Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Gernicmisirnng in Elsaß-Lothringen

politische Maßregeln handelt, hat die Regierung, wenn sie die Form des Gesetzes
wählte, sich an den Reichstag gewandt. Dies geschah unter der Herrschaft
Kaiser Friedrichs in einem mit Rückwirkung versehenen Gesetz, das gegenüber
einer abweichenden Auffassung des Reichsgerichtes die Wirksamkeit zweier
französischen Preßbestimmuugeu aufrecht erhielt. Da der Thatbestand, bei dem
diese Gesetze zur Anwendung gelangen, für die Stimmung im Reichsland
eigentümlich ist, so mag es gestattet sein, ihn an dieser Stelle wiederzugeben. Die
Gesetze verbieten das öffentliche Ausstoßen anfrührerischer Rufe und das Tragen
von demonstrativen Abzeichen. Es fallen darunter alle jene Ausschreitungen
meist der untern Volksschichten, bei denen der Sympathie für Frankreich und
dem Haß gegen Deutschland und Preußen Ausdruck geliehen wird. Es reizt
den Ackerer, deu Fabrikarbeiter und die bei einer Grenzbevölkernng nicht selten
vorkommenden zweifelhaften Existenzen, "Wackes," wie sie im Volke genannt
werden, zumal wenn sie von dem starken oberelsässischen Weine genossen haben,
Vivs I" ?i'MLv, a ba3 til ?rü88ö! zu rufen, obwohl sie sich der Strafbarkeit
ihrer Handlungsweise bewußt sind und nicht viel mehr von der französischen
Sprache verstehen, als diesen verbotenen Ausruf. Die bei der Musterung
ausgehobenen jungen Burschen, die OonsoritK, wählen sich einen Tambour¬
major, von dessen Stab die Bänder der französischen Trikolore herabwehen, oder
die jugendlichen Teilnehmer an den Volksfesten, "Kilben," ziehen in geschlossenen
Reihen mit blauen, weißen und roten Mützen durchs Dorf, um die Altdeutschen
zu trunken, um ihre Landsleute an Frankreich zu erinnern. Zu diesen ver¬
botenen Genüssen gehören anch Gedichte und Lieder, wie die Marseillaise, ein
Klagegesang über die Abtretung des Neichslandes, das mit den Worten beginnt:


Vous n'g,in'S2 xss 1'L.lsaoo ot I", I,ori'!uno,
M nialxrö vous nous rostvrons Z?runyais.
Vous avsü M g'vrmnnisor la pi-i-iuo
Kais uotro ocour vous no I'ani-oil Mruus --

ein im Volkston gehaltenes Lied, teils französisch, teils im Dialekt gedichtet
und nach einer bekannten Melodie ans dem Repertoire der Madame Therese
zu singen:


L.110As nous ^Isavious,
I^o odassspot "laus 1a enlum,
?our olmssei' los Il'i'ussiens
Ds I'-mei'v vois ein Kiiin.
Vivo I" Vr-nos, a das I" ?r"gse
De Schwvbe mllsse zum Lttndle "us.

Endlich ist noch das sogenannte Sebastvpollied zu erwähnen, ein Gesang nach
einer alten deutschen Volksweise, womit die Elsässer im Krimkriege zum Kampfe
gegen Nußland angefeuert werden sollten; nncrlanbterweise ändert man den
Text ub, und das "Siegreich wollen wir Rußland schlagen" wird in "Siegreich
wollen wir Deutschland schlagen" verwandelt.


Die Gernicmisirnng in Elsaß-Lothringen

politische Maßregeln handelt, hat die Regierung, wenn sie die Form des Gesetzes
wählte, sich an den Reichstag gewandt. Dies geschah unter der Herrschaft
Kaiser Friedrichs in einem mit Rückwirkung versehenen Gesetz, das gegenüber
einer abweichenden Auffassung des Reichsgerichtes die Wirksamkeit zweier
französischen Preßbestimmuugeu aufrecht erhielt. Da der Thatbestand, bei dem
diese Gesetze zur Anwendung gelangen, für die Stimmung im Reichsland
eigentümlich ist, so mag es gestattet sein, ihn an dieser Stelle wiederzugeben. Die
Gesetze verbieten das öffentliche Ausstoßen anfrührerischer Rufe und das Tragen
von demonstrativen Abzeichen. Es fallen darunter alle jene Ausschreitungen
meist der untern Volksschichten, bei denen der Sympathie für Frankreich und
dem Haß gegen Deutschland und Preußen Ausdruck geliehen wird. Es reizt
den Ackerer, deu Fabrikarbeiter und die bei einer Grenzbevölkernng nicht selten
vorkommenden zweifelhaften Existenzen, „Wackes," wie sie im Volke genannt
werden, zumal wenn sie von dem starken oberelsässischen Weine genossen haben,
Vivs I» ?i'MLv, a ba3 til ?rü88ö! zu rufen, obwohl sie sich der Strafbarkeit
ihrer Handlungsweise bewußt sind und nicht viel mehr von der französischen
Sprache verstehen, als diesen verbotenen Ausruf. Die bei der Musterung
ausgehobenen jungen Burschen, die OonsoritK, wählen sich einen Tambour¬
major, von dessen Stab die Bänder der französischen Trikolore herabwehen, oder
die jugendlichen Teilnehmer an den Volksfesten, „Kilben," ziehen in geschlossenen
Reihen mit blauen, weißen und roten Mützen durchs Dorf, um die Altdeutschen
zu trunken, um ihre Landsleute an Frankreich zu erinnern. Zu diesen ver¬
botenen Genüssen gehören anch Gedichte und Lieder, wie die Marseillaise, ein
Klagegesang über die Abtretung des Neichslandes, das mit den Worten beginnt:


