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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Litteratur

Mitteilungen ein abgerundetes Bild zu gestalten. Mir jetzt "vollen wir uns be¬
gnügen, zwei Proben herauszugreifen.

Man klagt heute bitter über das hastige, ruhelose Treiben unsrer aufregungs¬
süchtigen Zeit, in der sich niemand mehr die rechte Sanunlung, die Einkehr in sich
selbst gönnen könne, und beruft sich auf den ruhigen Genus; von Kunst und Leben
zu der Zeit, wo "der Großvater die Großmutter nahm." In einem Briefe vom
18. Februar 1837 äußert Rauch seinen Unmut darüber, daß die Akademie sich
mit der Absicht trage, "künftig jedes Jahr eine KunstnnSstellung" zu veranstalten.
Dabei wird nach Rauchs Ansicht "die Kunst als solche nicht gewinnen, aber alles
will schneller von der Stelle, so auch diese Partie der Schaulust darf man nicht
warten lassen. Immer vorwärts, leider fürchte ich aber, abwärts führt uns dies
Treiben." Damals ist von der Ausführung dieses Planes noch Abstand genommen
worden, und der "Zeitgeist" hat sich noch vierzig Jahre beruhigen lassen, ehe er
die Jahresausstellungen durchsetzte, die dafür sogleich in vier oder fünf verschiednen
Gestalten als lokale und provinzielle, als nationale, internationale, historische u. a. in.
aufgetreten sind.

Rauch ist in allen Zeitabschnitten seines Lebens ein nüchterner und unbe-
fangener Beurteiler der Dinge um ihn herum gewesen, der vielleicht allein nicht
"romantisch" war, als alle Welt in Romantik schwelgte. So hat er auch den viel
und weit über Gebühr als Opferthat gepriesenen Selbstmord der Charlotte Stieglitz
von der richtigen Seile angesehen. "Sie kannten -- schreibt er um Rietschel am
I. Januar 1335 -- die hübsche Frau meines Landsmannes, des Doktors Stieglitz,
Verfassers artiger Poesien. Sie merkten auch Wohl mit uns diese Art poetischen
Wesens im gemeinen Leben? Er verließ die Stelle im Joachimsthalschen Gym¬
nasium, verließ much jetzt die Stelle als königlicher Bibliothekar, um ganz der
Dichtung seine Zeit widmen zu können. Beide liebten sich, aber sie quälten sich
auch beide gegenseitig, da keine irdische Beschäftigung, keine häusliche Not von der
Beschäftigung mit ihrem Ich sie abzog. Wohin hat dies geführt? Oh Verirrung,
oh Unglück! Zum ärgsten, was der Mensch gegen sich und seine Bestimmung unter¬
nehmen kann, zum Selbstmorde . , , sie nimmt den tragischen Dolch von der
Wand, dessen geschichtliche Wirkung man oft bewundert, darüber wenigstens Worte
gemacht hatte, und stößt ihn sich . . . ins Herz." Es ist möglich, daß zu diesem
rein theatralischen Motiv noch ein andres hinzugekommen ist. Wenn man die
kürzlich von E. Pierson veröffentlichten Briefe Th. Mundes um Gustav Kühne nicht
für eitel Prahlerei halten will, wozu es freilich nicht an Anhallepnnkten fehlt,
scheint auch ein platonisches Verhältnis zu Mundt den Sinn der Fran Stieglitz
vollends verwirrt zu haben.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Lerlag von Fr. Wilh. Gruuvw in Leipzig -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
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Mitteilungen ein abgerundetes Bild zu gestalten. Mir jetzt »vollen wir uns be¬
gnügen, zwei Proben herauszugreifen.

Man klagt heute bitter über das hastige, ruhelose Treiben unsrer aufregungs¬
süchtigen Zeit, in der sich niemand mehr die rechte Sanunlung, die Einkehr in sich
selbst gönnen könne, und beruft sich auf den ruhigen Genus; von Kunst und Leben
zu der Zeit, wo „der Großvater die Großmutter nahm." In einem Briefe vom
18. Februar 1837 äußert Rauch seinen Unmut darüber, daß die Akademie sich
mit der Absicht trage, „künftig jedes Jahr eine KunstnnSstellung" zu veranstalten.
Dabei wird nach Rauchs Ansicht „die Kunst als solche nicht gewinnen, aber alles
will schneller von der Stelle, so auch diese Partie der Schaulust darf man nicht
warten lassen. Immer vorwärts, leider fürchte ich aber, abwärts führt uns dies
Treiben." Damals ist von der Ausführung dieses Planes noch Abstand genommen
worden, und der „Zeitgeist" hat sich noch vierzig Jahre beruhigen lassen, ehe er
die Jahresausstellungen durchsetzte, die dafür sogleich in vier oder fünf verschiednen
Gestalten als lokale und provinzielle, als nationale, internationale, historische u. a. in.
aufgetreten sind.

