Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der ehrliche Makler

zucken. "Was ist Philosophie?" "Was ist Wahrheit?" fragte auch Pilatus.
Was aber beiden Verächtern gleichermaßen fehlt, das ist eben die "Philosophie,"
das Vermögen und die Gewohnheit grundsätzlicher Erörterung von Fragen,
die durch ihre leidenschaftliche und vorurteilsvolle Behandlung nicht von
der Stelle rücken. Jeder Mensch ist, wie schon Herr Jourdain im Loui'Mois
(^ntMoivmö entdeckte, ein "Philosoph, ohne es zu wissen"; er will nicht nur,
er denkt auch, und will und handelt, wie er denkt, und je nachdem, ob er
gründlich oder oberflächlich, falsch oder richtig denkt, wird auch sein Handeln
entsprechende Erfolge zeigen. Nun denkt man entweder in Vorurteilen oder
in Begriffen, entweder weil alle so denken, die man kennt, und weil es der
eigne Vorteil bei oberflächlichem Überschlage der persönlichen Aussichten so
verlangt, oder weil man nach reiflicher Erwägung aller einschlagenden Ver¬
hältniße auf gewisse Folgerungen gestoßen ist. Wir denken bekanntlich nnr
noch in Worten, jedes Wort aber hat einen landläufigen Sinn, der sich mit
einem landläufigen Vorurteile deckt: ein Grund mehr, der das begriffliche
Denken dem Ungeübten erschwert. So versteht man z. B. uuter "Bildung"
zunächst das Abgangszeugnis eines Gymnasiums oder einer Hochschule, einen
anständigen Rock, feines Benehmen und schneidiges Auftreten; das ist das
Vorurteil der Bildung, das wir gewohnheitsgemäß mit dem Worte verbinden.
Aber will man den Begriff der Bildung bestimmen, so kommt man zu ganz
andern Ergebnissen. Da findet mau, daß es als Ableitung von "bilden" so viel
wie "abgeschlossene Erziehung, gereifte Eigenart" bedeutet, also innere Vorzüge
des Geistes, des Gemütes und des Charakters, denen jene Äußerlichkeiten des
Vorurteils als Deckblatt dienen können, aber nicht müssen. Da aber das
philosophische Denken, die Gewohnheit, sich über Wort und Vorurteil zum
Begriff und zur Eigenheit zu erheben, nicht auf unsern Schulen gelehrt wird,
wo wir ganz andre, weit wichtigere Dinge zu lernen haben, z. B. die Ver¬
fassung des Servius Tullius und die euripideische Metrik, so kann es mich
nicht Wunder nehmen, wenn seine Meister, die Fechner, Lotze, Riehl, Wunde,
so wenig Achtung genießen und ihre Wissenschaft sich der offenbarsten Gering¬
schätzung aller Parteien erfreut. Darum laufen wir auch alle, jeder mit seinen
eignen Scheuklappen behaftet, an einander vorbei, in wörtlichster Wahrheit
"der Nase nach," bis wir gegen eine Mauer rennen, und wären die Folgen
nicht so schwerwiegend, wäre man versucht, dieses tolle Durcheinander vou
der scherzhaften Seite zu nehmen. Aber so hängt das Wohl und Wehe des
Reiches von der Entscheidung eines Kampfes ab, der alljährlich Hunderte in
die Gefängnisse und Zuchthäuser, ins Elend oder in die Verbannung treibt,
in dein selbst Blut hüben wie drüben geflossen ist. Um diesem Bürgerkriege
ein Ende zu machen, bedarf es einer Waffenruhe und einer Unterhandlung,
die ihren Schwerpunkt in die grundsätzliche Erörterung der schwebenden Fragen
Verlegt, in die Erörterung der Grundsätze, auf die man auf beiden Seiten sein


Der ehrliche Makler

zucken. „Was ist Philosophie?" „Was ist Wahrheit?" fragte auch Pilatus.
