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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Schopenhauer und Richard lVagner

die Kirche schon vergessen hat, wurde von Schopenhauer noch verdüstert und
zum Untergrunde alles Daseins gemacht, womit er denn freilich den Willen
zum Gegenteil der Vernunft, alles Wollen an sich zur Unvernunft stempeln
mußte. Dieses Dasein, dem das Nichtsein mit Hiob vorzuziehen sein soll, ist
nach ihm Leiden, und der Grund von allein, was wir einander sein können,
Mit-Leiden oder, was dasselbe ist, Mitleid, also daß jeder zu dem, was er
in seiner Art zu leiden hat, noch freiwillig selbstvergessen mit erleidet, anfühlt,
was der andre in seiner Art leidet. Und nun ist dieser Leiden schaffende Wille
zum Leben nicht bloß des menschlichen Lebens und Daseins, sondern alles
Seins und Werdens Urgrund. Wald und Fels, Luft und Wasser und alle
Sterne des Himmels, auch unser unvernünftiger Bruder, das Tier, sie alle
sind da, weil sie da sein zu wollen den sündlichen Drang empfanden; des
Mondes Wille zum Dasein war vielleicht ein Heinischer, der des Waldes ein
Lenauischer, der der Sterne ein Beethovenscher, der des Baumes ein Jean
Paulischer, der des starrenden Felsens, des rauschenden Stromes, des Büchleins
und der Linde ein Schubertscher, der des Pudels ein Faustischer Wille? Sie
alle demnach (der Pudel nach Schopenhauer ganz gewiß) fühlen und leiden
also auch menschlich, sind wie wir der Erlösung von diesem Leben, das ja
auch sie wollte", bedürftig -- ein Gedanke, den selbst das Christentum doch
nur einmal im Vorübergehen (Nömerbrief 8, 18 bis 22) auf die "unver¬
nünftige," auch "seufzende" Kreatur ausdehnt. Da können also nicht nur wir
leidende Brüder und Schwestern, mit oder ohne Vernunft, nichts Höheres thun,
nichts Tieferes angelegentlicher wollen, als uns gegenseitig leid zu thun, jeder
sich um den andern zu "kümmern," sondern die ganze Welt bis in Sirius¬
fernen ist in Leiden getaucht; die Harmonie der Sphären selbst ist eine un¬
geheure Dissonanz, und statt einen Dithyrambus des Daseins hören wir überall
als ?onäam<zuo ostiniiw wie im (ürnoilixuL der I4-mo11-Messe von I. S. Bach
das Thema "Weinen, Zagen, Sorgen, Klagen," das dort "der Christen
Thränenbrot" heißt, und für uns arme Erdenbewohner wäre es zunächst das
Beste, wenn der arme leidende Planet in die vernichtende Glut irgend einer
Sonne zurückstürzte, denn das geschähe doch wenigstens so schnell, daß wir
gar nicht Zeit hätten, erst noch zu "sterben." Da wäre uns doch dieses
Leiden und damit unsre andern alle abgenommen, und das Weltenelend bliebe
für sich, s-prös mein8. Denn: es bliebe! Mit dem Auge des Menschen würde
(nach Schopenhauer) die Welt nur als "Vorstellung" erlöschen, nicht als
"Wille," nicht als Leiden, nicht als ,.Sünde."

Der Gedanke von dem bessern Nichtsein der Welt ist aber der Art, daß er
weder den dänischen, noch den deutschen Bühnenpriester des "Pessimismus"
rechtfertigen kann; jenen nicht, weil der echte Pessimismus nicht so gemeint
ist, daß die Welt wegen des Schlechten, das in ihr ist, besser nicht wäre,
sondern so, daß mit allem Guten, allem Erfreulichen in ihr das Dnsein an


Schopenhauer und Richard lVagner

die Kirche schon vergessen hat, wurde von Schopenhauer noch verdüstert und
zum Untergrunde alles Daseins gemacht, womit er denn freilich den Willen
zum Gegenteil der Vernunft, alles Wollen an sich zur Unvernunft stempeln
mußte. Dieses Dasein, dem das Nichtsein mit Hiob vorzuziehen sein soll, ist
nach ihm Leiden, und der Grund von allein, was wir einander sein können,
Mit-Leiden oder, was dasselbe ist, Mitleid, also daß jeder zu dem, was er
in seiner Art zu leiden hat, noch freiwillig selbstvergessen mit erleidet, anfühlt,
was der andre in seiner Art leidet. Und nun ist dieser Leiden schaffende Wille
zum Leben nicht bloß des menschlichen Lebens und Daseins, sondern alles
Seins und Werdens Urgrund. Wald und Fels, Luft und Wasser und alle
Sterne des Himmels, auch unser unvernünftiger Bruder, das Tier, sie alle
sind da, weil sie da sein zu wollen den sündlichen Drang empfanden; des
Mondes Wille zum Dasein war vielleicht ein Heinischer, der des Waldes ein
Lenauischer, der der Sterne ein Beethovenscher, der des Baumes ein Jean
Paulischer, der des starrenden Felsens, des rauschenden Stromes, des Büchleins
und der Linde ein Schubertscher, der des Pudels ein Faustischer Wille? Sie
alle demnach (der Pudel nach Schopenhauer ganz gewiß) fühlen und leiden
also auch menschlich, sind wie wir der Erlösung von diesem Leben, das ja
auch sie wollte«, bedürftig — ein Gedanke, den selbst das Christentum doch
nur einmal im Vorübergehen (Nömerbrief 8, 18 bis 22) auf die „unver¬
nünftige," auch „seufzende" Kreatur ausdehnt. Da können also nicht nur wir
leidende Brüder und Schwestern, mit oder ohne Vernunft, nichts Höheres thun,
nichts Tieferes angelegentlicher wollen, als uns gegenseitig leid zu thun, jeder
sich um den andern zu „kümmern," sondern die ganze Welt bis in Sirius¬
fernen ist in Leiden getaucht; die Harmonie der Sphären selbst ist eine un¬
geheure Dissonanz, und statt einen Dithyrambus des Daseins hören wir überall
als ?onäam<zuo ostiniiw wie im (ürnoilixuL der I4-mo11-Messe von I. S. Bach
das Thema „Weinen, Zagen, Sorgen, Klagen," das dort „der Christen
Thränenbrot" heißt, und für uns arme Erdenbewohner wäre es zunächst das
Beste, wenn der arme leidende Planet in die vernichtende Glut irgend einer
Sonne zurückstürzte, denn das geschähe doch wenigstens so schnell, daß wir
gar nicht Zeit hätten, erst noch zu „sterben." Da wäre uns doch dieses
Leiden und damit unsre andern alle abgenommen, und das Weltenelend bliebe
für sich, s-prös mein8. Denn: es bliebe! Mit dem Auge des Menschen würde
(nach Schopenhauer) die Welt nur als „Vorstellung" erlöschen, nicht als
„Wille," nicht als Leiden, nicht als ,.Sünde."

