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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Bildungsschwindel und Volksbeglückung

deren unglaubliches Kauderwelsch der Spott kommender Zeiten sein wird, haucht
die natürliche Volksseele ihr Leben aus.

Wir sind nachgerade eine Gesellschaft engbrüstiger, kurzsichtiger, wichtig¬
thuender Schreiber geworden. Es wird in allen Verwaltungszweigen viel zu
viel geschrieben, zum Teil aus Unverstand der Vorgesetzten, zum Teil aus der
Notwendigkeit, das beständig wachsende Heer der federführenden Beamte"?
regelmäßig zu beschäftigen. Ein klarer Gedanke, der sich in drei Reihen für
jedermann verstündlich ausdrücken läßt, wird so lange in dem schwülstigen,
zopfigen Jargon herumgewälzt und mit so viel verwirrenden Flitterwerk des
Kanzleistils behängt, daß eine cicervnicmische Periode dagegen Kinderspiel ist
und er von Leuten, die ihre Sinne in der richtigen Rangordnung haben,
überhaupt nicht mehr verstanden wird. Die Schreibwut, die jedes unbefangene
Urteil trübt und jeden frischen Dienstbetrieb kühne, ist wie ein tötliches Gift
in alle Kreise gedrungen, vom Minister herunter bis zum Dorfschulzen, und
selbst der Reiteroffizier, der heutzutage länger auf dem Pferde als auf dem
Drehschemel sitzt, ist schon eine Seltenheit geworden. Unsre gesamte Kultur
würde uicht im geringste" geschädigt werden, ließe man das ganze Akten¬
material in Flammen auflodern; aber sie geht zu Grunde, sobald man dem
Volke seine Ursprünglichkeit, seinen Charakter, seine Gesundheit nimmt.

Man studirt und sinnt über neue Hoftrachten; die Zeitungen beschäftigen
sich monatelang mit diesem Stoffe und behandeln die Angelegenheit mit einer
Wichtigkeit, als ob das Bestehen unsrer Gesellschaft davon abhinge; aber nie¬
mand denkt daran, unserm Volke, d. h. dem gemeinen Manne, eine Tracht zu
geben, in der er sich menschlicher und behaglicher fühlt, als in seiner schmutzigen
"Kluft," niemand denkt daran, im Volke wieder die Freude an der lebendigen
lachenden Farbe zu erwecken und dort, wo sich noch, insbesondre in Nord-
deutschland, die alten Gebräuche in der Kleidung zeigen, mit allen Mitteln für
die Erhaltung und Verbreitung dieser Volkstrachten einzutreten; unser Himmel
ist schon gran genug, wir hätten alle Veranlassung, wenigstens in einer farbigen
Kleidung der trostlosen Stimmung entgegenzuarbeiten. ?g,nom et oireLusos!
Wo sind die unzähligen Spiele geblieben, in denen das Volk Gelegenheit fand,
seine Körperkräfte und Gewandtheit auszubilden, sich in frohem Treiben von
des Tages Last und Hitze zu erholen? Leute, die sich heutzutage nicht in
irgend einen Verein eingepfercht haben, stehen schon fast außerhalb jeder fröh¬
lichen Veranstaltung und finden nnr in der Branntweinstube ihren Ersatz, wo
sie den letzten Rest von körperlicher und sittlicher Reinheit verlieren. Es ist
eine sehr richtige Bemerkung, die nur der Unverstand tadeln konnte, wenn der
Verfasser von "Rembrandt als Erzieher" sagt: Wenn es statt der fünfzigtausend
Schanklokale, die es im jetzigen Preußen giebt, dort fünfzigtausend öffentliche
Badeanstalten gäbe, so würde es um die physische, geistige und sogar sittliche
Gesundheit seiner Staatsangehörigen besser stehen als jetzt. Denn körperliche


Bildungsschwindel und Volksbeglückung

deren unglaubliches Kauderwelsch der Spott kommender Zeiten sein wird, haucht
die natürliche Volksseele ihr Leben aus.

Wir sind nachgerade eine Gesellschaft engbrüstiger, kurzsichtiger, wichtig¬
thuender Schreiber geworden. Es wird in allen Verwaltungszweigen viel zu
viel geschrieben, zum Teil aus Unverstand der Vorgesetzten, zum Teil aus der
Notwendigkeit, das beständig wachsende Heer der federführenden Beamte«?
regelmäßig zu beschäftigen. Ein klarer Gedanke, der sich in drei Reihen für
jedermann verstündlich ausdrücken läßt, wird so lange in dem schwülstigen,
zopfigen Jargon herumgewälzt und mit so viel verwirrenden Flitterwerk des
Kanzleistils behängt, daß eine cicervnicmische Periode dagegen Kinderspiel ist
und er von Leuten, die ihre Sinne in der richtigen Rangordnung haben,
überhaupt nicht mehr verstanden wird. Die Schreibwut, die jedes unbefangene
Urteil trübt und jeden frischen Dienstbetrieb kühne, ist wie ein tötliches Gift
in alle Kreise gedrungen, vom Minister herunter bis zum Dorfschulzen, und
selbst der Reiteroffizier, der heutzutage länger auf dem Pferde als auf dem
Drehschemel sitzt, ist schon eine Seltenheit geworden. Unsre gesamte Kultur
würde uicht im geringste» geschädigt werden, ließe man das ganze Akten¬
material in Flammen auflodern; aber sie geht zu Grunde, sobald man dem
Volke seine Ursprünglichkeit, seinen Charakter, seine Gesundheit nimmt.