Was aber beiden Verächtern gleichermaßen fehlt, das ist eben die „Philosophie,"
das Vermögen und die Gewohnheit grundsätzlicher Erörterung von Fragen,
die durch ihre leidenschaftliche und vorurteilsvolle Behandlung nicht von
der Stelle rücken. Jeder Mensch ist, wie schon Herr Jourdain im Loui'Mois
(^ntMoivmö entdeckte, ein „Philosoph, ohne es zu wissen"; er will nicht nur,
er denkt auch, und will und handelt, wie er denkt, und je nachdem, ob er
gründlich oder oberflächlich, falsch oder richtig denkt, wird auch sein Handeln
entsprechende Erfolge zeigen. Nun denkt man entweder in Vorurteilen oder
in Begriffen, entweder weil alle so denken, die man kennt, und weil es der
eigne Vorteil bei oberflächlichem Überschlage der persönlichen Aussichten so
verlangt, oder weil man nach reiflicher Erwägung aller einschlagenden Ver¬
hältniße auf gewisse Folgerungen gestoßen ist. Wir denken bekanntlich nnr
noch in Worten, jedes Wort aber hat einen landläufigen Sinn, der sich mit
einem landläufigen Vorurteile deckt: ein Grund mehr, der das begriffliche
Denken dem Ungeübten erschwert. So versteht man z. B. uuter „Bildung"
zunächst das Abgangszeugnis eines Gymnasiums oder einer Hochschule, einen
anständigen Rock, feines Benehmen und schneidiges Auftreten; das ist das
Vorurteil der Bildung, das wir gewohnheitsgemäß mit dem Worte verbinden.
Aber will man den Begriff der Bildung bestimmen, so kommt man zu ganz
andern Ergebnissen. Da findet mau, daß es als Ableitung von „bilden" so viel
wie „abgeschlossene Erziehung, gereifte Eigenart" bedeutet, also innere Vorzüge
des Geistes, des Gemütes und des Charakters, denen jene Äußerlichkeiten des
Vorurteils als Deckblatt dienen können, aber nicht müssen. Da aber das
philosophische Denken, die Gewohnheit, sich über Wort und Vorurteil zum
Begriff und zur Eigenheit zu erheben, nicht auf unsern Schulen gelehrt wird,
wo wir ganz andre, weit wichtigere Dinge zu lernen haben, z. B. die Ver¬
fassung des Servius Tullius und die euripideische Metrik, so kann es mich
nicht Wunder nehmen, wenn seine Meister, die Fechner, Lotze, Riehl, Wunde,
so wenig Achtung genießen und ihre Wissenschaft sich der offenbarsten Gering¬
schätzung aller Parteien erfreut. Darum laufen wir auch alle, jeder mit seinen
eignen Scheuklappen behaftet, an einander vorbei, in wörtlichster Wahrheit
„der Nase nach," bis wir gegen eine Mauer rennen, und wären die Folgen
nicht so schwerwiegend, wäre man versucht, dieses tolle Durcheinander vou
der scherzhaften Seite zu nehmen. Aber so hängt das Wohl und Wehe des
Reiches von der Entscheidung eines Kampfes ab, der alljährlich Hunderte in
die Gefängnisse und Zuchthäuser, ins Elend oder in die Verbannung treibt,
in dein selbst Blut hüben wie drüben geflossen ist. Um diesem Bürgerkriege
ein Ende zu machen, bedarf es einer Waffenruhe und einer Unterhandlung,
die ihren Schwerpunkt in die grundsätzliche Erörterung der schwebenden Fragen
Verlegt, in die Erörterung der Grundsätze, auf die man auf beiden Seiten sein


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0155" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208092"/>
          <fw type="header" place="top"> Der ehrliche Makler</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_420" prev="#ID_419" next="#ID_421"> zucken. &#x201E;Was ist Philosophie?" &#x201E;Was ist Wahrheit?" fragte auch Pilatus.<lb/>