Rauch ist in allen Zeitabschnitten seines Lebens ein nüchterner und unbe-
fangener Beurteiler der Dinge um ihn herum gewesen, der vielleicht allein nicht
„romantisch" war, als alle Welt in Romantik schwelgte. So hat er auch den viel
und weit über Gebühr als Opferthat gepriesenen Selbstmord der Charlotte Stieglitz
von der richtigen Seile angesehen. „Sie kannten — schreibt er um Rietschel am
I. Januar 1335 — die hübsche Frau meines Landsmannes, des Doktors Stieglitz,
Verfassers artiger Poesien. Sie merkten auch Wohl mit uns diese Art poetischen
Wesens im gemeinen Leben? Er verließ die Stelle im Joachimsthalschen Gym¬
nasium, verließ much jetzt die Stelle als königlicher Bibliothekar, um ganz der
Dichtung seine Zeit widmen zu können. Beide liebten sich, aber sie quälten sich
auch beide gegenseitig, da keine irdische Beschäftigung, keine häusliche Not von der
Beschäftigung mit ihrem Ich sie abzog. Wohin hat dies geführt? Oh Verirrung,
oh Unglück! Zum ärgsten, was der Mensch gegen sich und seine Bestimmung unter¬
nehmen kann, zum Selbstmorde . , , sie nimmt den tragischen Dolch von der
Wand, dessen geschichtliche Wirkung man oft bewundert, darüber wenigstens Worte
gemacht hatte, und stößt ihn sich . . . ins Herz." Es ist möglich, daß zu diesem
rein theatralischen Motiv noch ein andres hinzugekommen ist. Wenn man die
kürzlich von E. Pierson veröffentlichten Briefe Th. Mundes um Gustav Kühne nicht
für eitel Prahlerei halten will, wozu es freilich nicht an Anhallepnnkten fehlt,
scheint auch ein platonisches Verhältnis zu Mundt den Sinn der Fran Stieglitz
vollends verwirrt zu haben.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Lerlag von Fr. Wilh. Gruuvw in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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[0056] Litteratur Mitteilungen ein abgerundetes Bild zu gestalten. Mir jetzt »vollen wir uns be¬ gnügen, zwei Proben herauszugreifen. Man klagt heute bitter über das hastige, ruhelose Treiben unsrer aufregungs¬ süchtigen Zeit, in der sich niemand mehr die rechte Sanunlung, die Einkehr in sich selbst gönnen könne, und beruft sich auf den ruhigen Genus; von Kunst und Leben zu der Zeit, wo „der Großvater die Großmutter nahm." In einem Briefe vom 18. Februar 1837 äußert Rauch seinen Unmut darüber, daß die Akademie sich mit der Absicht trage, „künftig jedes Jahr eine KunstnnSstellung" zu veranstalten. Dabei wird nach Rauchs Ansicht „die Kunst als solche nicht gewinnen, aber alles will schneller von der Stelle, so auch diese Partie der Schaulust darf man nicht warten lassen. Immer vorwärts, leider fürchte ich aber, abwärts führt uns dies Treiben." Damals ist von der Ausführung dieses Planes noch Abstand genommen worden, und der „Zeitgeist" hat sich noch vierzig Jahre beruhigen lassen, ehe er die Jahresausstellungen durchsetzte, die dafür sogleich in vier oder fünf verschiednen Gestalten als lokale und provinzielle, als nationale, internationale, historische u. a. in. aufgetreten sind. Rauch ist in allen Zeitabschnitten seines Lebens ein nüchterner und unbe- fangener Beurteiler der Dinge um ihn herum gewesen, der vielleicht allein nicht „romantisch" war, als alle Welt in Romantik schwelgte. So hat er auch den viel und weit über Gebühr als Opferthat gepriesenen Selbstmord der Charlotte Stieglitz von der richtigen Seile angesehen. „Sie kannten — schreibt er um Rietschel am I. Januar 1335 — die hübsche Frau meines Landsmannes, des Doktors Stieglitz, Verfassers artiger Poesien. Sie merkten auch Wohl mit uns diese Art poetischen Wesens im gemeinen Leben? Er verließ die Stelle im Joachimsthalschen Gym¬ nasium, verließ much jetzt die Stelle als königlicher Bibliothekar, um ganz der Dichtung seine Zeit widmen zu können. Beide liebten sich, aber sie quälten sich auch beide gegenseitig, da keine irdische Beschäftigung, keine häusliche Not von der Beschäftigung mit ihrem Ich sie abzog. Wohin hat dies geführt? Oh Verirrung, oh Unglück! Zum ärgsten, was der Mensch gegen sich und seine Bestimmung unter¬ nehmen kann, zum Selbstmorde . , , sie nimmt den tragischen Dolch von der Wand, dessen geschichtliche Wirkung man oft bewundert, darüber wenigstens Worte gemacht hatte, und stößt ihn sich . . . ins Herz." Es ist möglich, daß zu diesem rein theatralischen Motiv noch ein andres hinzugekommen ist. Wenn man die kürzlich von E. Pierson veröffentlichten Briefe Th. Mundes um Gustav Kühne nicht für eitel Prahlerei halten will, wozu es freilich nicht an Anhallepnnkten fehlt, scheint auch ein platonisches Verhältnis zu Mundt den Sinn der Fran Stieglitz vollends verwirrt zu haben. Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig Lerlag von Fr. Wilh. Gruuvw in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/56>, abgerufen am 27.12.2024.