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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Die akademische Unnsiausstellimg in Berlin

haben die naturalistischen Schwärmer erleben müssen! Die Sozialdemokraten
unsrer Tage sind aus härteren Holze geschnitzt, als daß sie sich durch Dar¬
stellungen materiellen Elends und häuslichen Jammers erweichen oder erheben
ließen, die nicht einmal den Durchschnittszuständen der Wirklichkeit entsprechen.
Indem man die soziale Frage mit dem Naturalismus in Kunst und Litteratur
verquickte, übersah man, daß die moderne Sozialdemokratie sich in ihrer Mehr¬
heit gegen diese Zierpflanzen der Bourgeoisie feindlich verhält. Man hat in
Berlin mehrere Versuche gemacht, die Zugkraft eines Theaters, das in einer
dicht mit Arbeitern bevölkerten Vorstadt liegt, dadurch zu verstärken, daß mau
das Repertoire auf die vermeintlichen litterarischen Interessen der sozialistischen
Arbeiter zuspitzte. Aber sie blieben auch gegen diese Lockspeise der Bourgeoisie
unempfindlich, und wenn es wirklich einmal jemand unternehmen wollte, den
litterarischen Neigungen der Sozialdemokraten nachzuspüren, würde er vielleicht
zu der Entdeckung kommen, daß die Lieblingslektüre dieser Kreise nicht die ist,
in der sich die Misere und die graue Alltäglichkeit ihres Daseins mit Photo-
graphischer Treue wiederspiegeln, sondern eine solche, die ihrer Phantasie die
idealen Zustände eines goldnen Zeitalters oder die Lustschlösser ihrer politischen
Träume vorgaukelt.

Die naturalistische Freilichtmalerei war nur eine Blase auf stagnirenden
Gewässer, die ebenso schnell wieder zerplatzt ist, wie sie aufgestiegen war. Die
technischen Entdeckungen, mit denen sie sich brüstete, sind so alt wie die Malerei
selbst -- denn die Brüder van Eyck und die Florentiner des fünfzehnten Jahr¬
hunderts sind bereits Hell- und Freilichtmaler gewesen --, und das Stoff¬
gebiet, das sie mit roher Hand in Beschlag nahmen, ist durch ihre brutalen
Ausschreitungen gründlich in Mißkredit gebracht worden. Ihre grämlichen
Fratzen haben dem Publikum die Freude um den Darstellungen aus dem Volks¬
leben verleidet, sie haben durch ihre Aschermittwochspredigten ängstliche Ge¬
müter so eingeschüchtert, daß der Humor aus unsern Kunstausstellungen fast
ganz verschwunden ist, und, was das schlimmste ist, sie haben unter dein Vor-
wande, auch die "Enterbten," d. h. aus der Phrase ins Sachliche übersetzt, die
verirrten Schafe der Sozialdemokratie der religiösen Tröstungen und Er¬
bauungen teilhaftig werden zu lassen, die die bildende Kunst gewähren kann,
die religiöse Malerei auf eine schiefe Ebene geführt, von der sie bald so tief
hinabgeglitten ist, daß eine Wiederaufrichtung aussichtslos erscheint. Selbst
der naturalistische Neuerer, der es mit seiner Kunst um ernstesten und ehr¬
lichsten meint, Fritz v. Abbe, ist mit der erschreckenden Schnelligkeit, die für
jede neue Entwicklung unsrer Kunst charakteristisch ist, am Ende seines Wissens
und Könnens angelangt. Statt eine Zeit lang bei dem gemäßigten Natu¬
ralismus zu verweilen, der sein "Abendmahl" zu einem ernsthaften, achtungs-
werten Kunstwerke macht, hat er sich immer tiefer in die ziellosen Verirrungen
der extremsten Heißsporne der Richtung verstrickt, die jetzt nicht einmal die
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Grenzlwten III 18S" 2-)
Die akademische Unnsiausstellimg in Berlin

haben die naturalistischen Schwärmer erleben müssen! Die Sozialdemokraten
unsrer Tage sind aus härteren Holze geschnitzt, als daß sie sich durch Dar¬
stellungen materiellen Elends und häuslichen Jammers erweichen oder erheben
ließen, die nicht einmal den Durchschnittszuständen der Wirklichkeit entsprechen.
Indem man die soziale Frage mit dem Naturalismus in Kunst und Litteratur
verquickte, übersah man, daß die moderne Sozialdemokratie sich in ihrer Mehr¬
heit gegen diese Zierpflanzen der Bourgeoisie feindlich verhält. Man hat in
Berlin mehrere Versuche gemacht, die Zugkraft eines Theaters, das in einer
dicht mit Arbeitern bevölkerten Vorstadt liegt, dadurch zu verstärken, daß mau
das Repertoire auf die vermeintlichen litterarischen Interessen der sozialistischen
Arbeiter zuspitzte. Aber sie blieben auch gegen diese Lockspeise der Bourgeoisie
unempfindlich, und wenn es wirklich einmal jemand unternehmen wollte, den
litterarischen Neigungen der Sozialdemokraten nachzuspüren, würde er vielleicht
zu der Entdeckung kommen, daß die Lieblingslektüre dieser Kreise nicht die ist,
in der sich die Misere und die graue Alltäglichkeit ihres Daseins mit Photo-
graphischer Treue wiederspiegeln, sondern eine solche, die ihrer Phantasie die
idealen Zustände eines goldnen Zeitalters oder die Lustschlösser ihrer politischen
Träume vorgaukelt.

