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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Gin dunkles Kapitel der Kulturgeschichte

der ausgemergelten Greise die Sprache, die Nngenirthcit, selbst das Parfüm
der gefeierten Cocotte angenommen hat, Soll man sich da noch über die Un¬
verschämtheit wundern, sagt der französische Arzt, womit am Ende dieses Jahr¬
hunderts die geheime Prostitution auftritt, die ihre Lebenskraft aus dem ver¬
derbten Zustande unsrer Sitten selbst zieht, und die man in solcher Ausdehnung
nur in den traurigsten Zeiten der Geschichte wiederfindet?

Wir haben zwar in Berlin noch keine Avenue de Villiers, keine Nile
Prony, leine Champs-Elis/;es, wo sich gegenwärtig die Hotels der Horizontalen
befinden, aber jeder Eingeweihte weiß, daß es auch in einigen Berliner, nament¬
lich in jüdischen Kreisen, schon zur vornehmen Gewohnheit gehört, neben der
eignen Frau noch eine Courtisane zu unterhalten. Das sind heillose Zustünde,
die den deutscheu Begriffen von Ehe und Familienleben geradezu ins Gesicht
schlagen und ans die man nicht früh genug die leitenden Personen aufmerksam
macheu kann. Mit polizeilichen Verordnungen und Gewaltmaßregeln wird
gegen diese sittlichen Verirrungen kaum etwas auszurichten sein; aus einem
Morast läßt sich kein Alpensee machen. Wer hier bessernd auftreten und wirken
will, der muß das Übel an der Wurzel anfassen und vor allen Dingen die
Quellen aufspüren und zu verstopfen suchen, aus denen die Prostitution gegen¬
wärtig ihre Zuflüsse erhält.

Die Gründe, die zu diesem Schandgewerbe führen, sind in allen Ländern
dieselben. Nur wenige Mädchen stürzen sich ans krankhaft gesteigerten Trieben
>" geschlechtliche Ausschweifungen, die große Mehrzahl wird durch äußere Um¬
stände auf abschüssige Wege geführt. Zu diesen Ursachen gehören vielfach die
""eheliche Geburt des Mädchens, deren Unsegen ihm zeitlebens anhaftet, die
beschränkten Wohnungsverhältnisse, die eine Vermischung der Geschlechter ohne
Altersunterschied und die allmähliche Unterdrückung jeglichen Schamgefühls zur
Folge haben, die nochmalige Verheiratung der Mutter oder des Vaters, wo¬
durch gewöhnlich die Stiefkinder aus dem Hause getrieben werden und jeden
natürlichen Halt verlieren. Ferner gehört dazu die mangelhafte Erziehung in
der Familie und in der Schule, die es versäumt, in den Mädchen ans klarem
Bewußtsein beruhende sittliche Grundsätze zu erwecken, oder ihnen gar eine
geistige Bildung zuführt, die in ihnen ungerechtfertigte Ansprüche hervorruft
und sie für das praktische Leben mit seinen oft untergeordneten Dienstleistungen
untauglich macht. Zu diesen schwerwiegenden Gründen kommen die wachsende
Überzahl der weiblichen Personen und der Mangel um Berufsarten für Frauen.
Daher die auffallende Erscheinung, daß überall unter den Prostituirten eine
große Zahl gebildeter Mädchen. Musiklehreriuncu, Erzieherinnen, Künst¬
lerinnen u. s. w. zu finden ist. Auch das ziemlich leichtfertige Leben in den
Geschäftsräumen, den Arbeitsstätten und den Fabriken trügt zur Untergrabung
der sittlichen Begriffe bedeutend bei. Der Gehalt oder der Wochenlohn der
Mädchen reicht selten zu ihrem Lebensunterhalte aus; kommt zu diesen Übel-


Gin dunkles Kapitel der Kulturgeschichte

der ausgemergelten Greise die Sprache, die Nngenirthcit, selbst das Parfüm
der gefeierten Cocotte angenommen hat, Soll man sich da noch über die Un¬
verschämtheit wundern, sagt der französische Arzt, womit am Ende dieses Jahr¬
hunderts die geheime Prostitution auftritt, die ihre Lebenskraft aus dem ver¬
derbten Zustande unsrer Sitten selbst zieht, und die man in solcher Ausdehnung
nur in den traurigsten Zeiten der Geschichte wiederfindet?

Wir haben zwar in Berlin noch keine Avenue de Villiers, keine Nile
Prony, leine Champs-Elis/;es, wo sich gegenwärtig die Hotels der Horizontalen
befinden, aber jeder Eingeweihte weiß, daß es auch in einigen Berliner, nament¬
lich in jüdischen Kreisen, schon zur vornehmen Gewohnheit gehört, neben der
eignen Frau noch eine Courtisane zu unterhalten. Das sind heillose Zustünde,
die den deutscheu Begriffen von Ehe und Familienleben geradezu ins Gesicht
schlagen und ans die man nicht früh genug die leitenden Personen aufmerksam
macheu kann. Mit polizeilichen Verordnungen und Gewaltmaßregeln wird
gegen diese sittlichen Verirrungen kaum etwas auszurichten sein; aus einem
Morast läßt sich kein Alpensee machen. Wer hier bessernd auftreten und wirken
will, der muß das Übel an der Wurzel anfassen und vor allen Dingen die
Quellen aufspüren und zu verstopfen suchen, aus denen die Prostitution gegen¬
wärtig ihre Zuflüsse erhält.

