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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die Aufgabe der Gegenwart

bestimmt wurde, daß die Kirche nur im Auftrage des Staates die Schule
beaufsichtigen dürfe. Es ist ja mir eine Form, hieß es. Aber es ist mehr
als eine Form, wenn die Meinung eine gesetzliche Begründung erhält: Du
Pastor hast uns als Pastor nichts zu sagen, und wenn Magistrate, Stadt-
schulräte, weltliche Schnlinspektvren und Schulvvrstände, in denen der Schulze
das inöinornni pr-uzoiprium ist, zwischen Kirche und Schule treten. Dann kam
das Zivilstnudsgesetz, dessen Notwendigkeit in ländlichen und konfessionell
ungemischten Bezirken auch hente noch unauffindbar ist, und das besonders
durch die überhastete Art, mit der es eingeführt wurde, unendlichen Schaden
angerichtet und die Kirche um Millionen gebracht hat. Es war allen Ernstes
im Volke die Meinung verbreitet, der Kaiser wolle die kirchliche Trauung nicht
mehr. Später sah man den Zivilakt als die billigste Klasse der Trauung an,
was zur Folge hatte, daß die städtischen Diakonen, die ans das Einkommen
aus Stolgebühreu angewiesen sind, ans ihr Einkommen verzichten mußten.
Welcher Stand hat für sein Amt solche Opfer gebracht wie die Geistlichen und
besonders die städtischen Geistlichen! Und der Staat hats verschuldet. Die
neue Armen- und Waiseugesetzgebung brachte für die Geistlichen, die früher
von Amts wegen Mitglieder der Kommissionen waren, die Erlaubnis, sich wählen
zu lassen. Natürlich wurden sie da, wo es besonders nötig gewesen wäre,
nicht gewählt. Ihr müßt euch bemühen, hieß es hinterher, seht zu, wie ihr
zur Hinterthür wieder hineinkommt! Das ist doch der reine Hohn. Die staat¬
liche Rechtspflege und Gesetzgebung war recht eigentlich darauf eingerichtet,
der Kirche das Leben schwer zu macheu und ihr den Boden nnter den Füßen
wegzuziehen. Mau beklagt sich, daß die Zügellosigkeit der heranwachsenden
Jugend zunimmt -- der Staat setzt das Mündigkeitsalter herab; man sieht
aufs deutlichste, daß der Verfall der Sitten reißende Fortschritte macht -- der
Staat beseitigt einer juristischen Theorie zuliebe (juristische Theorien sind
übrigens sehr wandelbar und meist nur Gegenbilder praktischer Gewohnheiten)
die vorbeugenden Gesetze, um die nachfolgenden Strafen zu verschärfen. Als
ob durch eine Strafe irgend etwas gut gemacht würde! Man giebt uuter dem
Einflüsse von Laster und Genossen allen: möglichen Schwindel und aller
möglichen Unsitte weiteste Grenzen, richtet aber durch unerhörte Straf-
bestimmungen über die Verbalinjurie die ganze Schärfe des Gesetzes gegen die,
die sich einfallen lassen könnten, ein offnes, wahres Wort zu reden. Diese
Paragraphen richten sich also gegen die Leute, die das redende Gewissen des
Volkes sein sollen, sie kommen durch eine Überspannung des Begriffes der
Beleidigung, einer Versündigung an dem. Gewissen des Volkes fast gleich.
Zuletzt kommt der Kanzelparagraph, dieses reizende Erzeugnis eiuer Gesetzgebung,
me klärlich ab ÜAw gemacht ist, ein Paragraph, der nichts verhütet hat, der
kaum ein halbes Dutzend mal angewendet worden, aber im Volke von ver¬
hängnisvoller Wirkung gewesen ist: Seht ihrs, auch auf der Kanzel hat der Pastor


