehrt? Ich befürchte es. Die entsetzliche Schlächterei, die sich<lb/> vorbereitet, hat nicht einmal einen Vorwand; es ist die Lust, sich zu schlagen, nur<lb/> um zu schlagen. Ich beweine die gesprengten Brücken, die zerstörten Tunnel, diese</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0242]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Man rang nach einer neuen Lebensauffassung und nach einer neuen Form
und glaubte sie im Naturalismus gefunden zu haben; man überschlug sich in dieser
Richtung, aber mau blieb originell; man verrannte sich, aber man bewies eine
unerschöpfliche Produktionskrnft und sah mit Erstaunen und Befriedigung, daß alle
Nationen denselben Weg nachliefen, obwohl über sie jene unheilvollen Ereignisse
gar nicht hereingebrochen waren. Die französischen Naturalisten knüpfen fast alle an
den letzten Krieg an; in der Novellensammlung I»s koirßs» Ah Nüclan kommt
kaum eine Geschichte vor, die ihn nicht zum Hintergründe gewählt hätte. Zola
schließt fast in allen Teilen aus dem Nvmaneyklus I^Sö Rougon-Na.eczrca.re mit einer
Perspektive auf den deutsch-französischen Krieg. Maupassant verdankt feinen früh
erworbenen Ruhm hauptsächlich den kleinen, mit köstlichem Humor geschriebenen Ge¬
schichten aus jener Begebenheit, durch die gleichsam die letzten Reste der Romantik
in der französischen Litteratur zu Grunde gingen. Fiir diese Wendung und für den
Eindruck, den Frankreich damals auf hervorragende Geister machte, ist nichts be-
zeichneuder als die Briefe, die der gefeierte Romanschriftsteller Gustave Flaubert
an George Sand in jener Zeit schrieb, und die Maupassant in einer Sammlung
i^Paris, Charpentier u. Co., 1889) herausgegeben hat.
Flaubert lebte nur seiner Kunst; er haßte den Bourgeois, der für litterarische
Bestrebungen kein Interesse und Verstnudnis zeigte; er haßte die Politik, weil sie
die Menschen zu geistlosen Schwätzern heranbildete, er haßte die Kritiker, die sich
ohne Beruf auf dem Parnaß breit machten, er war ein einsamer Mann, seine
einzigen Freunde, zu denen er sich freimütig aussprach, waren Turgenjew und
George Sand; und doch hatte er ein klares Urteil über Frankreichs Lage und eine
sichere Kenntnis von den Stimmungen und Schwächen des Volkes. Schon im
Jahre 1307 schrieb er an George Sand: „Frankreich, das manchmal, wie unter
Karl VI., vom Veitstanz ergriffen wird, scheint jetzt an einer Lähmung des Gehirns
zu leiden. Man ist ans Furcht blödsinnig geworden: aus Furcht vor Preußen,
vor den Arbeitseinstellungen, vor der Weltausstellung, die nicht vorwärts kommt,
aus Furcht vor allem. Man muß bis ins Jahr 1849 zurückgehen, um einen
solchen Grad von Kretinismus wiederzufinden. Bei der letzten Gesellschaft hat
mau solche Kutscheruuterhältuug gepflogen, daß ich im Innern geschworen habe, den
Fuß nicht wieder dorthin zu setzen. Es war die ganze Zeit nur die Rede von
Bismarck und von Luxemburg; nur steckt das noch in den Gliedern!" Flaubert
hatte im Jahre 1869 seinen Roman I/6<Iuo»lion ssutinivirwlo veröffentlicht und
damit in der französischen Kritik einen wahren Sturm der Entrüstung und des
Beifalls heraufbeschworen. Er wandte sich von der realistischen Richtung weg und
versenkte sich in philosophische, religiöse und mystische Norstudien zu seinem selt¬
samen Roman I^i. ^vntntion, <In >Ä'in,t ^ntnino. Da riß ihn das ansprechende
Kriegsgeschrei seiner Landsleute aus seiner beschaulichen Thätigkeit. „Die Thorheit
meiner Landsleute, schreibt er an seine Freundin, thut mir weh und ekelt mich an.
Die unheilbare Barbarei der Menschheit erfüllt mich mit düsterer Traurigkeit.
Diese Begeisterung, die keine Idee als Beweggrund hat, erweckt in mir Todes¬
sehnsucht, um nichts mehr zu sehen. Der gute Franzose will sich schlagen: erstens,
Weil er sich von Preußen gereizt glaubt, zweitens, weil der natürliche Zustand der
Menschen die bestialische Wildheit ist: drittens, weil der Krieg einen mystischen
Zauber in sich birgt, der die große Masse fortreißt. Sind wir wieder zu den
Rassenkriegen zurückgekehrt? Ich befürchte es. Die entsetzliche Schlächterei, die sich
vorbereitet, hat nicht einmal einen Vorwand; es ist die Lust, sich zu schlagen, nur
um zu schlagen. Ich beweine die gesprengten Brücken, die zerstörten Tunnel, diese
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