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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Die neuen Gewerdegerichte

Dem Verfahren liegt zwar der gemeine amtsgernhtliche Prozeß zu. Grunde.
Aber es ist von allen den Formalitäten befreit, die den geiueiuen Prozeß fiir
unser Volk zu einem wahren Kreuz gemacht haben. Wir wollen hier die haupt¬
sächlichsten Bestimmungen des bei den Gelverbegerichten angeordneten Verfahrens
kurz aufführen. Alle Zustellungen erfolgen von Nmtswegen. Urteile, Beschlüsse,
gegen die ein Rechtsmittel stattfindet, werden den Parteien ohne weiteres zu¬
gestellt, wenn sie nicht darauf verzichten. Auch sonstige Urteile und Beschlusse
sind den Parteien zuzustellen, wenn sie nicht in ihrer Anwesenheit verkündet
worden sind. Anträge lind Erklärungen, die der andern Partei zugestellt werden
sollen, sind bei Gericht einzureichen oder beim Gerichtsschreiber zu Protokoll
zu geben. Mit dieser Handlung tritt schon die Wahrung einer Frist oder
die Unterbrechung einer Verjährung ein. Der Gerichtsschreiber hat die
Zustellung in einer "vereinfachten" Form durch die Post bewirken zu lassen.
Alle nicht auf Grund mündlicher Verhandlung ergehenden Beschlüsse und
Verfügllugeu erläßt der Vorsitzende allein. Er setzt die Verhandlungs¬
termine an. Der Gerichtsschreiber hat die Parteien zu laden. Zu dem
ersten Termine brauchen die Beisitzer nicht zugezogen zu werde". Erscheint
eine Partei nicht, so erläßt der Vorsitzende das Versüumnisnrteil. Erscheinen
beide Parteien, so verflicht er zwischen ihnen die Güte. Kommt ein Vergleich
zu stände, wird der Klagansprnch anerkannt oder die Klage zurückgenommen,
so ist damit der Prozeß zu Ende. Auch kann der Vorsitzende, wenn es von
beiden Parteien beantragt wird, sofort in der Sache entscheiden. Andernfalls
wird, wenn die Sache streitig bleibt, ein andrer Termin angesetzt, zu dem nnn
die Beisitzer zugezogen werden. Zu diesem Termin werden gleich die nötigen
Zeugen und Sachverständigen geladen. In dem Termine ist mündlich zu ver¬
handeln. Das Gericht kann jederzeit das persönliche Erscheinen der Parteien
anordnen. Ülwr die Verhaudlniig ist ein Protokoll aufzunehmen. Alle diese Vor¬
schriften enthielt schon der Regiernngsentwnrf. Dann ist aber noch eine schwer¬
wiegende Bestimmung durch die Reichstagskommission in das Gesetz gebracht
worden. Erscheinen in einem zur Fortsetzung der Verhandlung bestimmten Termine
die Parteien oder deren eine nicht, so ist das Urteil unter Berücksichtigung der
bisherigen Verhandlungen zu erlassen. Dadurch ist mit dem jetzt bestehende"
leidigen Prinzip, das davon ausgeht, daß in jedem Termine der ganze Prozeß
von neuem beginne und deshalb das Nichterscheinen einer Partei stets den
Verlust der ganzen Sache nach sich ziehe, gebrochen worden. Es wird dieser
neue Grundsatz aber auch die Folge haben, daß in die Protokolle die Ver¬
handlungen ihrem wesentlichen materiellen Inhalt nach aufgenommen werden
müssen. Denn wie könnte man ein Urteil "mit Berücksichtigung der bisherigen
Verhandlungen" geben, wenn man von den bisherigen Verhandlungen nichts weiß?

In diesem ganzen Verfahren haben wir nun einen vernünftigen Prozeß
vor Auge", der mit dem leidigen Formalismus der Zivilprvzeßvrdnnng gänzlich


Die neuen Gewerdegerichte

Dem Verfahren liegt zwar der gemeine amtsgernhtliche Prozeß zu. Grunde.
Aber es ist von allen den Formalitäten befreit, die den geiueiuen Prozeß fiir
unser Volk zu einem wahren Kreuz gemacht haben. Wir wollen hier die haupt¬
sächlichsten Bestimmungen des bei den Gelverbegerichten angeordneten Verfahrens
kurz aufführen. Alle Zustellungen erfolgen von Nmtswegen. Urteile, Beschlüsse,
gegen die ein Rechtsmittel stattfindet, werden den Parteien ohne weiteres zu¬
gestellt, wenn sie nicht darauf verzichten. Auch sonstige Urteile und Beschlusse
sind den Parteien zuzustellen, wenn sie nicht in ihrer Anwesenheit verkündet
worden sind. Anträge lind Erklärungen, die der andern Partei zugestellt werden
sollen, sind bei Gericht einzureichen oder beim Gerichtsschreiber zu Protokoll
zu geben. Mit dieser Handlung tritt schon die Wahrung einer Frist oder
die Unterbrechung einer Verjährung ein. Der Gerichtsschreiber hat die
Zustellung in einer „vereinfachten" Form durch die Post bewirken zu lassen.
Alle nicht auf Grund mündlicher Verhandlung ergehenden Beschlüsse und
Verfügllugeu erläßt der Vorsitzende allein. Er setzt die Verhandlungs¬
termine an. Der Gerichtsschreiber hat die Parteien zu laden. Zu dem
ersten Termine brauchen die Beisitzer nicht zugezogen zu werde». Erscheint
eine Partei nicht, so erläßt der Vorsitzende das Versüumnisnrteil. Erscheinen
beide Parteien, so verflicht er zwischen ihnen die Güte. Kommt ein Vergleich
zu stände, wird der Klagansprnch anerkannt oder die Klage zurückgenommen,
so ist damit der Prozeß zu Ende. Auch kann der Vorsitzende, wenn es von
beiden Parteien beantragt wird, sofort in der Sache entscheiden. Andernfalls
wird, wenn die Sache streitig bleibt, ein andrer Termin angesetzt, zu dem nnn
die Beisitzer zugezogen werden. Zu diesem Termin werden gleich die nötigen
Zeugen und Sachverständigen geladen. In dem Termine ist mündlich zu ver¬
handeln. Das Gericht kann jederzeit das persönliche Erscheinen der Parteien
anordnen. Ülwr die Verhaudlniig ist ein Protokoll aufzunehmen. Alle diese Vor¬
schriften enthielt schon der Regiernngsentwnrf. Dann ist aber noch eine schwer¬
wiegende Bestimmung durch die Reichstagskommission in das Gesetz gebracht
worden. Erscheinen in einem zur Fortsetzung der Verhandlung bestimmten Termine
die Parteien oder deren eine nicht, so ist das Urteil unter Berücksichtigung der
bisherigen Verhandlungen zu erlassen. Dadurch ist mit dem jetzt bestehende»
leidigen Prinzip, das davon ausgeht, daß in jedem Termine der ganze Prozeß
von neuem beginne und deshalb das Nichterscheinen einer Partei stets den
Verlust der ganzen Sache nach sich ziehe, gebrochen worden. Es wird dieser
neue Grundsatz aber auch die Folge haben, daß in die Protokolle die Ver¬
handlungen ihrem wesentlichen materiellen Inhalt nach aufgenommen werden
müssen. Denn wie könnte man ein Urteil „mit Berücksichtigung der bisherigen
Verhandlungen" geben, wenn man von den bisherigen Verhandlungen nichts weiß?

