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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Frage

sehnlicher Teil davon vertilgt, erweist er den Erzeugern einen Dienst. Nur
wenn er gleichzeitig ein Faulpelz oder unfähig oder beides ist, schädigt er das
Nationalvermögen, indem er sich an der Produktion seines Volkes nicht be¬
teiligt, also zur Vermehrung des Gütervorrates nichts beiträgt. Seine Familie
allerdings schädigt er, wenn er welche hat, auch schon durch den übermäßigen
Verbrauch für seine Person, der die Anteile seiner Verwandten am Gütergenuß
verkürzt. Etwas ähnliches kommt bei armen Völkern vor; und arm waren im
Beginn des Mittelalters alle Völker Europas. Darum hatte damals die
Askese einen guten Sinn. Sie vermehrte den Wohlstand nicht, aber sie ver¬
ringerte das ans den Armem lastende Maß der Entbehrung. Die Nahruugs-
mittelmenge, die in den langen Fastenzeiten von den Reichern erübrigt wurde,
kam den Armem zu gute. Das Verbot der Fleischspeisen um gewissen Tagen
mehrte sogar das Volksvermögen, indem es zur Fischzucht nötigte. Eine recht
drastische Beleuchtung erfuhr die volkswirtschaftliche Bedeutung des Fastens noch
vor neunzig Jahren einmal. Suwvrvff stand mit seinem Heere in Süddeutsch-
land und verursachte in der schon ausgesogenen Gegend einen empfindlichen
Mangel. Die Ortsbehörde" klagten ihm ihre Not. O, sagte er, dem wollen
wir bald abhelfen. Er verordnete seinen Kerls ein dreitägiges Fasten und
Beten, und in diesen drei Tagen erholte sich der Getreidemcirkt wieder.

Heute hat das, im großen und ganzen wenigstens, keinen Sinn mehr.
Der verbesserte Ackerbau erzeugt so viel Nahrungsmittel, und der Mangel
übervölkerter Länder kann dnrch den Überschuß der untervölkerten so leicht aus¬
geglichen werden, daß es nicht der rasche Verbrauch, sondern das Liegenbleibe"
der unverkauften Getreidevorräte ist, was die Landwirte aller Länder wie den
Tod fürchten. Im einzelnen freilich behält das asketische Sparen leider noch
seine Berechtigung. In taufenden von armen Familien hungern die Eltern,
damit sich die Kiuder satt essen können, oder hungern die Kinder den Eltern
zuliebe, oder darben alle mit einander, die Entbehrung gleichmäßig unter ein¬
ander verleitend. Daß aber dieses Hungern aus Liebe deu Gütervvrrat nicht
vermehrt, liegt auf der Hemd; im Gegenteil, indem es die Arbeitskraft schwächt,
hemmt es die Gütererzeugung, die Kapitalbildung.

Was zum Teil durch Spare" entsteht (zum audern Teil durch Speku¬
lation, Glücksfälle, Betrug u. f. w.), das ist der Kapitalbesitz. Wer sein Ein¬
kommen nicht verbraucht, der behält Geld übrig, mit dem er entweder das
Landgut, d. h. das Kapital eiues weniger sparsamen, oder weniger klugen,
oder weniger glücklichen kauft, oder Wertpapiere erwirbt, die ihm das Anrecht
auf die Nutznießung der Kapitalien andrer erteilen. Diese andern sind jetzt
bloß noch scheinbar Besitzer ihres Kapitals; in Wirklichkeit gehört ihnen nur
so viel davon, als dem Gläubiger noch nicht verschrieben ist. Die ganze
Arbeit, die zur Nutzbarmachung des Kapitals erforderlich ist, müssen sie nach
wie vor verrichte", aber vom Ertrage dieser Arbeit müssen sie so viel abgebe",


Die soziale Frage

sehnlicher Teil davon vertilgt, erweist er den Erzeugern einen Dienst. Nur
wenn er gleichzeitig ein Faulpelz oder unfähig oder beides ist, schädigt er das
Nationalvermögen, indem er sich an der Produktion seines Volkes nicht be¬
teiligt, also zur Vermehrung des Gütervorrates nichts beiträgt. Seine Familie
allerdings schädigt er, wenn er welche hat, auch schon durch den übermäßigen
Verbrauch für seine Person, der die Anteile seiner Verwandten am Gütergenuß
verkürzt. Etwas ähnliches kommt bei armen Völkern vor; und arm waren im
Beginn des Mittelalters alle Völker Europas. Darum hatte damals die
Askese einen guten Sinn. Sie vermehrte den Wohlstand nicht, aber sie ver¬
ringerte das ans den Armem lastende Maß der Entbehrung. Die Nahruugs-
mittelmenge, die in den langen Fastenzeiten von den Reichern erübrigt wurde,
kam den Armem zu gute. Das Verbot der Fleischspeisen um gewissen Tagen
mehrte sogar das Volksvermögen, indem es zur Fischzucht nötigte. Eine recht
drastische Beleuchtung erfuhr die volkswirtschaftliche Bedeutung des Fastens noch
vor neunzig Jahren einmal. Suwvrvff stand mit seinem Heere in Süddeutsch-
land und verursachte in der schon ausgesogenen Gegend einen empfindlichen
Mangel. Die Ortsbehörde» klagten ihm ihre Not. O, sagte er, dem wollen
wir bald abhelfen. Er verordnete seinen Kerls ein dreitägiges Fasten und
Beten, und in diesen drei Tagen erholte sich der Getreidemcirkt wieder.