Der Gedanke von dem bessern Nichtsein der Welt ist aber der Art, daß er
weder den dänischen, noch den deutschen Bühnenpriester des „Pessimismus"
rechtfertigen kann; jenen nicht, weil der echte Pessimismus nicht so gemeint
ist, daß die Welt wegen des Schlechten, das in ihr ist, besser nicht wäre,
sondern so, daß mit allem Guten, allem Erfreulichen in ihr das Dnsein an


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[0472] Schopenhauer und Richard lVagner die Kirche schon vergessen hat, wurde von Schopenhauer noch verdüstert und zum Untergrunde alles Daseins gemacht, womit er denn freilich den Willen zum Gegenteil der Vernunft, alles Wollen an sich zur Unvernunft stempeln mußte. Dieses Dasein, dem das Nichtsein mit Hiob vorzuziehen sein soll, ist nach ihm Leiden, und der Grund von allein, was wir einander sein können, Mit-Leiden oder, was dasselbe ist, Mitleid, also daß jeder zu dem, was er in seiner Art zu leiden hat, noch freiwillig selbstvergessen mit erleidet, anfühlt, was der andre in seiner Art leidet. Und nun ist dieser Leiden schaffende Wille zum Leben nicht bloß des menschlichen Lebens und Daseins, sondern alles Seins und Werdens Urgrund. Wald und Fels, Luft und Wasser und alle Sterne des Himmels, auch unser unvernünftiger Bruder, das Tier, sie alle sind da, weil sie da sein zu wollen den sündlichen Drang empfanden; des Mondes Wille zum Dasein war vielleicht ein Heinischer, der des Waldes ein Lenauischer, der der Sterne ein Beethovenscher, der des Baumes ein Jean Paulischer, der des starrenden Felsens, des rauschenden Stromes, des Büchleins und der Linde ein Schubertscher, der des Pudels ein Faustischer Wille? Sie alle demnach (der Pudel nach Schopenhauer ganz gewiß) fühlen und leiden also auch menschlich, sind wie wir der Erlösung von diesem Leben, das ja auch sie wollte«, bedürftig — ein Gedanke, den selbst das Christentum doch nur einmal im Vorübergehen (Nömerbrief 8, 18 bis 22) auf die „unver¬ nünftige," auch „seufzende" Kreatur ausdehnt. Da können also nicht nur wir leidende Brüder und Schwestern, mit oder ohne Vernunft, nichts Höheres thun, nichts Tieferes angelegentlicher wollen, als uns gegenseitig leid zu thun, jeder sich um den andern zu „kümmern," sondern die ganze Welt bis in Sirius¬ fernen ist in Leiden getaucht; die Harmonie der Sphären selbst ist eine un¬ geheure Dissonanz, und statt einen Dithyrambus des Daseins hören wir überall als ?onäam<zuo ostiniiw wie im (ürnoilixuL der I4-mo11-Messe von I. S. Bach das Thema „Weinen, Zagen, Sorgen, Klagen," das dort „der Christen Thränenbrot" heißt, und für uns arme Erdenbewohner wäre es zunächst das Beste, wenn der arme leidende Planet in die vernichtende Glut irgend einer Sonne zurückstürzte, denn das geschähe doch wenigstens so schnell, daß wir gar nicht Zeit hätten, erst noch zu „sterben." Da wäre uns doch dieses Leiden und damit unsre andern alle abgenommen, und das Weltenelend bliebe für sich, s-prös mein8. Denn: es bliebe! Mit dem Auge des Menschen würde (nach Schopenhauer) die Welt nur als „Vorstellung" erlöschen, nicht als „Wille," nicht als Leiden, nicht als ,.Sünde." Der Gedanke von dem bessern Nichtsein der Welt ist aber der Art, daß er weder den dänischen, noch den deutschen Bühnenpriester des „Pessimismus" rechtfertigen kann; jenen nicht, weil der echte Pessimismus nicht so gemeint ist, daß die Welt wegen des Schlechten, das in ihr ist, besser nicht wäre, sondern so, daß mit allem Guten, allem Erfreulichen in ihr das Dnsein an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/472>, abgerufen am 22.07.2024.