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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Litteratur

Walther von der Voqelwcidc. Ein Dichterlebeil von Anton E, Schönbach. Dresden,
L, Ehlermann, 1890

Eine Lebensgeschichte Walthers von der Bogelweide, die liber die gelehrten
Kreise der Geriuanisten hinailsgedruugen wäre, ist trotz Uhland, Lachnlann, Scherer,
Wilmanns und wie alle die um die Wnltherforschulig verdieuteic Gelehrten heißen,
noch nicht geschrieben worden; mit andern Worten: Walther von der Vogelweide
gehört zu den vielen mehr genannten als bekannten Geistesgrößen, die in der Schule
gelehrt, dann aber kaum mehr gelesen werde". Es ist Thatsache, daß trotz all der
großartigen Arbeit der Germanistik der heutige Gebildete nur sehr mittelbar von
ihren Ergebnissen berührt wird. Nur Gustav Freytag hat mit seinen "Bildern
aus der deutscheu Vergangenheit" wirklich einen unmittelbare" Verkehr zwischen der
germanistischen Wissenschaft und den, Publikum hergestellt. Offenbar war in diese
Lücke einzutreten der Zweck der obengenannten Schrift des trefflichen Grazer Ger¬
manisten Schönbach, der sich anch in andern Schriften als ein liber die engen
Schulgrenzen hiuausblickeuder Gelehrter bekundet hat. Und die vielen, die gerade
in der letzten Zeit, wo das Denkmal Walthers in Bozen enthüllt worden ist, so
viel von der Schönheit seiner Gedichte gehört und gelesen haben, ohne sich in
zuverlässiger Weise liber ihn unterrichten zu Wurm, werden Schönbnch dankbar
sein für sein ebenso gediegnes als geistvolles Büchlein.

Die Aufgabe, Charakter und Wert eines lyrischen Dichters darzustellen, ist
wohl eilte der schwierigsten sür den Literarhistoriker, umso schwieriger heutzutage,
wo der Sinn für Lyrik ganz und gar eingeschlafen zu sein scheint. In einem,
dünnen Bändchen guter lyrischer Gedichte liegt mehr Geist, Gemüt, wahres Er¬
lebnis, Reichtum und Mannichfaltigkeit alt Zuständen und Stimmungen beisammen,
als in einer Bibliothek von Romanen, die alle über einen Leisten geschlagen sind.
Dem kühlen Leser den Wert eines lyrischen Gedichtes auseinanderzusetzen, ist meist
viel schwieriger, als ihn für eine hübsche epische Erfindung zu erwärmen. Es
bedarf da des ästhetischen Anschauungsunterrichtes, denn das Gerede nützt gar
nichts, wenn mau nicht die Sache klar und durchsichtig vor Augen hat.

Schönbach war sich gewiß dieser obersten Schwierigkeit seiner Aufgabe bewußt,
und wie er sie lehrreich und fesselnd gelöst hat, verdient die wärmste Anerkennung.
Natürlich stellt er im Geiste der modernen Geschichtsbetrachtimgen Walther mitten
in seiner Zeit dar. Die Charakteristik von Minnesangs Frühling, von Reinmar dem
Alten soll uns einführen in den Geist und Zustand der Lyrik, die Walther vor¬
fand, als er schaffend in die Welt und Dichtung eintrat. Wir sehen Walthers
Selbständigkeit wachsen; in der Mitte des Buches stellt ihn Schönbnch als Gast
Hermanns von Thüringen auf der Wartburg im Verkehr mit dem nach seinen"
Urteil größten Dichter des deutschen Mittelnlters, Wolfram von Eschenbach, dar,
von dem Walther tiefgehende Anregung empfing, dann folgt die Charakteristik seiner
Wandlung vom klassisch-höfischen Ton zum volkstümlicheren, worin er dann von
Reinhard von Nenenthnl realistisch übertrumpft wurde. Dies alles geschieht durch
fortlnnfende Anführung und Zergliederung der Gedichte Walthers. Zudem wir
-- soweit es möglich ist -- Zeit und Gelegenheit des Entstehens der Lieder kennen
lernen, lesen wir sie (freilich ins Hochdeutsche übertragen), mit wirklichem Verständnis.
Das will illis als die wertvollste Eigentümlichkeit von Schönbachs Buch erscheinen.