Was aber beiden Verächtern gleichermaßen fehlt, das ist eben die &#x201E;Philosophie,"<lb/>
das Vermögen und die Gewohnheit grundsätzlicher Erörterung von Fragen,<lb/>
die durch ihre leidenschaftliche und vorurteilsvolle Behandlung nicht von<lb/>
der Stelle rücken. Jeder Mensch ist, wie schon Herr Jourdain im Loui'Mois<lb/>
(^ntMoivmö entdeckte, ein &#x201E;Philosoph, ohne es zu wissen"; er will nicht nur,<lb/>
er denkt auch, und will und handelt, wie er denkt, und je nachdem, ob er<lb/>
gründlich oder oberflächlich, falsch oder richtig denkt, wird auch sein Handeln<lb/>
entsprechende Erfolge zeigen. Nun denkt man entweder in Vorurteilen oder<lb/>
in Begriffen, entweder weil alle so denken, die man kennt, und weil es der<lb/>
eigne Vorteil bei oberflächlichem Überschlage der persönlichen Aussichten so<lb/>
verlangt, oder weil man nach reiflicher Erwägung aller einschlagenden Ver¬<lb/>
hältniße auf gewisse Folgerungen gestoßen ist. Wir denken bekanntlich nnr<lb/>
noch in Worten, jedes Wort aber hat einen landläufigen Sinn, der sich mit<lb/>
einem landläufigen Vorurteile deckt: ein Grund mehr, der das begriffliche<lb/>
Denken dem Ungeübten erschwert. So versteht man z. B. uuter &#x201E;Bildung"<lb/>
zunächst das Abgangszeugnis eines Gymnasiums oder einer Hochschule, einen<lb/>
anständigen Rock, feines Benehmen und schneidiges Auftreten; das ist das<lb/>
Vorurteil der Bildung, das wir gewohnheitsgemäß mit dem Worte verbinden.<lb/>
Aber will man den Begriff der Bildung bestimmen, so kommt man zu ganz<lb/>
andern Ergebnissen. Da findet mau, daß es als Ableitung von &#x201E;bilden" so viel<lb/>
wie &#x201E;abgeschlossene Erziehung, gereifte Eigenart" bedeutet, also innere Vorzüge<lb/>
des Geistes, des Gemütes und des Charakters, denen jene Äußerlichkeiten des<lb/>
Vorurteils als Deckblatt dienen können, aber nicht müssen. Da aber das<lb/>
philosophische Denken, die Gewohnheit, sich über Wort und Vorurteil zum<lb/>
Begriff und zur Eigenheit zu erheben, nicht auf unsern Schulen gelehrt wird,<lb/>
wo wir ganz andre, weit wichtigere Dinge zu lernen haben, z. B. die Ver¬<lb/>
fassung des Servius Tullius und die euripideische Metrik, so kann es mich<lb/>
nicht Wunder nehmen, wenn seine Meister, die Fechner, Lotze, Riehl, Wunde,<lb/>
so wenig Achtung genießen und ihre Wissenschaft sich der offenbarsten Gering¬<lb/>
schätzung aller Parteien erfreut. Darum laufen wir auch alle, jeder mit seinen<lb/>
eignen Scheuklappen behaftet, an einander vorbei, in wörtlichster Wahrheit<lb/>
&#x201E;der Nase nach," bis wir gegen eine Mauer rennen, und wären die Folgen<lb/>
nicht so schwerwiegend, wäre man versucht, dieses tolle Durcheinander vou<lb/>
der scherzhaften Seite zu nehmen. Aber so hängt das Wohl und Wehe des<lb/>
Reiches von der Entscheidung eines Kampfes ab, der alljährlich Hunderte in<lb/>
die Gefängnisse und Zuchthäuser, ins Elend oder in die Verbannung treibt,<lb/>
in dein selbst Blut hüben wie drüben geflossen ist. Um diesem Bürgerkriege<lb/>
ein Ende zu machen, bedarf es einer Waffenruhe und einer Unterhandlung,<lb/>
die ihren Schwerpunkt in die grundsätzliche Erörterung der schwebenden Fragen<lb/>
