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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Frage

nach allen Seiten hin zu würdigen hier nicht der Ort ist. Genug, das mittel¬
alterliche Bürgertum hatte diesen Begriff in Fleisch und Blut aufgenommen;
das Handwerk und der Handel wurden als ein Amt im Dienste des Gemein¬
wesens geübt und die Zunft nicht selten Andacht oder Ampt genannt. Der
neu aufzunehmende Bürger mußte geloben, sein Amt zu der Stadt Nutzen
auszuüben. In den Jnuungsstatuten wird das nicht selten ausgesprochen.
Ani einen Gegenstand zu erwähnen, für den wir Deutschen uns bis auf den
heutigen Tag das feinste Verständnis bewahrt haben: in den Weinordnnngen
wird den Schenkwirten und Wein Händlern gesagt, sie hätten dafür zu sorgen,
daß sowohl der Bürger wie der Handwerker (die Handwerker waren anfänglich
noch nicht Bürger) jederzeit sein Glas guten und reinen Weines finde. Daß
diese Ämter nicht immer treu verwaltet wurden, versteht sich von selbst,
allein die Untreue wurde als solche empfunden und nnter Umständen streng
bestraft. Der Verdienst des Gewerbtreibenden stellte demnach seine Besoldung
für Verwaltung eiues Gemeindeamtes dar. Mit dem äußern Lohne verband
sich der innere Lohn der Befriedigung über das Geleistete und der Standes¬
ehre. Die Befriedigung war natürlich am größten in den Handwerken, die
eine gewisse Kunstfertigkeit erforderten, und sehr viele Handwerker waren ja
wirkliche Künstler.

Das kennt mau heute kaum mehr. Fast niemand arbeitet mehr, um einen
Beruf zu erfüllen (thuts einer, so darf er es nicht merken lassen, sonst wird
er ausgelacht), sondern um Geld zu verdienen. Anhänglichkeit an die Vater¬
stadt, beinahe auch an das Vaterland, an eine bestimmte Beschäftigung, liebe¬
volles Versenken in eine Arbeit gilt als Thorheit. Der Gewerbtreibeudc muß
vor allem Geschäftsmann sein, und der Geschäftsmann hat lediglich zu fragen:
wo, wie, womit verdiene ich in kürzester Frist das meiste Geld? Auf den
jederzeit "rentabelsten" Gegenstand muß er sich wie ein Habicht stürzen; und
es muß ihm völlig gleichgiltig sein, ob er Damenhüte oder Schuhwichse,
Nenaissanceschränke oder Streichhölzer, Knnstdünger oder Futter für ueuigleits-
lüfterue Zeitungsleser "produzirt." Zögere er auch nur einen Augenblick, eine
ihm liebgewordene Arbeit hinzuwerfen, wenn ihm bei einer andern ein paar
Thaler mehr Profit winken, oder Schund zu liefern, wenn Schund "gefragt
ist," so gilt er nicht allein für einen Narren oder wenigstens einen unprak¬
tischen Menschen, sondern unter Umständen auch für einen gewissenlosen Familien¬
vater. Schäffle ist der Ansicht, daß die Gewerbe in vollkommnerer Weise als
früher organisirt werden, und die Gewerbtreibenden nicht mehr auf Geschäfts¬
oder Spekulationsgewinn, sondern auf eine Art Besoldung angewiesen werden
sollten; und er fügt hinzu: "Aus ist es nicht begreiflich, daß die Schichten,
welche schon in der Stellung wissenschaftlicher, kirchlicher, pädagogischer, mili¬
tärischer und staatlicher Berufsarbeit stehen, durch diese Aussicht bis zum
Heulen und Zähneklappern sich aufrege" lassen." (Bau und Leben des sozialen


Grenzboten II 1890 76
Die soziale Frage

nach allen Seiten hin zu würdigen hier nicht der Ort ist. Genug, das mittel¬
alterliche Bürgertum hatte diesen Begriff in Fleisch und Blut aufgenommen;
das Handwerk und der Handel wurden als ein Amt im Dienste des Gemein¬
wesens geübt und die Zunft nicht selten Andacht oder Ampt genannt. Der
neu aufzunehmende Bürger mußte geloben, sein Amt zu der Stadt Nutzen
auszuüben. In den Jnuungsstatuten wird das nicht selten ausgesprochen.
Ani einen Gegenstand zu erwähnen, für den wir Deutschen uns bis auf den
heutigen Tag das feinste Verständnis bewahrt haben: in den Weinordnnngen
wird den Schenkwirten und Wein Händlern gesagt, sie hätten dafür zu sorgen,
daß sowohl der Bürger wie der Handwerker (die Handwerker waren anfänglich
noch nicht Bürger) jederzeit sein Glas guten und reinen Weines finde. Daß
diese Ämter nicht immer treu verwaltet wurden, versteht sich von selbst,
allein die Untreue wurde als solche empfunden und nnter Umständen streng
bestraft. Der Verdienst des Gewerbtreibenden stellte demnach seine Besoldung
für Verwaltung eiues Gemeindeamtes dar. Mit dem äußern Lohne verband
sich der innere Lohn der Befriedigung über das Geleistete und der Standes¬
ehre. Die Befriedigung war natürlich am größten in den Handwerken, die
eine gewisse Kunstfertigkeit erforderten, und sehr viele Handwerker waren ja
wirkliche Künstler.