In diesem ganzen Verfahren haben wir nun einen vernünftigen Prozeß
vor Auge», der mit dem leidigen Formalismus der Zivilprvzeßvrdnnng gänzlich


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[0208] Die neuen Gewerdegerichte Dem Verfahren liegt zwar der gemeine amtsgernhtliche Prozeß zu. Grunde. Aber es ist von allen den Formalitäten befreit, die den geiueiuen Prozeß fiir unser Volk zu einem wahren Kreuz gemacht haben. Wir wollen hier die haupt¬ sächlichsten Bestimmungen des bei den Gelverbegerichten angeordneten Verfahrens kurz aufführen. Alle Zustellungen erfolgen von Nmtswegen. Urteile, Beschlüsse, gegen die ein Rechtsmittel stattfindet, werden den Parteien ohne weiteres zu¬ gestellt, wenn sie nicht darauf verzichten. Auch sonstige Urteile und Beschlusse sind den Parteien zuzustellen, wenn sie nicht in ihrer Anwesenheit verkündet worden sind. Anträge lind Erklärungen, die der andern Partei zugestellt werden sollen, sind bei Gericht einzureichen oder beim Gerichtsschreiber zu Protokoll zu geben. Mit dieser Handlung tritt schon die Wahrung einer Frist oder die Unterbrechung einer Verjährung ein. Der Gerichtsschreiber hat die Zustellung in einer „vereinfachten" Form durch die Post bewirken zu lassen. Alle nicht auf Grund mündlicher Verhandlung ergehenden Beschlüsse und Verfügllugeu erläßt der Vorsitzende allein. Er setzt die Verhandlungs¬ termine an. Der Gerichtsschreiber hat die Parteien zu laden. Zu dem ersten Termine brauchen die Beisitzer nicht zugezogen zu werde». Erscheint eine Partei nicht, so erläßt der Vorsitzende das Versüumnisnrteil. Erscheinen beide Parteien, so verflicht er zwischen ihnen die Güte. Kommt ein Vergleich zu stände, wird der Klagansprnch anerkannt oder die Klage zurückgenommen, so ist damit der Prozeß zu Ende. Auch kann der Vorsitzende, wenn es von beiden Parteien beantragt wird, sofort in der Sache entscheiden. Andernfalls wird, wenn die Sache streitig bleibt, ein andrer Termin angesetzt, zu dem nnn die Beisitzer zugezogen werden. Zu diesem Termin werden gleich die nötigen Zeugen und Sachverständigen geladen. In dem Termine ist mündlich zu ver¬ handeln. Das Gericht kann jederzeit das persönliche Erscheinen der Parteien anordnen. Ülwr die Verhaudlniig ist ein Protokoll aufzunehmen. Alle diese Vor¬ schriften enthielt schon der Regiernngsentwnrf. Dann ist aber noch eine schwer¬ wiegende Bestimmung durch die Reichstagskommission in das Gesetz gebracht worden. Erscheinen in einem zur Fortsetzung der Verhandlung bestimmten Termine die Parteien oder deren eine nicht, so ist das Urteil unter Berücksichtigung der bisherigen Verhandlungen zu erlassen. Dadurch ist mit dem jetzt bestehende» leidigen Prinzip, das davon ausgeht, daß in jedem Termine der ganze Prozeß von neuem beginne und deshalb das Nichterscheinen einer Partei stets den Verlust der ganzen Sache nach sich ziehe, gebrochen worden. Es wird dieser neue Grundsatz aber auch die Folge haben, daß in die Protokolle die Ver¬ handlungen ihrem wesentlichen materiellen Inhalt nach aufgenommen werden müssen. Denn wie könnte man ein Urteil „mit Berücksichtigung der bisherigen Verhandlungen" geben, wenn man von den bisherigen Verhandlungen nichts weiß? In diesem ganzen Verfahren haben wir nun einen vernünftigen Prozeß vor Auge», der mit dem leidigen Formalismus der Zivilprvzeßvrdnnng gänzlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/208>, abgerufen am 04.07.2024.