Die Gründe, die zu diesem Schandgewerbe führen, sind in allen Ländern
dieselben. Nur wenige Mädchen stürzen sich ans krankhaft gesteigerten Trieben
>" geschlechtliche Ausschweifungen, die große Mehrzahl wird durch äußere Um¬
stände auf abschüssige Wege geführt. Zu diesen Ursachen gehören vielfach die
"»eheliche Geburt des Mädchens, deren Unsegen ihm zeitlebens anhaftet, die
beschränkten Wohnungsverhältnisse, die eine Vermischung der Geschlechter ohne
Altersunterschied und die allmähliche Unterdrückung jeglichen Schamgefühls zur
Folge haben, die nochmalige Verheiratung der Mutter oder des Vaters, wo¬
durch gewöhnlich die Stiefkinder aus dem Hause getrieben werden und jeden
natürlichen Halt verlieren. Ferner gehört dazu die mangelhafte Erziehung in
der Familie und in der Schule, die es versäumt, in den Mädchen ans klarem
Bewußtsein beruhende sittliche Grundsätze zu erwecken, oder ihnen gar eine
geistige Bildung zuführt, die in ihnen ungerechtfertigte Ansprüche hervorruft
und sie für das praktische Leben mit seinen oft untergeordneten Dienstleistungen
untauglich macht. Zu diesen schwerwiegenden Gründen kommen die wachsende
Überzahl der weiblichen Personen und der Mangel um Berufsarten für Frauen.
Daher die auffallende Erscheinung, daß überall unter den Prostituirten eine
große Zahl gebildeter Mädchen. Musiklehreriuncu, Erzieherinnen, Künst¬
lerinnen u. s. w. zu finden ist. Auch das ziemlich leichtfertige Leben in den
Geschäftsräumen, den Arbeitsstätten und den Fabriken trügt zur Untergrabung
der sittlichen Begriffe bedeutend bei. Der Gehalt oder der Wochenlohn der
Mädchen reicht selten zu ihrem Lebensunterhalte aus; kommt zu diesen Übel-


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[0467] Gin dunkles Kapitel der Kulturgeschichte der ausgemergelten Greise die Sprache, die Nngenirthcit, selbst das Parfüm der gefeierten Cocotte angenommen hat, Soll man sich da noch über die Un¬ verschämtheit wundern, sagt der französische Arzt, womit am Ende dieses Jahr¬ hunderts die geheime Prostitution auftritt, die ihre Lebenskraft aus dem ver¬ derbten Zustande unsrer Sitten selbst zieht, und die man in solcher Ausdehnung nur in den traurigsten Zeiten der Geschichte wiederfindet? Wir haben zwar in Berlin noch keine Avenue de Villiers, keine Nile Prony, leine Champs-Elis/;es, wo sich gegenwärtig die Hotels der Horizontalen befinden, aber jeder Eingeweihte weiß, daß es auch in einigen Berliner, nament¬ lich in jüdischen Kreisen, schon zur vornehmen Gewohnheit gehört, neben der eignen Frau noch eine Courtisane zu unterhalten. Das sind heillose Zustünde, die den deutscheu Begriffen von Ehe und Familienleben geradezu ins Gesicht schlagen und ans die man nicht früh genug die leitenden Personen aufmerksam macheu kann. Mit polizeilichen Verordnungen und Gewaltmaßregeln wird gegen diese sittlichen Verirrungen kaum etwas auszurichten sein; aus einem Morast läßt sich kein Alpensee machen. Wer hier bessernd auftreten und wirken will, der muß das Übel an der Wurzel anfassen und vor allen Dingen die Quellen aufspüren und zu verstopfen suchen, aus denen die Prostitution gegen¬ wärtig ihre Zuflüsse erhält. Die Gründe, die zu diesem Schandgewerbe führen, sind in allen Ländern dieselben. Nur wenige Mädchen stürzen sich ans krankhaft gesteigerten Trieben >" geschlechtliche Ausschweifungen, die große Mehrzahl wird durch äußere Um¬ stände auf abschüssige Wege geführt. Zu diesen Ursachen gehören vielfach die "»eheliche Geburt des Mädchens, deren Unsegen ihm zeitlebens anhaftet, die beschränkten Wohnungsverhältnisse, die eine Vermischung der Geschlechter ohne Altersunterschied und die allmähliche Unterdrückung jeglichen Schamgefühls zur Folge haben, die nochmalige Verheiratung der Mutter oder des Vaters, wo¬ durch gewöhnlich die Stiefkinder aus dem Hause getrieben werden und jeden natürlichen Halt verlieren. Ferner gehört dazu die mangelhafte Erziehung in der Familie und in der Schule, die es versäumt, in den Mädchen ans klarem Bewußtsein beruhende sittliche Grundsätze zu erwecken, oder ihnen gar eine geistige Bildung zuführt, die in ihnen ungerechtfertigte Ansprüche hervorruft und sie für das praktische Leben mit seinen oft untergeordneten Dienstleistungen untauglich macht. Zu diesen schwerwiegenden Gründen kommen die wachsende Überzahl der weiblichen Personen und der Mangel um Berufsarten für Frauen. Daher die auffallende Erscheinung, daß überall unter den Prostituirten eine große Zahl gebildeter Mädchen. Musiklehreriuncu, Erzieherinnen, Künst¬ lerinnen u. s. w. zu finden ist. Auch das ziemlich leichtfertige Leben in den Geschäftsräumen, den Arbeitsstätten und den Fabriken trügt zur Untergrabung der sittlichen Begriffe bedeutend bei. Der Gehalt oder der Wochenlohn der Mädchen reicht selten zu ihrem Lebensunterhalte aus; kommt zu diesen Übel-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/467>, abgerufen am 22.07.2024.