Die naturalistische Freilichtmalerei war nur eine Blase auf stagnirenden
Gewässer, die ebenso schnell wieder zerplatzt ist, wie sie aufgestiegen war. Die
technischen Entdeckungen, mit denen sie sich brüstete, sind so alt wie die Malerei
selbst — denn die Brüder van Eyck und die Florentiner des fünfzehnten Jahr¬
hunderts sind bereits Hell- und Freilichtmaler gewesen —, und das Stoff¬
gebiet, das sie mit roher Hand in Beschlag nahmen, ist durch ihre brutalen
Ausschreitungen gründlich in Mißkredit gebracht worden. Ihre grämlichen
Fratzen haben dem Publikum die Freude um den Darstellungen aus dem Volks¬
leben verleidet, sie haben durch ihre Aschermittwochspredigten ängstliche Ge¬
müter so eingeschüchtert, daß der Humor aus unsern Kunstausstellungen fast
ganz verschwunden ist, und, was das schlimmste ist, sie haben unter dein Vor-
wande, auch die „Enterbten," d. h. aus der Phrase ins Sachliche übersetzt, die
verirrten Schafe der Sozialdemokratie der religiösen Tröstungen und Er¬
bauungen teilhaftig werden zu lassen, die die bildende Kunst gewähren kann,
die religiöse Malerei auf eine schiefe Ebene geführt, von der sie bald so tief
hinabgeglitten ist, daß eine Wiederaufrichtung aussichtslos erscheint. Selbst
der naturalistische Neuerer, der es mit seiner Kunst um ernstesten und ehr¬
lichsten meint, Fritz v. Abbe, ist mit der erschreckenden Schnelligkeit, die für
jede neue Entwicklung unsrer Kunst charakteristisch ist, am Ende seines Wissens
und Könnens angelangt. Statt eine Zeit lang bei dem gemäßigten Natu¬
ralismus zu verweilen, der sein „Abendmahl" zu einem ernsthaften, achtungs-
werten Kunstwerke macht, hat er sich immer tiefer in die ziellosen Verirrungen
der extremsten Heißsporne der Richtung verstrickt, die jetzt nicht einmal die
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[0233] Die akademische Unnsiausstellimg in Berlin haben die naturalistischen Schwärmer erleben müssen! Die Sozialdemokraten unsrer Tage sind aus härteren Holze geschnitzt, als daß sie sich durch Dar¬ stellungen materiellen Elends und häuslichen Jammers erweichen oder erheben ließen, die nicht einmal den Durchschnittszuständen der Wirklichkeit entsprechen. Indem man die soziale Frage mit dem Naturalismus in Kunst und Litteratur verquickte, übersah man, daß die moderne Sozialdemokratie sich in ihrer Mehr¬ heit gegen diese Zierpflanzen der Bourgeoisie feindlich verhält. Man hat in Berlin mehrere Versuche gemacht, die Zugkraft eines Theaters, das in einer dicht mit Arbeitern bevölkerten Vorstadt liegt, dadurch zu verstärken, daß mau das Repertoire auf die vermeintlichen litterarischen Interessen der sozialistischen Arbeiter zuspitzte. Aber sie blieben auch gegen diese Lockspeise der Bourgeoisie unempfindlich, und wenn es wirklich einmal jemand unternehmen wollte, den litterarischen Neigungen der Sozialdemokraten nachzuspüren, würde er vielleicht zu der Entdeckung kommen, daß die Lieblingslektüre dieser Kreise nicht die ist, in der sich die Misere und die graue Alltäglichkeit ihres Daseins mit Photo- graphischer Treue wiederspiegeln, sondern eine solche, die ihrer Phantasie die idealen Zustände eines goldnen Zeitalters oder die Lustschlösser ihrer politischen Träume vorgaukelt. Die naturalistische Freilichtmalerei war nur eine Blase auf stagnirenden Gewässer, die ebenso schnell wieder zerplatzt ist, wie sie aufgestiegen war. Die technischen Entdeckungen, mit denen sie sich brüstete, sind so alt wie die Malerei selbst — denn die Brüder van Eyck und die Florentiner des fünfzehnten Jahr¬ hunderts sind bereits Hell- und Freilichtmaler gewesen —, und das Stoff¬ gebiet, das sie mit roher Hand in Beschlag nahmen, ist durch ihre brutalen Ausschreitungen gründlich in Mißkredit gebracht worden. Ihre grämlichen Fratzen haben dem Publikum die Freude um den Darstellungen aus dem Volks¬ leben verleidet, sie haben durch ihre Aschermittwochspredigten ängstliche Ge¬ müter so eingeschüchtert, daß der Humor aus unsern Kunstausstellungen fast ganz verschwunden ist, und, was das schlimmste ist, sie haben unter dein Vor- wande, auch die „Enterbten," d. h. aus der Phrase ins Sachliche übersetzt, die verirrten Schafe der Sozialdemokratie der religiösen Tröstungen und Er¬ bauungen teilhaftig werden zu lassen, die die bildende Kunst gewähren kann, die religiöse Malerei auf eine schiefe Ebene geführt, von der sie bald so tief hinabgeglitten ist, daß eine Wiederaufrichtung aussichtslos erscheint. Selbst der naturalistische Neuerer, der es mit seiner Kunst um ernstesten und ehr¬ lichsten meint, Fritz v. Abbe, ist mit der erschreckenden Schnelligkeit, die für jede neue Entwicklung unsrer Kunst charakteristisch ist, am Ende seines Wissens und Könnens angelangt. Statt eine Zeit lang bei dem gemäßigten Natu¬ ralismus zu verweilen, der sein „Abendmahl" zu einem ernsthaften, achtungs- werten Kunstwerke macht, hat er sich immer tiefer in die ziellosen Verirrungen der extremsten Heißsporne der Richtung verstrickt, die jetzt nicht einmal die ° Grenzlwten III 18S» 2-)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/233>, abgerufen am 25.07.2024.