Vous n'g,in'S2 xss 1'L.lsaoo ot I», I,ori'!uno,
M nialxrö vous nous rostvrons Z?runyais.
Vous avsü M g'vrmnnisor la pi-i-iuo
Kais uotro ocour vous no I'ani-oil Mruus —

ein im Volkston gehaltenes Lied, teils französisch, teils im Dialekt gedichtet
und nach einer bekannten Melodie ans dem Repertoire der Madame Therese
zu singen:


L.110As nous ^Isavious,
I^o odassspot «laus 1a enlum,
?our olmssei' los Il'i'ussiens
Ds I'-mei'v vois ein Kiiin.
Vivo I» Vr-nos, a das I» ?r»gse
De Schwvbe mllsse zum Lttndle »us.

Endlich ist noch das sogenannte Sebastvpollied zu erwähnen, ein Gesang nach
einer alten deutschen Volksweise, womit die Elsässer im Krimkriege zum Kampfe
gegen Nußland angefeuert werden sollten; nncrlanbterweise ändert man den
Text ub, und das „Siegreich wollen wir Rußland schlagen" wird in „Siegreich
wollen wir Deutschland schlagen" verwandelt.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0107" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208044"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Gernicmisirnng in Elsaß-Lothringen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_281" prev="#ID_280" next="#ID_282"> politische Maßregeln handelt, hat die Regierung, wenn sie die Form des Gesetzes<lb/>
wählte, sich an den Reichstag gewandt. Dies geschah unter der Herrschaft<lb/>
Kaiser Friedrichs in einem mit Rückwirkung versehenen Gesetz, das gegenüber<lb/>
einer abweichenden Auffassung des Reichsgerichtes die Wirksamkeit zweier<lb/>
französischen Preßbestimmuugeu aufrecht erhielt. Da der Thatbestand, bei dem<lb/>
diese Gesetze zur Anwendung gelangen, für die Stimmung im Reichsland<lb/>
eigentümlich ist, so mag es gestattet sein, ihn an dieser Stelle wiederzugeben. Die<lb/>
Gesetze verbieten das öffentliche Ausstoßen anfrührerischer Rufe und das Tragen<lb/>
von demonstrativen Abzeichen. Es fallen darunter alle jene Ausschreitungen<lb/>
meist der untern Volksschichten, bei denen der Sympathie für Frankreich und<lb/>
dem Haß gegen Deutschland und Preußen Ausdruck geliehen wird. Es reizt<lb/>
den Ackerer, deu Fabrikarbeiter und die bei einer Grenzbevölkernng nicht selten<lb/>
vorkommenden zweifelhaften Existenzen, &#x201E;Wackes," wie sie im Volke genannt<lb/>
werden, zumal wenn sie von dem starken oberelsässischen Weine genossen haben,<lb/>
Vivs I» ?i'MLv, a ba3 til ?rü88ö! zu rufen, obwohl sie sich der Strafbarkeit<lb/>
ihrer Handlungsweise bewußt sind und nicht viel mehr von der französischen<lb/>
Sprache verstehen, als diesen verbotenen Ausruf. Die bei der Musterung<lb/>
ausgehobenen jungen Burschen, die OonsoritK, wählen sich einen Tambour¬<lb/>
major, von dessen Stab die Bänder der französischen Trikolore herabwehen, oder<lb/>
die jugendlichen Teilnehmer an den Volksfesten, &#x201E;Kilben," ziehen in geschlossenen<lb/>
Reihen mit blauen, weißen und roten Mützen durchs Dorf, um die Altdeutschen<lb/>
zu trunken, um ihre Landsleute an Frankreich zu erinnern. Zu diesen ver¬<lb/>
botenen Genüssen gehören anch Gedichte und Lieder, wie die Marseillaise, ein<lb/>
Klagegesang über die Abtretung des Neichslandes, das mit den Worten beginnt:</p><lb/>
          <quote>
            <lg xml:id="POEMID_20" type="poem">
              <l> Vous n'g,in'S2 xss 1'L.lsaoo ot I», I,ori'!uno,<lb/>
M nialxrö vous nous rostvrons Z?runyais.<lb/>
Vous avsü M g'vrmnnisor la pi-i-iuo<lb/>
Kais uotro ocour vous no I'ani-oil Mruus &#x2014;</l>
            </lg>
          </quote><lb/>
          <p xml:id="ID_282" prev="#ID_281" next="#ID_283"> ein im Volkston gehaltenes Lied, teils französisch, teils im Dialekt gedichtet<lb/>
und nach einer bekannten Melodie ans dem Repertoire der Madame Therese<lb/>
zu singen:</p><lb/>
