Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die soziale Frage

Gesetze von Angebot und Nachfrage richtete, und wobei die Persönlichkeit des
Arbeiters gar nicht mehr in Betracht kam. Für den Fabrikanten gab es keine
arbeitenden Menschen mehr, sondern nur noch Hände, die mehr oder weniger
billig zu haben waren, und deren Preis durch allerlei Veranstaltungen so tief
wie möglich herabgedrückt werden mußte. Früher hatte man gefragt: Wie viel
braucht Heuer der Mensch zum Leben? Von nun an fragte man: Für wie
wenig kann ich heute auf dem Nrbeitsmnrkte Hände kaufen? Was der Aus¬
beutung Grenzen setzte, war weder Mitgefühl, noch Genüssen, noch Rücksicht
aufs Gemeinwohl, sondern einzig und allein die physische Unmöglichkeit. Ju
der Maschinenspitzenindustrie ist ein Fall von regelmäßiger Beschäftigung eines
zweijährigen Kindes nachgewiesen worden. Damit hatte man die äußerste
Grenze erreicht. I" Belgien kommt es heute noch vor, daß fünfjährige Kinder
vierundzwauzig Stunden lang ununterbrochen beschäftigt werden; diese That¬
sache wird in einer Petition deutscher Fabrikanten um Erhöhung des Eingangs¬
zolls ans Leinenzwirn erwähnt, die dem jetzigen Reichstage zugegangen ist.
Es wird darin u. a. gesagt, nur durch schwarzen Kaffee und durch ununter-
brochenes Singen würden die kleinen Wesen munter erhalten. Man wird wohl
noch andre Mittel anwenden. Röscher erzählt von Industrien in Nord-
frankreich, deren "Blüte" auf dem Ochsenziemer beruht, mit dem die beschäftigten
Kinder zu unnatürlichen Anstrengungen gezwungen werden.

Als theoretische Ergänzung entgegengesetzter einseitiger Ansichten und als
praktisches Gegengewicht gegen katholische Almosenwirtschaft und büreaukratische
Allregiererei kann man sich die Lehre des berühmten Schotten gefallen lassen.
Aber wo sie zur Alleinherrschaft gelangt, da richtet sie größeres Unheil an,
als irgend eine andre Einseitigkeit. In Deutschland hat sie, dank unserm viel¬
seitigen humanen Volksgeiste und unsern gewissenhaften Regierungen, niemals
allgemeine und unbedingte Geltung erlangt. Die gottlose englisch-amerikanische
Bezeichnung "Hände" für Arbeiter hat niemals Eingang gefunden. Nur
schüchtern wagt sich der ihr zu Grunde liegende Gedanke in dein Mvdeworte
Arbeitskraft hervor; leider macht man auch in sehr hohen Kreisen davon Ge¬
brauch und sucht selbst für hervorragende Stellen nicht mehr einen tüchtigen
Mann, sondern eine tüchtige Kraft. Im allgemeinen aber ist der Grundsatz,
daß auch der geringste Mensch noch als Mensch anzusehen und zu behandeln
sei, bei uns weder von den Brodherrn, noch von den Gesetzgebern, noch von
der Verwaltung, noch von den Männern der Wissenschaft verleugnet worden,
und viele Großindustrielle haben schon vor dem Ausbruch der sozinldemo-
kratischcn Bewegung in musterhafter Weise für ihre Arbeiter Sorge getragen.
Seinen stärksten Ausdruck hat der Grundsatz bei uns im Schulzwang gefunden,
gegen den sich in England die Großindustriellen lange mit Händen und Füßen
gesträubt haben, sodann in der allgemeinen Wehrpflicht und im allgemeinen
Stimmrecht.


Die soziale Frage

Gesetze von Angebot und Nachfrage richtete, und wobei die Persönlichkeit des
Arbeiters gar nicht mehr in Betracht kam. Für den Fabrikanten gab es keine
arbeitenden Menschen mehr, sondern nur noch Hände, die mehr oder weniger
billig zu haben waren, und deren Preis durch allerlei Veranstaltungen so tief
wie möglich herabgedrückt werden mußte. Früher hatte man gefragt: Wie viel
braucht Heuer der Mensch zum Leben? Von nun an fragte man: Für wie
wenig kann ich heute auf dem Nrbeitsmnrkte Hände kaufen? Was der Aus¬
beutung Grenzen setzte, war weder Mitgefühl, noch Genüssen, noch Rücksicht
aufs Gemeinwohl, sondern einzig und allein die physische Unmöglichkeit. Ju
der Maschinenspitzenindustrie ist ein Fall von regelmäßiger Beschäftigung eines
zweijährigen Kindes nachgewiesen worden. Damit hatte man die äußerste
Grenze erreicht. I» Belgien kommt es heute noch vor, daß fünfjährige Kinder
vierundzwauzig Stunden lang ununterbrochen beschäftigt werden; diese That¬
sache wird in einer Petition deutscher Fabrikanten um Erhöhung des Eingangs¬
zolls ans Leinenzwirn erwähnt, die dem jetzigen Reichstage zugegangen ist.
Es wird darin u. a. gesagt, nur durch schwarzen Kaffee und durch ununter-
brochenes Singen würden die kleinen Wesen munter erhalten. Man wird wohl
noch andre Mittel anwenden. Röscher erzählt von Industrien in Nord-
frankreich, deren „Blüte" auf dem Ochsenziemer beruht, mit dem die beschäftigten
Kinder zu unnatürlichen Anstrengungen gezwungen werden.