Die Aufgabe der Gegenwart

bestimmt wurde, daß die Kirche nur im Auftrage des Staates die Schule
beaufsichtigen dürfe. Es ist ja mir eine Form, hieß es. Aber es ist mehr
als eine Form, wenn die Meinung eine gesetzliche Begründung erhält: Du
Pastor hast uns als Pastor nichts zu sagen, und wenn Magistrate, Stadt-
schulräte, weltliche Schnlinspektvren und Schulvvrstände, in denen der Schulze
das inöinornni pr-uzoiprium ist, zwischen Kirche und Schule treten. Dann kam
das Zivilstnudsgesetz, dessen Notwendigkeit in ländlichen und konfessionell
ungemischten Bezirken auch hente noch unauffindbar ist, und das besonders
durch die überhastete Art, mit der es eingeführt wurde, unendlichen Schaden
angerichtet und die Kirche um Millionen gebracht hat. Es war allen Ernstes
im Volke die Meinung verbreitet, der Kaiser wolle die kirchliche Trauung nicht
mehr. Später sah man den Zivilakt als die billigste Klasse der Trauung an,
was zur Folge hatte, daß die städtischen Diakonen, die ans das Einkommen
aus Stolgebühreu angewiesen sind, ans ihr Einkommen verzichten mußten.
Welcher Stand hat für sein Amt solche Opfer gebracht wie die Geistlichen und
besonders die städtischen Geistlichen! Und der Staat hats verschuldet. Die
neue Armen- und Waiseugesetzgebung brachte für die Geistlichen, die früher
von Amts wegen Mitglieder der Kommissionen waren, die Erlaubnis, sich wählen
zu lassen. Natürlich wurden sie da, wo es besonders nötig gewesen wäre,
nicht gewählt. Ihr müßt euch bemühen, hieß es hinterher, seht zu, wie ihr
zur Hinterthür wieder hineinkommt! Das ist doch der reine Hohn. Die staat¬
liche Rechtspflege und Gesetzgebung war recht eigentlich darauf eingerichtet,
der Kirche das Leben schwer zu macheu und ihr den Boden nnter den Füßen
wegzuziehen. Mau beklagt sich, daß die Zügellosigkeit der heranwachsenden
Jugend zunimmt — der Staat setzt das Mündigkeitsalter herab; man sieht
aufs deutlichste, daß der Verfall der Sitten reißende Fortschritte macht — der
Staat beseitigt einer juristischen Theorie zuliebe (juristische Theorien sind
übrigens sehr wandelbar und meist nur Gegenbilder praktischer Gewohnheiten)
die vorbeugenden Gesetze, um die nachfolgenden Strafen zu verschärfen. Als
ob durch eine Strafe irgend etwas gut gemacht würde! Man giebt uuter dem
Einflüsse von Laster und Genossen allen: möglichen Schwindel und aller
möglichen Unsitte weiteste Grenzen, richtet aber durch unerhörte Straf-
bestimmungen über die Verbalinjurie die ganze Schärfe des Gesetzes gegen die,
die sich einfallen lassen könnten, ein offnes, wahres Wort zu reden. Diese
Paragraphen richten sich also gegen die Leute, die das redende Gewissen des
Volkes sein sollen, sie kommen durch eine Überspannung des Begriffes der
Beleidigung, einer Versündigung an dem. Gewissen des Volkes fast gleich.
Zuletzt kommt der Kanzelparagraph, dieses reizende Erzeugnis eiuer Gesetzgebung,
me klärlich ab ÜAw gemacht ist, ein Paragraph, der nichts verhütet hat, der
kaum ein halbes Dutzend mal angewendet worden, aber im Volke von ver¬
hängnisvoller Wirkung gewesen ist: Seht ihrs, auch auf der Kanzel hat der Pastor


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[0495] Die Aufgabe der Gegenwart bestimmt wurde, daß die Kirche nur im Auftrage des Staates die Schule beaufsichtigen dürfe. Es ist ja mir eine Form, hieß es. Aber es ist mehr als eine Form, wenn die Meinung eine gesetzliche Begründung erhält: Du Pastor hast uns als Pastor nichts zu sagen, und wenn Magistrate, Stadt- schulräte, weltliche Schnlinspektvren und Schulvvrstände, in denen der Schulze das inöinornni pr-uzoiprium ist, zwischen Kirche und Schule treten. Dann kam das Zivilstnudsgesetz, dessen Notwendigkeit in ländlichen und konfessionell ungemischten Bezirken auch hente noch unauffindbar ist, und das besonders durch die überhastete Art, mit der es eingeführt wurde, unendlichen Schaden angerichtet und die Kirche um Millionen gebracht hat. Es war allen Ernstes im Volke die Meinung verbreitet, der Kaiser wolle die kirchliche Trauung nicht mehr. Später sah man den Zivilakt als die billigste Klasse der Trauung an, was zur Folge hatte, daß die städtischen Diakonen, die ans das Einkommen aus Stolgebühreu angewiesen sind, ans ihr Einkommen verzichten mußten. Welcher Stand hat für sein Amt solche Opfer gebracht wie die Geistlichen und besonders die städtischen Geistlichen! Und der Staat hats verschuldet. Die neue Armen- und Waiseugesetzgebung brachte für die Geistlichen, die früher von Amts wegen Mitglieder der Kommissionen waren, die Erlaubnis, sich wählen zu lassen. Natürlich wurden sie da, wo es besonders nötig gewesen wäre, nicht gewählt. Ihr müßt euch bemühen, hieß es hinterher, seht zu, wie ihr zur Hinterthür wieder hineinkommt! Das ist doch der reine Hohn. Die staat¬ liche Rechtspflege und Gesetzgebung war recht eigentlich darauf eingerichtet, der Kirche das Leben schwer zu macheu und ihr den Boden nnter den Füßen wegzuziehen. Mau beklagt sich, daß die Zügellosigkeit der heranwachsenden Jugend zunimmt — der Staat setzt das Mündigkeitsalter herab; man sieht aufs deutlichste, daß der Verfall der Sitten reißende Fortschritte macht — der Staat beseitigt einer juristischen Theorie zuliebe (juristische Theorien sind übrigens sehr wandelbar und meist nur Gegenbilder praktischer Gewohnheiten) die vorbeugenden Gesetze, um die nachfolgenden Strafen zu verschärfen. Als ob durch eine Strafe irgend etwas gut gemacht würde! Man giebt uuter dem Einflüsse von Laster und Genossen allen: möglichen Schwindel und aller möglichen Unsitte weiteste Grenzen, richtet aber durch unerhörte Straf- bestimmungen über die Verbalinjurie die ganze Schärfe des Gesetzes gegen die, die sich einfallen lassen könnten, ein offnes, wahres Wort zu reden. Diese Paragraphen richten sich also gegen die Leute, die das redende Gewissen des Volkes sein sollen, sie kommen durch eine Überspannung des Begriffes der Beleidigung, einer Versündigung an dem. Gewissen des Volkes fast gleich. Zuletzt kommt der Kanzelparagraph, dieses reizende Erzeugnis eiuer Gesetzgebung, me klärlich ab ÜAw gemacht ist, ein Paragraph, der nichts verhütet hat, der kaum ein halbes Dutzend mal angewendet worden, aber im Volke von ver¬ hängnisvoller Wirkung gewesen ist: Seht ihrs, auch auf der Kanzel hat der Pastor

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/495>, abgerufen am 22.07.2024.