Seine Auffassung Walthers weicht vielfach von der herkömmlichen ab. Gleich
im Beginn erklärt er, daß nach all den vorhandnen Urkunden Tirol wohl am
wenigsten Anspruch auf die Heimat Walthers habe. Deswegen, will er aber. den
Tirolern keineswegs ihre Freude verderben, er meint auch, daß das Walther-


Grenzboten II 1890 79
Litteratur

Walther von der Voqelwcidc. Ein Dichterlebeil von Anton E, Schönbach. Dresden,
L, Ehlermann, 1890

Eine Lebensgeschichte Walthers von der Bogelweide, die liber die gelehrten
Kreise der Geriuanisten hinailsgedruugen wäre, ist trotz Uhland, Lachnlann, Scherer,
Wilmanns und wie alle die um die Wnltherforschulig verdieuteic Gelehrten heißen,
noch nicht geschrieben worden; mit andern Worten: Walther von der Vogelweide
gehört zu den vielen mehr genannten als bekannten Geistesgrößen, die in der Schule
gelehrt, dann aber kaum mehr gelesen werde». Es ist Thatsache, daß trotz all der
großartigen Arbeit der Germanistik der heutige Gebildete nur sehr mittelbar von
ihren Ergebnissen berührt wird. Nur Gustav Freytag hat mit seinen „Bildern
aus der deutscheu Vergangenheit" wirklich einen unmittelbare« Verkehr zwischen der
germanistischen Wissenschaft und den, Publikum hergestellt. Offenbar war in diese
Lücke einzutreten der Zweck der obengenannten Schrift des trefflichen Grazer Ger¬
manisten Schönbach, der sich anch in andern Schriften als ein liber die engen
Schulgrenzen hiuausblickeuder Gelehrter bekundet hat. Und die vielen, die gerade
in der letzten Zeit, wo das Denkmal Walthers in Bozen enthüllt worden ist, so
viel von der Schönheit seiner Gedichte gehört und gelesen haben, ohne sich in
zuverlässiger Weise liber ihn unterrichten zu Wurm, werden Schönbnch dankbar
sein für sein ebenso gediegnes als geistvolles Büchlein.

Die Aufgabe, Charakter und Wert eines lyrischen Dichters darzustellen, ist
wohl eilte der schwierigsten sür den Literarhistoriker, umso schwieriger heutzutage,
wo der Sinn für Lyrik ganz und gar eingeschlafen zu sein scheint. In einem,
dünnen Bändchen guter lyrischer Gedichte liegt mehr Geist, Gemüt, wahres Er¬
lebnis, Reichtum und Mannichfaltigkeit alt Zuständen und Stimmungen beisammen,
als in einer Bibliothek von Romanen, die alle über einen Leisten geschlagen sind.
Dem kühlen Leser den Wert eines lyrischen Gedichtes auseinanderzusetzen, ist meist
viel schwieriger, als ihn für eine hübsche epische Erfindung zu erwärmen. Es
bedarf da des ästhetischen Anschauungsunterrichtes, denn das Gerede nützt gar
nichts, wenn mau nicht die Sache klar und durchsichtig vor Augen hat.

Schönbach war sich gewiß dieser obersten Schwierigkeit seiner Aufgabe bewußt,
und wie er sie lehrreich und fesselnd gelöst hat, verdient die wärmste Anerkennung.
Natürlich stellt er im Geiste der modernen Geschichtsbetrachtimgen Walther mitten
in seiner Zeit dar. Die Charakteristik von Minnesangs Frühling, von Reinmar dem
Alten soll uns einführen in den Geist und Zustand der Lyrik, die Walther vor¬
fand, als er schaffend in die Welt und Dichtung eintrat. Wir sehen Walthers
Selbständigkeit wachsen; in der Mitte des Buches stellt ihn Schönbnch als Gast
Hermanns von Thüringen auf der Wartburg im Verkehr mit dem nach seinen»
Urteil größten Dichter des deutschen Mittelnlters, Wolfram von Eschenbach, dar,
von dem Walther tiefgehende Anregung empfing, dann folgt die Charakteristik seiner
Wandlung vom klassisch-höfischen Ton zum volkstümlicheren, worin er dann von
Reinhard von Nenenthnl realistisch übertrumpft wurde. Dies alles geschieht durch
fortlnnfende Anführung und Zergliederung der Gedichte Walthers. Zudem wir
— soweit es möglich ist — Zeit und Gelegenheit des Entstehens der Lieder kennen
lernen, lesen wir sie (freilich ins Hochdeutsche übertragen), mit wirklichem Verständnis.
Das will illis als die wertvollste Eigentümlichkeit von Schönbachs Buch erscheinen.

