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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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?cis Heidentum in der römischen Kirche

katholische" Gebräuche nachzuspüren, ist nicht neu, aber wohl noch niemals mit
solcher Gründlichkeit durchgeführt worden, wie von dem in den alten Klassikern
sehr belesenen Verfasser, der mit seiner Arbeit einen wertvollen Beitrag zur
Kultur- und Religionsgeschichte wie zur Ethnographie liefert. Aber gerade des¬
wegen, weil wir den Wert des Werkes anerkennen, möchten wir einige Aus¬
stellungen daran machen.

Zunächst scheint uns Trete mit einigen seiner Ableitungen nicht das
Richtige zu treffen. Er meint, die römische Kirche stütze ihren Schutzengel-
glanben, der dem heidnischen Genienkultus entspreche, ausschließlich auf das
apokryphe Buch Tobias; er wundert sich förmlich darüber, daß die poetische
Figur des Engels Rafael nicht allein für ein wirkliches Wesen gehalten werde,
sondern much noch unzählige Gefährten erhalten habe, indem die römische Lehre
jedem einzelnen Menschen seinen besondern Schutzgeist zuweise; und er zitirt
zum Beweise für die letztere Thatsache ein Gebet, das Silvio Pelileo in seinem
Gefängnis auf dem Spielberge verfaßt hat. Aber das konnte ja Trete in
jedem römisch-katholischen Katechismus finden; und dort Hütte er zugleich ge¬
sehen, daß die römische Theologie sich in diesem Punkte keineswegs bloß ans
das Buch Tobias, sondern auch auf Matthäus 18, 10 und 26, 53 stützt,
abgesehen von den vielen andern neutestamentlichen Stellen (eine führt Trete
selbst an), wo die Engel als wirkliche Wesen und hilfreiche Menschenfreunde
erscheinen. Die moderne Bibelkritik behandelt nun allerdings alle Engel- und
Wundergeschichten des Neuen Testaments als Mythen, und läßt vom ganzen
Neuen Testament nur die vier ersten der paulinischen Briefe als echt gelten.
Aber auf diesem Wege ist bekanntlich David Strauß dahin gelangt, daß er die
Frage: "Sind wir noch Christen?" für sich und seine protestantischen Freunde
nicht weniger entschieden verneinte, wie sie Trete für die katholischen Bewohner
Campaniens verneint. Deshalb ist die Scheu christlich gesinnter Männer vor
diesem kritischen Wege gerechtfertigt, und eine Polemik, die aufs neue in diesen
Weg hineintreibe, sehr unvorsichtig. Die evangelische Kirche wird es nach
wie vor umgekehrt halten wie die katholische; sie wird immer auf die lehr¬
haften Bestandteile des Neuen Testaments größeres Gewicht legen als ans die
Wunder- und Engelgeschichten, aber wenn diese Geschichten zu polemischen
Zwecken geradezu als ein Stück Heidentum bezeichnet werden, so geschieht ihr
damit kein Gefallen.

Unter der Überschrift "Olympischer Wohlgeruch" berichtet Trete über
den Kultus des Franziskancrprovinzials Giuseppe ti Copertino, dem nach der
Legende die Gabe des Fliegens zu Teil geworden war, und dessen Leib einen
wunderbaren Wohlgeruch ausströmte. Daß dieser Wohlgeruch in den helle¬
nischen Gedankenkreis paßt, ist richtig; aber die Vorliebe für Wohlgerüche ist
doch nicht ans die Hellenen beschränkt, vielmehr teilen sie so ziemlich alle
Menschen, mit Ausnahme der deutschen Tabakraucher, und wenn einmal von


?cis Heidentum in der römischen Kirche

katholische» Gebräuche nachzuspüren, ist nicht neu, aber wohl noch niemals mit
solcher Gründlichkeit durchgeführt worden, wie von dem in den alten Klassikern
sehr belesenen Verfasser, der mit seiner Arbeit einen wertvollen Beitrag zur
Kultur- und Religionsgeschichte wie zur Ethnographie liefert. Aber gerade des¬
wegen, weil wir den Wert des Werkes anerkennen, möchten wir einige Aus¬
stellungen daran machen.

Zunächst scheint uns Trete mit einigen seiner Ableitungen nicht das
Richtige zu treffen. Er meint, die römische Kirche stütze ihren Schutzengel-
glanben, der dem heidnischen Genienkultus entspreche, ausschließlich auf das
apokryphe Buch Tobias; er wundert sich förmlich darüber, daß die poetische
Figur des Engels Rafael nicht allein für ein wirkliches Wesen gehalten werde,
sondern much noch unzählige Gefährten erhalten habe, indem die römische Lehre
jedem einzelnen Menschen seinen besondern Schutzgeist zuweise; und er zitirt
zum Beweise für die letztere Thatsache ein Gebet, das Silvio Pelileo in seinem
Gefängnis auf dem Spielberge verfaßt hat. Aber das konnte ja Trete in
jedem römisch-katholischen Katechismus finden; und dort Hütte er zugleich ge¬
sehen, daß die römische Theologie sich in diesem Punkte keineswegs bloß ans
das Buch Tobias, sondern auch auf Matthäus 18, 10 und 26, 53 stützt,
abgesehen von den vielen andern neutestamentlichen Stellen (eine führt Trete
selbst an), wo die Engel als wirkliche Wesen und hilfreiche Menschenfreunde
erscheinen. Die moderne Bibelkritik behandelt nun allerdings alle Engel- und
Wundergeschichten des Neuen Testaments als Mythen, und läßt vom ganzen
Neuen Testament nur die vier ersten der paulinischen Briefe als echt gelten.
Aber auf diesem Wege ist bekanntlich David Strauß dahin gelangt, daß er die
Frage: „Sind wir noch Christen?" für sich und seine protestantischen Freunde
nicht weniger entschieden verneinte, wie sie Trete für die katholischen Bewohner
Campaniens verneint. Deshalb ist die Scheu christlich gesinnter Männer vor
diesem kritischen Wege gerechtfertigt, und eine Polemik, die aufs neue in diesen
Weg hineintreibe, sehr unvorsichtig. Die evangelische Kirche wird es nach
wie vor umgekehrt halten wie die katholische; sie wird immer auf die lehr¬
haften Bestandteile des Neuen Testaments größeres Gewicht legen als ans die
Wunder- und Engelgeschichten, aber wenn diese Geschichten zu polemischen
Zwecken geradezu als ein Stück Heidentum bezeichnet werden, so geschieht ihr
damit kein Gefallen.