Heute hat das, im großen und ganzen wenigstens, keinen Sinn mehr.
Der verbesserte Ackerbau erzeugt so viel Nahrungsmittel, und der Mangel
übervölkerter Länder kann dnrch den Überschuß der untervölkerten so leicht aus¬
geglichen werden, daß es nicht der rasche Verbrauch, sondern das Liegenbleibe»
der unverkauften Getreidevorräte ist, was die Landwirte aller Länder wie den
Tod fürchten. Im einzelnen freilich behält das asketische Sparen leider noch
seine Berechtigung. In taufenden von armen Familien hungern die Eltern,
damit sich die Kiuder satt essen können, oder hungern die Kinder den Eltern
zuliebe, oder darben alle mit einander, die Entbehrung gleichmäßig unter ein¬
ander verleitend. Daß aber dieses Hungern aus Liebe deu Gütervvrrat nicht
vermehrt, liegt auf der Hemd; im Gegenteil, indem es die Arbeitskraft schwächt,
hemmt es die Gütererzeugung, die Kapitalbildung.

Was zum Teil durch Spare» entsteht (zum audern Teil durch Speku¬
lation, Glücksfälle, Betrug u. f. w.), das ist der Kapitalbesitz. Wer sein Ein¬
kommen nicht verbraucht, der behält Geld übrig, mit dem er entweder das
Landgut, d. h. das Kapital eiues weniger sparsamen, oder weniger klugen,
oder weniger glücklichen kauft, oder Wertpapiere erwirbt, die ihm das Anrecht
auf die Nutznießung der Kapitalien andrer erteilen. Diese andern sind jetzt
bloß noch scheinbar Besitzer ihres Kapitals; in Wirklichkeit gehört ihnen nur
so viel davon, als dem Gläubiger noch nicht verschrieben ist. Die ganze
Arbeit, die zur Nutzbarmachung des Kapitals erforderlich ist, müssen sie nach
wie vor verrichte», aber vom Ertrage dieser Arbeit müssen sie so viel abgebe»,


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[0562] Die soziale Frage sehnlicher Teil davon vertilgt, erweist er den Erzeugern einen Dienst. Nur wenn er gleichzeitig ein Faulpelz oder unfähig oder beides ist, schädigt er das Nationalvermögen, indem er sich an der Produktion seines Volkes nicht be¬ teiligt, also zur Vermehrung des Gütervorrates nichts beiträgt. Seine Familie allerdings schädigt er, wenn er welche hat, auch schon durch den übermäßigen Verbrauch für seine Person, der die Anteile seiner Verwandten am Gütergenuß verkürzt. Etwas ähnliches kommt bei armen Völkern vor; und arm waren im Beginn des Mittelalters alle Völker Europas. Darum hatte damals die Askese einen guten Sinn. Sie vermehrte den Wohlstand nicht, aber sie ver¬ ringerte das ans den Armem lastende Maß der Entbehrung. Die Nahruugs- mittelmenge, die in den langen Fastenzeiten von den Reichern erübrigt wurde, kam den Armem zu gute. Das Verbot der Fleischspeisen um gewissen Tagen mehrte sogar das Volksvermögen, indem es zur Fischzucht nötigte. Eine recht drastische Beleuchtung erfuhr die volkswirtschaftliche Bedeutung des Fastens noch vor neunzig Jahren einmal. Suwvrvff stand mit seinem Heere in Süddeutsch- land und verursachte in der schon ausgesogenen Gegend einen empfindlichen Mangel. Die Ortsbehörde» klagten ihm ihre Not. O, sagte er, dem wollen wir bald abhelfen. Er verordnete seinen Kerls ein dreitägiges Fasten und Beten, und in diesen drei Tagen erholte sich der Getreidemcirkt wieder. Heute hat das, im großen und ganzen wenigstens, keinen Sinn mehr. Der verbesserte Ackerbau erzeugt so viel Nahrungsmittel, und der Mangel übervölkerter Länder kann dnrch den Überschuß der untervölkerten so leicht aus¬ geglichen werden, daß es nicht der rasche Verbrauch, sondern das Liegenbleibe» der unverkauften Getreidevorräte ist, was die Landwirte aller Länder wie den Tod fürchten. Im einzelnen freilich behält das asketische Sparen leider noch seine Berechtigung. In taufenden von armen Familien hungern die Eltern, damit sich die Kiuder satt essen können, oder hungern die Kinder den Eltern zuliebe, oder darben alle mit einander, die Entbehrung gleichmäßig unter ein¬ ander verleitend. Daß aber dieses Hungern aus Liebe deu Gütervvrrat nicht vermehrt, liegt auf der Hemd; im Gegenteil, indem es die Arbeitskraft schwächt, hemmt es die Gütererzeugung, die Kapitalbildung. Was zum Teil durch Spare» entsteht (zum audern Teil durch Speku¬ lation, Glücksfälle, Betrug u. f. w.), das ist der Kapitalbesitz. Wer sein Ein¬ kommen nicht verbraucht, der behält Geld übrig, mit dem er entweder das Landgut, d. h. das Kapital eiues weniger sparsamen, oder weniger klugen, oder weniger glücklichen kauft, oder Wertpapiere erwirbt, die ihm das Anrecht auf die Nutznießung der Kapitalien andrer erteilen. Diese andern sind jetzt bloß noch scheinbar Besitzer ihres Kapitals; in Wirklichkeit gehört ihnen nur so viel davon, als dem Gläubiger noch nicht verschrieben ist. Die ganze Arbeit, die zur Nutzbarmachung des Kapitals erforderlich ist, müssen sie nach wie vor verrichte», aber vom Ertrage dieser Arbeit müssen sie so viel abgebe»,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/562>, abgerufen am 29.06.2024.