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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Lin dunkles Kapitel der Kulturgeschichte

ständen noch die Vergnügungssucht, der Hang zu Putz und Luxus, das Lesen
frivoler Unterhaltungsschriften, so ist ven betreffenden Wesen der Weg zur ge¬
heimen Prostitution bereits vorgeschrieben.

Von allen diesen Gefahren sind aber die jede Unzucht befördernden
Wohnungsverhültnisse der untern Volksschichten die schlimmsten. Wer jemals
einen Einblick in diese unerhörten Zustände, selbst in kleinern Städten, gethan
hat, wer mit angesehen hat, wie in einem engen, unsaubern, verpesteten Raume
nicht weniger als drei Familien mit ihren Kindern bunt durch einander Hausen
und schlafen, der wird begreifen, daß man von einem hierin großgezogenen
Geschlecht keine sittlichen Begriffe erwarten darf. Hier hat der Staat vor
allem rücksichtslos einzugreifen und die Kinder nötigenfalls aus solcher gefähr¬
lichen Umgebung zu entfernen. Hier kann die Kirche ein praktisches Christentum
pflegen und den segensreichen Einfluß wiedererlangen, den sie leider auf unser
Volk immer mehr zu verlieren scheint. Hier ist das eigentliche Gebiet unsrer
Geistlichen, die gegenwärtig in der großen Zahl, dein Himmel seis geklagt! weiter
nichts als Prediger sind, nichts als Männer des Wortes, die ihre von Amts¬
handlungen sreie Zeit oft in allen möglichen Beschäftigungen, in Privatschulen,
in weltlichen Vereinen, in Musikkränzchen u. s. w. verzetteln, anstatt eine syste¬
matische und ersprießliche Seelsorge im Volke zu betreiben.

Auch die Schulen müssen unbedingt mehr auf das praktische Leben Rücksicht
nehmen; man sollte z. B. im Religionsunterricht weniger auf das Lernen und
Herleiern oft unverstandener Bibelstellen und Kirchenlieder hinarbeiten, als auf
das Verständnis und die Aneignung der christliche" Sittenlehre. Die ganze
Bibel dürften die Kinder überhaupt nicht in die Hand bekommen. Wer an
seine Schulzeit und den Konfirmandenunterricht zurückdenkt, wird das verstehen;
denn vor all den unsaubern Geschichten in der Bibel, auf die das Kinder¬
gemüt auch absichtslos stoßt, vergißt es alles Schöne und Edle in dem Buche
aller Bücher.

Unser ganzes Müdchenschnlwesen darf nicht einer zufälligen, willkürlichen
Entwicklung ausgesetzt sein, wie es in Preußen der Fall ist; die Regierung
muß die Ordnung und den Ausbau dieser Schulen selbst in die Hand nehmen
und nicht, wie es seit etwa zwanzig Jahren geschieht, beständig vor "unüber¬
windlichen Schwierigkeiten" zurückschrecken. Daran schließen sich noch andre
Forderungen: die Verufsarten für Frauen sind unbedingt zu vermehren und
die Geschäftsinhaber oder Fabrikbesitzer anzuhalten, auch für das sittliche Wohl
der Arbeiterinnen zu sorgen. Vor allen Dingen ist ans gesundheitlichen
Gründen die geheime Prostitution mit allen Mitteln zu unterdrücken, jedes
felle Frauenzimmer sofort unter polizeiliche und ärztliche Aufsicht zu stellen
und streng zu bestrafen, wenn es sich der Kontrolle entzieht. Den Prostituirten
muß der Dienst und Aufenthalt in öffentlichen Lokalen bei Strafe untersagt
und ihnen das Wohnen nur in bestimmten Stadtvierteln erlaubt sein. Denn


Lin dunkles Kapitel der Kulturgeschichte

ständen noch die Vergnügungssucht, der Hang zu Putz und Luxus, das Lesen
frivoler Unterhaltungsschriften, so ist ven betreffenden Wesen der Weg zur ge¬
heimen Prostitution bereits vorgeschrieben.

Von allen diesen Gefahren sind aber die jede Unzucht befördernden
Wohnungsverhültnisse der untern Volksschichten die schlimmsten. Wer jemals
einen Einblick in diese unerhörten Zustände, selbst in kleinern Städten, gethan
hat, wer mit angesehen hat, wie in einem engen, unsaubern, verpesteten Raume
nicht weniger als drei Familien mit ihren Kindern bunt durch einander Hausen
und schlafen, der wird begreifen, daß man von einem hierin großgezogenen
Geschlecht keine sittlichen Begriffe erwarten darf. Hier hat der Staat vor
allem rücksichtslos einzugreifen und die Kinder nötigenfalls aus solcher gefähr¬
lichen Umgebung zu entfernen. Hier kann die Kirche ein praktisches Christentum
pflegen und den segensreichen Einfluß wiedererlangen, den sie leider auf unser
Volk immer mehr zu verlieren scheint. Hier ist das eigentliche Gebiet unsrer
Geistlichen, die gegenwärtig in der großen Zahl, dein Himmel seis geklagt! weiter
nichts als Prediger sind, nichts als Männer des Wortes, die ihre von Amts¬
handlungen sreie Zeit oft in allen möglichen Beschäftigungen, in Privatschulen,
in weltlichen Vereinen, in Musikkränzchen u. s. w. verzetteln, anstatt eine syste¬
matische und ersprießliche Seelsorge im Volke zu betreiben.

Auch die Schulen müssen unbedingt mehr auf das praktische Leben Rücksicht
nehmen; man sollte z. B. im Religionsunterricht weniger auf das Lernen und
Herleiern oft unverstandener Bibelstellen und Kirchenlieder hinarbeiten, als auf
das Verständnis und die Aneignung der christliche» Sittenlehre. Die ganze
Bibel dürften die Kinder überhaupt nicht in die Hand bekommen. Wer an
seine Schulzeit und den Konfirmandenunterricht zurückdenkt, wird das verstehen;
denn vor all den unsaubern Geschichten in der Bibel, auf die das Kinder¬
gemüt auch absichtslos stoßt, vergißt es alles Schöne und Edle in dem Buche
aller Bücher.

Unser ganzes Müdchenschnlwesen darf nicht einer zufälligen, willkürlichen
Entwicklung ausgesetzt sein, wie es in Preußen der Fall ist; die Regierung
muß die Ordnung und den Ausbau dieser Schulen selbst in die Hand nehmen
und nicht, wie es seit etwa zwanzig Jahren geschieht, beständig vor „unüber¬
windlichen Schwierigkeiten" zurückschrecken. Daran schließen sich noch andre
Forderungen: die Verufsarten für Frauen sind unbedingt zu vermehren und
die Geschäftsinhaber oder Fabrikbesitzer anzuhalten, auch für das sittliche Wohl
der Arbeiterinnen zu sorgen. Vor allen Dingen ist ans gesundheitlichen
Gründen die geheime Prostitution mit allen Mitteln zu unterdrücken, jedes
felle Frauenzimmer sofort unter polizeiliche und ärztliche Aufsicht zu stellen
und streng zu bestrafen, wenn es sich der Kontrolle entzieht. Den Prostituirten
muß der Dienst und Aufenthalt in öffentlichen Lokalen bei Strafe untersagt
und ihnen das Wohnen nur in bestimmten Stadtvierteln erlaubt sein. Denn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/468>, abgerufen am 28.09.2024.