Unter der Überschrift „Olympischer Wohlgeruch" berichtet Trete über
den Kultus des Franziskancrprovinzials Giuseppe ti Copertino, dem nach der
Legende die Gabe des Fliegens zu Teil geworden war, und dessen Leib einen
wunderbaren Wohlgeruch ausströmte. Daß dieser Wohlgeruch in den helle¬
nischen Gedankenkreis paßt, ist richtig; aber die Vorliebe für Wohlgerüche ist
doch nicht ans die Hellenen beschränkt, vielmehr teilen sie so ziemlich alle
Menschen, mit Ausnahme der deutschen Tabakraucher, und wenn einmal von


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[0221] ?cis Heidentum in der römischen Kirche katholische» Gebräuche nachzuspüren, ist nicht neu, aber wohl noch niemals mit solcher Gründlichkeit durchgeführt worden, wie von dem in den alten Klassikern sehr belesenen Verfasser, der mit seiner Arbeit einen wertvollen Beitrag zur Kultur- und Religionsgeschichte wie zur Ethnographie liefert. Aber gerade des¬ wegen, weil wir den Wert des Werkes anerkennen, möchten wir einige Aus¬ stellungen daran machen. Zunächst scheint uns Trete mit einigen seiner Ableitungen nicht das Richtige zu treffen. Er meint, die römische Kirche stütze ihren Schutzengel- glanben, der dem heidnischen Genienkultus entspreche, ausschließlich auf das apokryphe Buch Tobias; er wundert sich förmlich darüber, daß die poetische Figur des Engels Rafael nicht allein für ein wirkliches Wesen gehalten werde, sondern much noch unzählige Gefährten erhalten habe, indem die römische Lehre jedem einzelnen Menschen seinen besondern Schutzgeist zuweise; und er zitirt zum Beweise für die letztere Thatsache ein Gebet, das Silvio Pelileo in seinem Gefängnis auf dem Spielberge verfaßt hat. Aber das konnte ja Trete in jedem römisch-katholischen Katechismus finden; und dort Hütte er zugleich ge¬ sehen, daß die römische Theologie sich in diesem Punkte keineswegs bloß ans das Buch Tobias, sondern auch auf Matthäus 18, 10 und 26, 53 stützt, abgesehen von den vielen andern neutestamentlichen Stellen (eine führt Trete selbst an), wo die Engel als wirkliche Wesen und hilfreiche Menschenfreunde erscheinen. Die moderne Bibelkritik behandelt nun allerdings alle Engel- und Wundergeschichten des Neuen Testaments als Mythen, und läßt vom ganzen Neuen Testament nur die vier ersten der paulinischen Briefe als echt gelten. Aber auf diesem Wege ist bekanntlich David Strauß dahin gelangt, daß er die Frage: „Sind wir noch Christen?" für sich und seine protestantischen Freunde nicht weniger entschieden verneinte, wie sie Trete für die katholischen Bewohner Campaniens verneint. Deshalb ist die Scheu christlich gesinnter Männer vor diesem kritischen Wege gerechtfertigt, und eine Polemik, die aufs neue in diesen Weg hineintreibe, sehr unvorsichtig. Die evangelische Kirche wird es nach wie vor umgekehrt halten wie die katholische; sie wird immer auf die lehr¬ haften Bestandteile des Neuen Testaments größeres Gewicht legen als ans die Wunder- und Engelgeschichten, aber wenn diese Geschichten zu polemischen Zwecken geradezu als ein Stück Heidentum bezeichnet werden, so geschieht ihr damit kein Gefallen. Unter der Überschrift „Olympischer Wohlgeruch" berichtet Trete über den Kultus des Franziskancrprovinzials Giuseppe ti Copertino, dem nach der Legende die Gabe des Fliegens zu Teil geworden war, und dessen Leib einen wunderbaren Wohlgeruch ausströmte. Daß dieser Wohlgeruch in den helle¬ nischen Gedankenkreis paßt, ist richtig; aber die Vorliebe für Wohlgerüche ist doch nicht ans die Hellenen beschränkt, vielmehr teilen sie so ziemlich alle Menschen, mit Ausnahme der deutschen Tabakraucher, und wenn einmal von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/221>, abgerufen am 25.07.2024.