Seine Auffassung Walthers weicht vielfach von der herkömmlichen ab. Gleich
im Beginn erklärt er, daß nach all den vorhandnen Urkunden Tirol wohl am
wenigsten Anspruch auf die Heimat Walthers habe. Deswegen, will er aber. den
Tirolern keineswegs ihre Freude verderben, er meint auch, daß das Walther-


Grenzboten II 1890 79
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[0633] Litteratur Walther von der Voqelwcidc. Ein Dichterlebeil von Anton E, Schönbach. Dresden, L, Ehlermann, 1890 Eine Lebensgeschichte Walthers von der Bogelweide, die liber die gelehrten Kreise der Geriuanisten hinailsgedruugen wäre, ist trotz Uhland, Lachnlann, Scherer, Wilmanns und wie alle die um die Wnltherforschulig verdieuteic Gelehrten heißen, noch nicht geschrieben worden; mit andern Worten: Walther von der Vogelweide gehört zu den vielen mehr genannten als bekannten Geistesgrößen, die in der Schule gelehrt, dann aber kaum mehr gelesen werde». Es ist Thatsache, daß trotz all der großartigen Arbeit der Germanistik der heutige Gebildete nur sehr mittelbar von ihren Ergebnissen berührt wird. Nur Gustav Freytag hat mit seinen „Bildern aus der deutscheu Vergangenheit" wirklich einen unmittelbare« Verkehr zwischen der germanistischen Wissenschaft und den, Publikum hergestellt. Offenbar war in diese Lücke einzutreten der Zweck der obengenannten Schrift des trefflichen Grazer Ger¬ manisten Schönbach, der sich anch in andern Schriften als ein liber die engen Schulgrenzen hiuausblickeuder Gelehrter bekundet hat. Und die vielen, die gerade in der letzten Zeit, wo das Denkmal Walthers in Bozen enthüllt worden ist, so viel von der Schönheit seiner Gedichte gehört und gelesen haben, ohne sich in zuverlässiger Weise liber ihn unterrichten zu Wurm, werden Schönbnch dankbar sein für sein ebenso gediegnes als geistvolles Büchlein. Die Aufgabe, Charakter und Wert eines lyrischen Dichters darzustellen, ist wohl eilte der schwierigsten sür den Literarhistoriker, umso schwieriger heutzutage, wo der Sinn für Lyrik ganz und gar eingeschlafen zu sein scheint. In einem, dünnen Bändchen guter lyrischer Gedichte liegt mehr Geist, Gemüt, wahres Er¬ lebnis, Reichtum und Mannichfaltigkeit alt Zuständen und Stimmungen beisammen, als in einer Bibliothek von Romanen, die alle über einen Leisten geschlagen sind. Dem kühlen Leser den Wert eines lyrischen Gedichtes auseinanderzusetzen, ist meist viel schwieriger, als ihn für eine hübsche epische Erfindung zu erwärmen. Es bedarf da des ästhetischen Anschauungsunterrichtes, denn das Gerede nützt gar nichts, wenn mau nicht die Sache klar und durchsichtig vor Augen hat. Schönbach war sich gewiß dieser obersten Schwierigkeit seiner Aufgabe bewußt, und wie er sie lehrreich und fesselnd gelöst hat, verdient die wärmste Anerkennung. Natürlich stellt er im Geiste der modernen Geschichtsbetrachtimgen Walther mitten in seiner Zeit dar. Die Charakteristik von Minnesangs Frühling, von Reinmar dem Alten soll uns einführen in den Geist und Zustand der Lyrik, die Walther vor¬ fand, als er schaffend in die Welt und Dichtung eintrat. Wir sehen Walthers Selbständigkeit wachsen; in der Mitte des Buches stellt ihn Schönbnch als Gast Hermanns von Thüringen auf der Wartburg im Verkehr mit dem nach seinen» Urteil größten Dichter des deutschen Mittelnlters, Wolfram von Eschenbach, dar, von dem Walther tiefgehende Anregung empfing, dann folgt die Charakteristik seiner Wandlung vom klassisch-höfischen Ton zum volkstümlicheren, worin er dann von Reinhard von Nenenthnl realistisch übertrumpft wurde. Dies alles geschieht durch fortlnnfende Anführung und Zergliederung der Gedichte Walthers. Zudem wir — soweit es möglich ist — Zeit und Gelegenheit des Entstehens der Lieder kennen lernen, lesen wir sie (freilich ins Hochdeutsche übertragen), mit wirklichem Verständnis. Das will illis als die wertvollste Eigentümlichkeit von Schönbachs Buch erscheinen. Seine Auffassung Walthers weicht vielfach von der herkömmlichen ab. Gleich im Beginn erklärt er, daß nach all den vorhandnen Urkunden Tirol wohl am wenigsten Anspruch auf die Heimat Walthers habe. Deswegen, will er aber. den Tirolern keineswegs ihre Freude verderben, er meint auch, daß das Walther- Grenzboten II 1890 79

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/633>, abgerufen am 27.12.2024.