Als theoretische Ergänzung entgegengesetzter einseitiger Ansichten und als
praktisches Gegengewicht gegen katholische Almosenwirtschaft und büreaukratische
Allregiererei kann man sich die Lehre des berühmten Schotten gefallen lassen.
Aber wo sie zur Alleinherrschaft gelangt, da richtet sie größeres Unheil an,
als irgend eine andre Einseitigkeit. In Deutschland hat sie, dank unserm viel¬
seitigen humanen Volksgeiste und unsern gewissenhaften Regierungen, niemals
allgemeine und unbedingte Geltung erlangt. Die gottlose englisch-amerikanische
Bezeichnung „Hände" für Arbeiter hat niemals Eingang gefunden. Nur
schüchtern wagt sich der ihr zu Grunde liegende Gedanke in dein Mvdeworte
Arbeitskraft hervor; leider macht man auch in sehr hohen Kreisen davon Ge¬
brauch und sucht selbst für hervorragende Stellen nicht mehr einen tüchtigen
Mann, sondern eine tüchtige Kraft. Im allgemeinen aber ist der Grundsatz,
daß auch der geringste Mensch noch als Mensch anzusehen und zu behandeln
sei, bei uns weder von den Brodherrn, noch von den Gesetzgebern, noch von
der Verwaltung, noch von den Männern der Wissenschaft verleugnet worden,
und viele Großindustrielle haben schon vor dem Ausbruch der sozinldemo-
kratischcn Bewegung in musterhafter Weise für ihre Arbeiter Sorge getragen.
Seinen stärksten Ausdruck hat der Grundsatz bei uns im Schulzwang gefunden,
gegen den sich in England die Großindustriellen lange mit Händen und Füßen
gesträubt haben, sodann in der allgemeinen Wehrpflicht und im allgemeinen
Stimmrecht.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0605" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207900"/>
            <fw type="header" place="top"> Die soziale Frage</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1675" prev="#ID_1674"> Gesetze von Angebot und Nachfrage richtete, und wobei die Persönlichkeit des<lb/>
Arbeiters gar nicht mehr in Betracht kam. Für den Fabrikanten gab es keine<lb/>
arbeitenden Menschen mehr, sondern nur noch Hände, die mehr oder weniger<lb/>
billig zu haben waren, und deren Preis durch allerlei Veranstaltungen so tief<lb/>
wie möglich herabgedrückt werden mußte. Früher hatte man gefragt: Wie viel<lb/>
braucht Heuer der Mensch zum Leben? Von nun an fragte man: Für wie<lb/>
wenig kann ich heute auf dem Nrbeitsmnrkte Hände kaufen? Was der Aus¬<lb/>
beutung Grenzen setzte, war weder Mitgefühl, noch Genüssen, noch Rücksicht<lb/>
aufs Gemeinwohl, sondern einzig und allein die physische Unmöglichkeit. Ju<lb/>
der Maschinenspitzenindustrie ist ein Fall von regelmäßiger Beschäftigung eines<lb/>
zweijährigen Kindes nachgewiesen worden. Damit hatte man die äußerste<lb/>
Grenze erreicht. I» Belgien kommt es heute noch vor, daß fünfjährige Kinder<lb/>
vierundzwauzig Stunden lang ununterbrochen beschäftigt werden; diese That¬<lb/>
sache wird in einer Petition deutscher Fabrikanten um Erhöhung des Eingangs¬<lb/>
zolls ans Leinenzwirn erwähnt, die dem jetzigen Reichstage zugegangen ist.<lb/>
Es wird darin u. a. gesagt, nur durch schwarzen Kaffee und durch ununter-<lb/>
brochenes Singen würden die kleinen Wesen munter erhalten. Man wird wohl<lb/>
noch andre Mittel anwenden. Röscher erzählt von Industrien in Nord-<lb/>
frankreich, deren &#x201E;Blüte" auf dem Ochsenziemer beruht, mit dem die beschäftigten<lb/>
Kinder zu unnatürlichen Anstrengungen gezwungen werden.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1676"> Als theoretische Ergänzung entgegengesetzter einseitiger Ansichten und als<lb/>
praktisches Gegengewicht gegen katholische Almosenwirtschaft und büreaukratische<lb/>
Allregiererei kann man sich die Lehre des berühmten Schotten gefallen lassen.<lb/>
Aber wo sie zur Alleinherrschaft gelangt, da richtet sie größeres Unheil an,<lb/>
als irgend eine andre Einseitigkeit. In Deutschland hat sie, dank unserm viel¬<lb/>
seitigen humanen Volksgeiste und unsern gewissenhaften Regierungen, niemals<lb/>
allgemeine und unbedingte Geltung erlangt. Die gottlose englisch-amerikanische<lb/>
Bezeichnung &#x201E;Hände" für Arbeiter hat niemals Eingang gefunden. Nur<lb/>
schüchtern wagt sich der ihr zu Grunde liegende Gedanke in dein Mvdeworte<lb/>