Man studirt und sinnt über neue Hoftrachten; die Zeitungen beschäftigen
sich monatelang mit diesem Stoffe und behandeln die Angelegenheit mit einer
Wichtigkeit, als ob das Bestehen unsrer Gesellschaft davon abhinge; aber nie¬
mand denkt daran, unserm Volke, d. h. dem gemeinen Manne, eine Tracht zu
geben, in der er sich menschlicher und behaglicher fühlt, als in seiner schmutzigen
„Kluft," niemand denkt daran, im Volke wieder die Freude an der lebendigen
lachenden Farbe zu erwecken und dort, wo sich noch, insbesondre in Nord-
deutschland, die alten Gebräuche in der Kleidung zeigen, mit allen Mitteln für
die Erhaltung und Verbreitung dieser Volkstrachten einzutreten; unser Himmel
ist schon gran genug, wir hätten alle Veranlassung, wenigstens in einer farbigen
Kleidung der trostlosen Stimmung entgegenzuarbeiten. ?g,nom et oireLusos!
Wo sind die unzähligen Spiele geblieben, in denen das Volk Gelegenheit fand,
seine Körperkräfte und Gewandtheit auszubilden, sich in frohem Treiben von
des Tages Last und Hitze zu erholen? Leute, die sich heutzutage nicht in
irgend einen Verein eingepfercht haben, stehen schon fast außerhalb jeder fröh¬
lichen Veranstaltung und finden nnr in der Branntweinstube ihren Ersatz, wo
sie den letzten Rest von körperlicher und sittlicher Reinheit verlieren. Es ist
eine sehr richtige Bemerkung, die nur der Unverstand tadeln konnte, wenn der
Verfasser von „Rembrandt als Erzieher" sagt: Wenn es statt der fünfzigtausend
Schanklokale, die es im jetzigen Preußen giebt, dort fünfzigtausend öffentliche
Badeanstalten gäbe, so würde es um die physische, geistige und sogar sittliche
Gesundheit seiner Staatsangehörigen besser stehen als jetzt. Denn körperliche


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[0218] Bildungsschwindel und Volksbeglückung deren unglaubliches Kauderwelsch der Spott kommender Zeiten sein wird, haucht die natürliche Volksseele ihr Leben aus. Wir sind nachgerade eine Gesellschaft engbrüstiger, kurzsichtiger, wichtig¬ thuender Schreiber geworden. Es wird in allen Verwaltungszweigen viel zu viel geschrieben, zum Teil aus Unverstand der Vorgesetzten, zum Teil aus der Notwendigkeit, das beständig wachsende Heer der federführenden Beamte«? regelmäßig zu beschäftigen. Ein klarer Gedanke, der sich in drei Reihen für jedermann verstündlich ausdrücken läßt, wird so lange in dem schwülstigen, zopfigen Jargon herumgewälzt und mit so viel verwirrenden Flitterwerk des Kanzleistils behängt, daß eine cicervnicmische Periode dagegen Kinderspiel ist und er von Leuten, die ihre Sinne in der richtigen Rangordnung haben, überhaupt nicht mehr verstanden wird. Die Schreibwut, die jedes unbefangene Urteil trübt und jeden frischen Dienstbetrieb kühne, ist wie ein tötliches Gift in alle Kreise gedrungen, vom Minister herunter bis zum Dorfschulzen, und selbst der Reiteroffizier, der heutzutage länger auf dem Pferde als auf dem Drehschemel sitzt, ist schon eine Seltenheit geworden. Unsre gesamte Kultur würde uicht im geringste» geschädigt werden, ließe man das ganze Akten¬ material in Flammen auflodern; aber sie geht zu Grunde, sobald man dem Volke seine Ursprünglichkeit, seinen Charakter, seine Gesundheit nimmt. Man studirt und sinnt über neue Hoftrachten; die Zeitungen beschäftigen sich monatelang mit diesem Stoffe und behandeln die Angelegenheit mit einer Wichtigkeit, als ob das Bestehen unsrer Gesellschaft davon abhinge; aber nie¬ mand denkt daran, unserm Volke, d. h. dem gemeinen Manne, eine Tracht zu geben, in der er sich menschlicher und behaglicher fühlt, als in seiner schmutzigen „Kluft," niemand denkt daran, im Volke wieder die Freude an der lebendigen lachenden Farbe zu erwecken und dort, wo sich noch, insbesondre in Nord- deutschland, die alten Gebräuche in der Kleidung zeigen, mit allen Mitteln für die Erhaltung und Verbreitung dieser Volkstrachten einzutreten; unser Himmel ist schon gran genug, wir hätten alle Veranlassung, wenigstens in einer farbigen Kleidung der trostlosen Stimmung entgegenzuarbeiten. ?g,nom et oireLusos! Wo sind die unzähligen Spiele geblieben, in denen das Volk Gelegenheit fand, seine Körperkräfte und Gewandtheit auszubilden, sich in frohem Treiben von des Tages Last und Hitze zu erholen? Leute, die sich heutzutage nicht in irgend einen Verein eingepfercht haben, stehen schon fast außerhalb jeder fröh¬ lichen Veranstaltung und finden nnr in der Branntweinstube ihren Ersatz, wo sie den letzten Rest von körperlicher und sittlicher Reinheit verlieren. Es ist eine sehr richtige Bemerkung, die nur der Unverstand tadeln konnte, wenn der Verfasser von „Rembrandt als Erzieher" sagt: Wenn es statt der fünfzigtausend Schanklokale, die es im jetzigen Preußen giebt, dort fünfzigtausend öffentliche Badeanstalten gäbe, so würde es um die physische, geistige und sogar sittliche Gesundheit seiner Staatsangehörigen besser stehen als jetzt. Denn körperliche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/218>, abgerufen am 25.07.2024.