Verlegt, in die Erörterung der Grundsätze, auf die man auf beiden Seiten sein</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0155] Der ehrliche Makler zucken. „Was ist Philosophie?" „Was ist Wahrheit?" fragte auch Pilatus. Was aber beiden Verächtern gleichermaßen fehlt, das ist eben die „Philosophie," das Vermögen und die Gewohnheit grundsätzlicher Erörterung von Fragen, die durch ihre leidenschaftliche und vorurteilsvolle Behandlung nicht von der Stelle rücken. Jeder Mensch ist, wie schon Herr Jourdain im Loui'Mois (^ntMoivmö entdeckte, ein „Philosoph, ohne es zu wissen"; er will nicht nur, er denkt auch, und will und handelt, wie er denkt, und je nachdem, ob er gründlich oder oberflächlich, falsch oder richtig denkt, wird auch sein Handeln entsprechende Erfolge zeigen. Nun denkt man entweder in Vorurteilen oder in Begriffen, entweder weil alle so denken, die man kennt, und weil es der eigne Vorteil bei oberflächlichem Überschlage der persönlichen Aussichten so verlangt, oder weil man nach reiflicher Erwägung aller einschlagenden Ver¬ hältniße auf gewisse Folgerungen gestoßen ist. Wir denken bekanntlich nnr noch in Worten, jedes Wort aber hat einen landläufigen Sinn, der sich mit einem landläufigen Vorurteile deckt: ein Grund mehr, der das begriffliche Denken dem Ungeübten erschwert. So versteht man z. B. uuter „Bildung" zunächst das Abgangszeugnis eines Gymnasiums oder einer Hochschule, einen anständigen Rock, feines Benehmen und schneidiges Auftreten; das ist das Vorurteil der Bildung, das wir gewohnheitsgemäß mit dem Worte verbinden. Aber will man den Begriff der Bildung bestimmen, so kommt man zu ganz andern Ergebnissen. Da findet mau, daß es als Ableitung von „bilden" so viel wie „abgeschlossene Erziehung, gereifte Eigenart" bedeutet, also innere Vorzüge des Geistes, des Gemütes und des Charakters, denen jene Äußerlichkeiten des Vorurteils als Deckblatt dienen können, aber nicht müssen. Da aber das philosophische Denken, die Gewohnheit, sich über Wort und Vorurteil zum Begriff und zur Eigenheit zu erheben, nicht auf unsern Schulen gelehrt wird, wo wir ganz andre, weit wichtigere Dinge zu lernen haben, z. B. die Ver¬ fassung des Servius Tullius und die euripideische Metrik, so kann es mich nicht Wunder nehmen, wenn seine Meister, die Fechner, Lotze, Riehl, Wunde, so wenig Achtung genießen und ihre Wissenschaft sich der offenbarsten Gering¬ schätzung aller Parteien erfreut. Darum laufen wir auch alle, jeder mit seinen eignen Scheuklappen behaftet, an einander vorbei, in wörtlichster Wahrheit „der Nase nach," bis wir gegen eine Mauer rennen, und wären die Folgen nicht so schwerwiegend, wäre man versucht, dieses tolle Durcheinander vou der scherzhaften Seite zu nehmen. Aber so hängt das Wohl und Wehe des Reiches von der Entscheidung eines Kampfes ab, der alljährlich Hunderte in die Gefängnisse und Zuchthäuser, ins Elend oder in die Verbannung treibt, in dein selbst Blut hüben wie drüben geflossen ist. Um diesem Bürgerkriege ein Ende zu machen, bedarf es einer Waffenruhe und einer Unterhandlung, die ihren Schwerpunkt in die grundsätzliche Erörterung der schwebenden Fragen Verlegt, in die Erörterung der Grundsätze, auf die man auf beiden Seiten sein

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/155
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/155>, abgerufen am 26.06.2024.