Arbeitskraft hervor; leider macht man auch in sehr hohen Kreisen davon Ge¬<lb/>
brauch und sucht selbst für hervorragende Stellen nicht mehr einen tüchtigen<lb/>
Mann, sondern eine tüchtige Kraft. Im allgemeinen aber ist der Grundsatz,<lb/>
daß auch der geringste Mensch noch als Mensch anzusehen und zu behandeln<lb/>
sei, bei uns weder von den Brodherrn, noch von den Gesetzgebern, noch von<lb/>
der Verwaltung, noch von den Männern der Wissenschaft verleugnet worden,<lb/>
und viele Großindustrielle haben schon vor dem Ausbruch der sozinldemo-<lb/>
kratischcn Bewegung in musterhafter Weise für ihre Arbeiter Sorge getragen.<lb/>
Seinen stärksten Ausdruck hat der Grundsatz bei uns im Schulzwang gefunden,<lb/>
gegen den sich in England die Großindustriellen lange mit Händen und Füßen<lb/>
gesträubt haben, sodann in der allgemeinen Wehrpflicht und im allgemeinen<lb/>
Stimmrecht.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0605] Die soziale Frage Gesetze von Angebot und Nachfrage richtete, und wobei die Persönlichkeit des Arbeiters gar nicht mehr in Betracht kam. Für den Fabrikanten gab es keine arbeitenden Menschen mehr, sondern nur noch Hände, die mehr oder weniger billig zu haben waren, und deren Preis durch allerlei Veranstaltungen so tief wie möglich herabgedrückt werden mußte. Früher hatte man gefragt: Wie viel braucht Heuer der Mensch zum Leben? Von nun an fragte man: Für wie wenig kann ich heute auf dem Nrbeitsmnrkte Hände kaufen? Was der Aus¬ beutung Grenzen setzte, war weder Mitgefühl, noch Genüssen, noch Rücksicht aufs Gemeinwohl, sondern einzig und allein die physische Unmöglichkeit. Ju der Maschinenspitzenindustrie ist ein Fall von regelmäßiger Beschäftigung eines zweijährigen Kindes nachgewiesen worden. Damit hatte man die äußerste Grenze erreicht. I» Belgien kommt es heute noch vor, daß fünfjährige Kinder vierundzwauzig Stunden lang ununterbrochen beschäftigt werden; diese That¬ sache wird in einer Petition deutscher Fabrikanten um Erhöhung des Eingangs¬ zolls ans Leinenzwirn erwähnt, die dem jetzigen Reichstage zugegangen ist. Es wird darin u. a. gesagt, nur durch schwarzen Kaffee und durch ununter- brochenes Singen würden die kleinen Wesen munter erhalten. Man wird wohl noch andre Mittel anwenden. Röscher erzählt von Industrien in Nord- frankreich, deren „Blüte" auf dem Ochsenziemer beruht, mit dem die beschäftigten Kinder zu unnatürlichen Anstrengungen gezwungen werden. Als theoretische Ergänzung entgegengesetzter einseitiger Ansichten und als praktisches Gegengewicht gegen katholische Almosenwirtschaft und büreaukratische Allregiererei kann man sich die Lehre des berühmten Schotten gefallen lassen. Aber wo sie zur Alleinherrschaft gelangt, da richtet sie größeres Unheil an, als irgend eine andre Einseitigkeit. In Deutschland hat sie, dank unserm viel¬ seitigen humanen Volksgeiste und unsern gewissenhaften Regierungen, niemals allgemeine und unbedingte Geltung erlangt. Die gottlose englisch-amerikanische Bezeichnung „Hände" für Arbeiter hat niemals Eingang gefunden. Nur schüchtern wagt sich der ihr zu Grunde liegende Gedanke in dein Mvdeworte Arbeitskraft hervor; leider macht man auch in sehr hohen Kreisen davon Ge¬ brauch und sucht selbst für hervorragende Stellen nicht mehr einen tüchtigen Mann, sondern eine tüchtige Kraft. Im allgemeinen aber ist der Grundsatz, daß auch der geringste Mensch noch als Mensch anzusehen und zu behandeln sei, bei uns weder von den Brodherrn, noch von den Gesetzgebern, noch von der Verwaltung, noch von den Männern der Wissenschaft verleugnet worden, und viele Großindustrielle haben schon vor dem Ausbruch der sozinldemo- kratischcn Bewegung in musterhafter Weise für ihre Arbeiter Sorge getragen. Seinen stärksten Ausdruck hat der Grundsatz bei uns im Schulzwang gefunden, gegen den sich in England die Großindustriellen lange mit Händen und Füßen gesträubt haben, sodann in der allgemeinen Wehrpflicht und im allgemeinen Stimmrecht.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/605
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/605>, abgerufen am 27.12.2024.