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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Frage

Demnach hat die Berichtigung dieses zweiten Begriffs, der menschlichen
Arbeit, für uns Deutsche bei weitem uicht die Wichtigkeit wie die des ersten.
Es handelt sich weniger darum, den falschen Begriff zu überwinden und aus¬
zutreibe", als thu abzuwehren, so oft er einzudringen versucht. Und das ver¬
sucht er allerdings auch heute noch, wie u. a. das in den letzten Berichten
der Fabrikinspektoren bezeugte Überhandnehmen übermäßiger Beschäftigung von
Frauen beweist. Wir erfahren da, daß viele Frauen in den Fabriken zwölf
bis sechzehn Stunden täglich beschäftigt werden und zuweilen auch noch Über¬
stunden leisten müssen. Wo das geschieht, da wird die Frau uicht als Person,
sondern nur als Arbeitskraft behandelt. Denn erstens ist es erwiesen, daß der
weibliche Körper eine so übermäßige Austreugung nicht lange aufhält, sondern
dadurch frühzeitigem Siechtum verfällt. Zweitens sind viele dieser Arbeiterinnen
verheiratet. Da aber von einem Familienleben dort nicht mehr die Rede sein
kann, wo die Fran zwölf bis sechzehn Stunden in der Fabrik steckt, wo es
keine Haushaltung und keine leibliche Besorgung der Kinder, geschweige denn
Kindererziehttng mehr giebt, so wird die Frau, wenn sie nicht am Ende gar
auch noch die Nacht über in der Fabrik bleibt, zur Konkubine herabgewürdigt,
und weder die standesamtliche Beglaubigung noch der kirchliche Segen vermag
den solchergestalt vernichteten Inhalt der Ehe zu ersetzen. Die Sozialdemo-
kraten ziehen daher nur die unvermeidliche Folgerung ans diesem Zustande,
wenn sie die zur leeren Formalität herabgesunkenen Rechtsformen vollends
beseitigt wissen wollen. Wo man Verhältnisse duldet, die der Arbeiterfrau
uicht mehr gestatten, Hauswirtin und Mutter zu sein, da ergiebt man sich dem
falschen englischen Begriff der Arbeit und des Arbeiters. Ähnliches kommt
auch schon in der Landwirtschaft vor. Sonst ist das Verhältnis des echten
dentschen Gutsherrn zu seinen Arbeitern immer würdig und menschlich gewesen
anch in der Zeit, wo diese Arbeiter noch seine Hörigen waren. Er fühlte sich
verpflichtet, in väterlicher Weise für sie zu sorgen und sich um ihr Schicksal
zu kümmern. Er würde keine Wöchnerinnen beschäftigt, die Kinder nicht der
Schule entzogen und die Alten und Gebrechlichen nicht haben betteln gehen
lassen. Seitdem aber die Industrie auch in die Landwirtschaft eingedrungen
ist, hat sich vieles geändert. Manche industriellen Großgrundbesitzer -- oder
ihre Generaldirektoren -- befolgten vor Erlaß des Gesetzes über die Alters¬
versicherung die Praxis, Arbeitern und Unterbeamten, die längere Zeit bei
ihnen im Dienst gestanden hatten, unter irgend einem Vorwande zu kündigen,
um den Verpflichtungen zu entgehen, die ihnen aus dem Gesetz über den Unter-
sttttznngswvhnsitz oder auch uur aus Anstandsrücksichten erwachsen konnten.
Früher wurde überall den Tagelöhnerfranen eine zweistündige Mittagspause
bewilligt, damit sie ihrer Familie ein bescheidenes Mittagsmahl bereiten könnten.
Heikle gönnt man ihnen auf vielen Gütern nur noch eine Stunde; damit fällt
das Familienmahl, ein wesentliches Stück Familienleben, hinweg. Der heutige