          <quote>
            <lg xml:id="POEMID_21" type="poem">
              <l> L.110As nous ^Isavious,<lb/>
I^o odassspot «laus 1a enlum,<lb/>
?our olmssei' los Il'i'ussiens<lb/>
Ds I'-mei'v vois ein Kiiin.<lb/>
Vivo I» Vr-nos, a das I» ?r»gse<lb/>
De Schwvbe mllsse zum Lttndle »us.</l>
            </lg>
          </quote><lb/>
          <p xml:id="ID_283" prev="#ID_282"> Endlich ist noch das sogenannte Sebastvpollied zu erwähnen, ein Gesang nach<lb/>
einer alten deutschen Volksweise, womit die Elsässer im Krimkriege zum Kampfe<lb/>
gegen Nußland angefeuert werden sollten; nncrlanbterweise ändert man den<lb/>
Text ub, und das &#x201E;Siegreich wollen wir Rußland schlagen" wird in &#x201E;Siegreich<lb/>
wollen wir Deutschland schlagen" verwandelt.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0107] Die Gernicmisirnng in Elsaß-Lothringen politische Maßregeln handelt, hat die Regierung, wenn sie die Form des Gesetzes wählte, sich an den Reichstag gewandt. Dies geschah unter der Herrschaft Kaiser Friedrichs in einem mit Rückwirkung versehenen Gesetz, das gegenüber einer abweichenden Auffassung des Reichsgerichtes die Wirksamkeit zweier französischen Preßbestimmuugeu aufrecht erhielt. Da der Thatbestand, bei dem diese Gesetze zur Anwendung gelangen, für die Stimmung im Reichsland eigentümlich ist, so mag es gestattet sein, ihn an dieser Stelle wiederzugeben. Die Gesetze verbieten das öffentliche Ausstoßen anfrührerischer Rufe und das Tragen von demonstrativen Abzeichen. Es fallen darunter alle jene Ausschreitungen meist der untern Volksschichten, bei denen der Sympathie für Frankreich und dem Haß gegen Deutschland und Preußen Ausdruck geliehen wird. Es reizt den Ackerer, deu Fabrikarbeiter und die bei einer Grenzbevölkernng nicht selten vorkommenden zweifelhaften Existenzen, „Wackes," wie sie im Volke genannt werden, zumal wenn sie von dem starken oberelsässischen Weine genossen haben, Vivs I» ?i'MLv, a ba3 til ?rü88ö! zu rufen, obwohl sie sich der Strafbarkeit ihrer Handlungsweise bewußt sind und nicht viel mehr von der französischen Sprache verstehen, als diesen verbotenen Ausruf. Die bei der Musterung ausgehobenen jungen Burschen, die OonsoritK, wählen sich einen Tambour¬ major, von dessen Stab die Bänder der französischen Trikolore herabwehen, oder die jugendlichen Teilnehmer an den Volksfesten, „Kilben," ziehen in geschlossenen Reihen mit blauen, weißen und roten Mützen durchs Dorf, um die Altdeutschen zu trunken, um ihre Landsleute an Frankreich zu erinnern. Zu diesen ver¬ botenen Genüssen gehören anch Gedichte und Lieder, wie die Marseillaise, ein Klagegesang über die Abtretung des Neichslandes, das mit den Worten beginnt: Vous n'g,in'S2 xss 1'L.lsaoo ot I», I,ori'!uno, M nialxrö vous nous rostvrons Z?runyais. Vous avsü M g'vrmnnisor la pi-i-iuo Kais uotro ocour vous no I'ani-oil Mruus — ein im Volkston gehaltenes Lied, teils französisch, teils im Dialekt gedichtet und nach einer bekannten Melodie ans dem Repertoire der Madame Therese zu singen: L.110As nous ^Isavious, I^o odassspot «laus 1a enlum, ?our olmssei' los Il'i'ussiens Ds I'-mei'v vois ein Kiiin. Vivo I» Vr-nos, a das I» ?r»gse De Schwvbe mllsse zum Lttndle »us. Endlich ist noch das sogenannte Sebastvpollied zu erwähnen, ein Gesang nach einer alten deutschen Volksweise, womit die Elsässer im Krimkriege zum Kampfe gegen Nußland angefeuert werden sollten; nncrlanbterweise ändert man den Text ub, und das „Siegreich wollen wir Rußland schlagen" wird in „Siegreich wollen wir Deutschland schlagen" verwandelt.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/107
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/107>, abgerufen am 28.09.2024.