Das kennt mau heute kaum mehr. Fast niemand arbeitet mehr, um einen
Beruf zu erfüllen (thuts einer, so darf er es nicht merken lassen, sonst wird
er ausgelacht), sondern um Geld zu verdienen. Anhänglichkeit an die Vater¬
stadt, beinahe auch an das Vaterland, an eine bestimmte Beschäftigung, liebe¬
volles Versenken in eine Arbeit gilt als Thorheit. Der Gewerbtreibeudc muß
vor allem Geschäftsmann sein, und der Geschäftsmann hat lediglich zu fragen:
wo, wie, womit verdiene ich in kürzester Frist das meiste Geld? Auf den
jederzeit „rentabelsten" Gegenstand muß er sich wie ein Habicht stürzen; und
es muß ihm völlig gleichgiltig sein, ob er Damenhüte oder Schuhwichse,
Nenaissanceschränke oder Streichhölzer, Knnstdünger oder Futter für ueuigleits-
lüfterue Zeitungsleser „produzirt." Zögere er auch nur einen Augenblick, eine
ihm liebgewordene Arbeit hinzuwerfen, wenn ihm bei einer andern ein paar
Thaler mehr Profit winken, oder Schund zu liefern, wenn Schund „gefragt
ist," so gilt er nicht allein für einen Narren oder wenigstens einen unprak¬
tischen Menschen, sondern unter Umständen auch für einen gewissenlosen Familien¬
vater. Schäffle ist der Ansicht, daß die Gewerbe in vollkommnerer Weise als
früher organisirt werden, und die Gewerbtreibenden nicht mehr auf Geschäfts¬
oder Spekulationsgewinn, sondern auf eine Art Besoldung angewiesen werden
sollten; und er fügt hinzu: „Aus ist es nicht begreiflich, daß die Schichten,
welche schon in der Stellung wissenschaftlicher, kirchlicher, pädagogischer, mili¬
tärischer und staatlicher Berufsarbeit stehen, durch diese Aussicht bis zum
Heulen und Zähneklappern sich aufrege» lassen." (Bau und Leben des sozialen


Grenzboten II 1890 76
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[0609] Die soziale Frage nach allen Seiten hin zu würdigen hier nicht der Ort ist. Genug, das mittel¬ alterliche Bürgertum hatte diesen Begriff in Fleisch und Blut aufgenommen; das Handwerk und der Handel wurden als ein Amt im Dienste des Gemein¬ wesens geübt und die Zunft nicht selten Andacht oder Ampt genannt. Der neu aufzunehmende Bürger mußte geloben, sein Amt zu der Stadt Nutzen auszuüben. In den Jnuungsstatuten wird das nicht selten ausgesprochen. Ani einen Gegenstand zu erwähnen, für den wir Deutschen uns bis auf den heutigen Tag das feinste Verständnis bewahrt haben: in den Weinordnnngen wird den Schenkwirten und Wein Händlern gesagt, sie hätten dafür zu sorgen, daß sowohl der Bürger wie der Handwerker (die Handwerker waren anfänglich noch nicht Bürger) jederzeit sein Glas guten und reinen Weines finde. Daß diese Ämter nicht immer treu verwaltet wurden, versteht sich von selbst, allein die Untreue wurde als solche empfunden und nnter Umständen streng bestraft. Der Verdienst des Gewerbtreibenden stellte demnach seine Besoldung für Verwaltung eiues Gemeindeamtes dar. Mit dem äußern Lohne verband sich der innere Lohn der Befriedigung über das Geleistete und der Standes¬ ehre. Die Befriedigung war natürlich am größten in den Handwerken, die eine gewisse Kunstfertigkeit erforderten, und sehr viele Handwerker waren ja wirkliche Künstler. Das kennt mau heute kaum mehr. Fast niemand arbeitet mehr, um einen Beruf zu erfüllen (thuts einer, so darf er es nicht merken lassen, sonst wird er ausgelacht), sondern um Geld zu verdienen. Anhänglichkeit an die Vater¬ stadt, beinahe auch an das Vaterland, an eine bestimmte Beschäftigung, liebe¬ volles Versenken in eine Arbeit gilt als Thorheit. Der Gewerbtreibeudc muß vor allem Geschäftsmann sein, und der Geschäftsmann hat lediglich zu fragen: wo, wie, womit verdiene ich in kürzester Frist das meiste Geld? Auf den jederzeit „rentabelsten" Gegenstand muß er sich wie ein Habicht stürzen; und es muß ihm völlig gleichgiltig sein, ob er Damenhüte oder Schuhwichse, Nenaissanceschränke oder Streichhölzer, Knnstdünger oder Futter für ueuigleits- lüfterue Zeitungsleser „produzirt." Zögere er auch nur einen Augenblick, eine ihm liebgewordene Arbeit hinzuwerfen, wenn ihm bei einer andern ein paar Thaler mehr Profit winken, oder Schund zu liefern, wenn Schund „gefragt ist," so gilt er nicht allein für einen Narren oder wenigstens einen unprak¬ tischen Menschen, sondern unter Umständen auch für einen gewissenlosen Familien¬ vater. Schäffle ist der Ansicht, daß die Gewerbe in vollkommnerer Weise als früher organisirt werden, und die Gewerbtreibenden nicht mehr auf Geschäfts¬ oder Spekulationsgewinn, sondern auf eine Art Besoldung angewiesen werden sollten; und er fügt hinzu: „Aus ist es nicht begreiflich, daß die Schichten, welche schon in der Stellung wissenschaftlicher, kirchlicher, pädagogischer, mili¬ tärischer und staatlicher Berufsarbeit stehen, durch diese Aussicht bis zum Heulen und Zähneklappern sich aufrege» lassen." (Bau und Leben des sozialen Grenzboten II 1890 76

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/609>, abgerufen am 22.07.2024.