Die soziale Frage

Demnach hat die Berichtigung dieses zweiten Begriffs, der menschlichen
Arbeit, für uns Deutsche bei weitem uicht die Wichtigkeit wie die des ersten.
Es handelt sich weniger darum, den falschen Begriff zu überwinden und aus¬
zutreibe», als thu abzuwehren, so oft er einzudringen versucht. Und das ver¬
sucht er allerdings auch heute noch, wie u. a. das in den letzten Berichten
der Fabrikinspektoren bezeugte Überhandnehmen übermäßiger Beschäftigung von
Frauen beweist. Wir erfahren da, daß viele Frauen in den Fabriken zwölf
bis sechzehn Stunden täglich beschäftigt werden und zuweilen auch noch Über¬
stunden leisten müssen. Wo das geschieht, da wird die Frau uicht als Person,
sondern nur als Arbeitskraft behandelt. Denn erstens ist es erwiesen, daß der
weibliche Körper eine so übermäßige Austreugung nicht lange aufhält, sondern
dadurch frühzeitigem Siechtum verfällt. Zweitens sind viele dieser Arbeiterinnen
verheiratet. Da aber von einem Familienleben dort nicht mehr die Rede sein
kann, wo die Fran zwölf bis sechzehn Stunden in der Fabrik steckt, wo es
keine Haushaltung und keine leibliche Besorgung der Kinder, geschweige denn
Kindererziehttng mehr giebt, so wird die Frau, wenn sie nicht am Ende gar
auch noch die Nacht über in der Fabrik bleibt, zur Konkubine herabgewürdigt,
und weder die standesamtliche Beglaubigung noch der kirchliche Segen vermag
den solchergestalt vernichteten Inhalt der Ehe zu ersetzen. Die Sozialdemo-
kraten ziehen daher nur die unvermeidliche Folgerung ans diesem Zustande,
wenn sie die zur leeren Formalität herabgesunkenen Rechtsformen vollends
beseitigt wissen wollen. Wo man Verhältnisse duldet, die der Arbeiterfrau
uicht mehr gestatten, Hauswirtin und Mutter zu sein, da ergiebt man sich dem
falschen englischen Begriff der Arbeit und des Arbeiters. Ähnliches kommt
auch schon in der Landwirtschaft vor. Sonst ist das Verhältnis des echten
dentschen Gutsherrn zu seinen Arbeitern immer würdig und menschlich gewesen
anch in der Zeit, wo diese Arbeiter noch seine Hörigen waren. Er fühlte sich
verpflichtet, in väterlicher Weise für sie zu sorgen und sich um ihr Schicksal
zu kümmern. Er würde keine Wöchnerinnen beschäftigt, die Kinder nicht der
Schule entzogen und die Alten und Gebrechlichen nicht haben betteln gehen
lassen. Seitdem aber die Industrie auch in die Landwirtschaft eingedrungen
ist, hat sich vieles geändert. Manche industriellen Großgrundbesitzer — oder
ihre Generaldirektoren — befolgten vor Erlaß des Gesetzes über die Alters¬
versicherung die Praxis, Arbeitern und Unterbeamten, die längere Zeit bei
ihnen im Dienst gestanden hatten, unter irgend einem Vorwande zu kündigen,
um den Verpflichtungen zu entgehen, die ihnen aus dem Gesetz über den Unter-
sttttznngswvhnsitz oder auch uur aus Anstandsrücksichten erwachsen konnten.
Früher wurde überall den Tagelöhnerfranen eine zweistündige Mittagspause
bewilligt, damit sie ihrer Familie ein bescheidenes Mittagsmahl bereiten könnten.
Heikle gönnt man ihnen auf vielen Gütern nur noch eine Stunde; damit fällt
das Familienmahl, ein wesentliches Stück Familienleben, hinweg. Der heutige


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[0606] Die soziale Frage Demnach hat die Berichtigung dieses zweiten Begriffs, der menschlichen Arbeit, für uns Deutsche bei weitem uicht die Wichtigkeit wie die des ersten. Es handelt sich weniger darum, den falschen Begriff zu überwinden und aus¬ zutreibe», als thu abzuwehren, so oft er einzudringen versucht. Und das ver¬ sucht er allerdings auch heute noch, wie u. a. das in den letzten Berichten der Fabrikinspektoren bezeugte Überhandnehmen übermäßiger Beschäftigung von Frauen beweist. Wir erfahren da, daß viele Frauen in den Fabriken zwölf bis sechzehn Stunden täglich beschäftigt werden und zuweilen auch noch Über¬ stunden leisten müssen. Wo das geschieht, da wird die Frau uicht als Person, sondern nur als Arbeitskraft behandelt. Denn erstens ist es erwiesen, daß der weibliche Körper eine so übermäßige Austreugung nicht lange aufhält, sondern dadurch frühzeitigem Siechtum verfällt. Zweitens sind viele dieser Arbeiterinnen verheiratet. Da aber von einem Familienleben dort nicht mehr die Rede sein kann, wo die Fran zwölf bis sechzehn Stunden in der Fabrik steckt, wo es keine Haushaltung und keine leibliche Besorgung der Kinder, geschweige denn Kindererziehttng mehr giebt, so wird die Frau, wenn sie nicht am Ende gar auch noch die Nacht über in der Fabrik bleibt, zur Konkubine herabgewürdigt, und weder die standesamtliche Beglaubigung noch der kirchliche Segen vermag den solchergestalt vernichteten Inhalt der Ehe zu ersetzen. Die Sozialdemo- kraten ziehen daher nur die unvermeidliche Folgerung ans diesem Zustande, wenn sie die zur leeren Formalität herabgesunkenen Rechtsformen vollends beseitigt wissen wollen. Wo man Verhältnisse duldet, die der Arbeiterfrau uicht mehr gestatten, Hauswirtin und Mutter zu sein, da ergiebt man sich dem falschen englischen Begriff der Arbeit und des Arbeiters. Ähnliches kommt auch schon in der Landwirtschaft vor. Sonst ist das Verhältnis des echten dentschen Gutsherrn zu seinen Arbeitern immer würdig und menschlich gewesen anch in der Zeit, wo diese Arbeiter noch seine Hörigen waren. Er fühlte sich verpflichtet, in väterlicher Weise für sie zu sorgen und sich um ihr Schicksal zu kümmern. Er würde keine Wöchnerinnen beschäftigt, die Kinder nicht der Schule entzogen und die Alten und Gebrechlichen nicht haben betteln gehen lassen. Seitdem aber die Industrie auch in die Landwirtschaft eingedrungen ist, hat sich vieles geändert. Manche industriellen Großgrundbesitzer — oder ihre Generaldirektoren — befolgten vor Erlaß des Gesetzes über die Alters¬ versicherung die Praxis, Arbeitern und Unterbeamten, die längere Zeit bei ihnen im Dienst gestanden hatten, unter irgend einem Vorwande zu kündigen, um den Verpflichtungen zu entgehen, die ihnen aus dem Gesetz über den Unter- sttttznngswvhnsitz oder auch uur aus Anstandsrücksichten erwachsen konnten. Früher wurde überall den Tagelöhnerfranen eine zweistündige Mittagspause bewilligt, damit sie ihrer Familie ein bescheidenes Mittagsmahl bereiten könnten. Heikle gönnt man ihnen auf vielen Gütern nur noch eine Stunde; damit fällt das Familienmahl, ein wesentliches Stück Familienleben, hinweg. Der heutige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/606>, abgerufen am 28.12.2024.