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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Tendenzromane

gegen die .K'anvneli. Das ist die Schwäche ihres Buches, die sie selbst wohl
empfunden hat und daher durch eingeflochtene Episodenfiguren novellistischer
Art zu verdecken gesucht hat. Sie hat des Guten zuviel gethan. Sie hat
nicht Maß gehalten, sie wiederholt sich unnötigerweise, sie stellt die Geduld
des Lesers auf eine zu harte Probe. Sie hätte den Krieg mit weniger Auf¬
wand von Mitteln bekämpfen sollen, dann wäre auch die Wirkung wuchtiger
geworden.

Unterhaltender, darum anch wirksamer hat Friedrich Boettcher seine
Tendenz in dem Romane Or-i, <>t U>et>""ri>, dargestellt. Auch hier bewegen wir
uns in politischer Luft, die jüngste Gegenwart Deutschlands mit allen ihren
Parteien und Problemen wird uns vorgeführt; der Kampf gegen die Sozial-
demvtmtie, als ihr wichtigstes, steht in der Mitte. Boettcher steht auf dem
Standpunkte der Freikonservativen oder der Nationallibernlen. Er überschaut
die ganze Entwicklung der dentschen Nation seit dem Jahre 1848. Er hält
zu Kaiser und Reich, ist ein Anhänger Bismarcks, bleibt auf dem Boden des
Christentums und ist ein Renlist im vornehmen Sinne, wenn er die Kultur¬
entwicklung selbst "als die allmähliche Verwirklichung der göttlichen Welt-
ordnung" erklärt. Sein Christentum ist eine Religion der Liebe, der Duldung,
der heilige" Arbeit. Er rechnet voll der kaiserlichen Botschaft des Jahres 1881
an die neue Zeit, die Lösung der sozialen Fragen ist ihm die wichtigste Aus¬
gabe der Gegenwart. Der Weg der Svzialdemokmtie scheint ihm dabei der
nllerverkehrteste zu sein. Die rohen Leidenschaften entfachen, den Bürger¬
krieg entfesseln, die gesamte gesellschaftliche Ordnung umstürzen, wie es die
Sozialdemv traten wollen, das stellt er in seiner ganzen Unvernünftigkeit dar.
"Ich habe eingesehen, sagt der Held des Romans zum Schluß, daß jede ans
die Erregung eines besondern proletarischen Standesgefühls gerichtete Bewegung
von Übel ist. Möge der Staat fortfahren, die schlimmsten Härten in der Lage
der arbeitenden Klassen dnrch den Zwang des Gesetzes zu beseitigen! Die
Hauptsache aber ist, das; in die Kreise der Arbeiter wie der Arbeitgeber ein
andrer, ein gerechterer Geist einziehe: Genügsamkeit der Arbeiter und Achtung
der Arbeitgeber vor der Menschenwürde auch des letzten ihrer Leute. Die in
Deutschland auf beiden Seite" herrschende Gefühlsvergiftuug ist es, was geheilt
werden muß. Solveit ich zu sehe" vermag, giebt es kein andres Mittel, als
wenn in den obern Schichten der Egoismus wieder gedämpft wird durch edle
Nächstenliebe, und in deu untern an die Stelle des trostlosen Materialismus
wieder eine idealere Lebensauffassung tritt" n. s. w. Dialektisch durch Aus-
einandersetzungen des Helden mit sich selbst und den verschiednen Pnrteihäuptern
und dichterisch durch Schilderung der sozialdemokratischen Führer, der Unruhen
infolge von Streiks: so von zwei Seiten ans geht Boettcher der Sozialdemo¬
kratie zuleide. Und da er über eine nicht gewöhnliche Darstellungsgabe ver¬
fügt, so weiß er uns in Spannung zu erhalten. Spielhagen mag ihm wohl


Tendenzromane

gegen die .K'anvneli. Das ist die Schwäche ihres Buches, die sie selbst wohl
empfunden hat und daher durch eingeflochtene Episodenfiguren novellistischer
Art zu verdecken gesucht hat. Sie hat des Guten zuviel gethan. Sie hat
nicht Maß gehalten, sie wiederholt sich unnötigerweise, sie stellt die Geduld
des Lesers auf eine zu harte Probe. Sie hätte den Krieg mit weniger Auf¬
wand von Mitteln bekämpfen sollen, dann wäre auch die Wirkung wuchtiger
geworden.

Unterhaltender, darum anch wirksamer hat Friedrich Boettcher seine
Tendenz in dem Romane Or-i, <>t U>et>«»ri>, dargestellt. Auch hier bewegen wir
uns in politischer Luft, die jüngste Gegenwart Deutschlands mit allen ihren
Parteien und Problemen wird uns vorgeführt; der Kampf gegen die Sozial-
demvtmtie, als ihr wichtigstes, steht in der Mitte. Boettcher steht auf dem
Standpunkte der Freikonservativen oder der Nationallibernlen. Er überschaut
die ganze Entwicklung der dentschen Nation seit dem Jahre 1848. Er hält
zu Kaiser und Reich, ist ein Anhänger Bismarcks, bleibt auf dem Boden des
Christentums und ist ein Renlist im vornehmen Sinne, wenn er die Kultur¬
entwicklung selbst „als die allmähliche Verwirklichung der göttlichen Welt-
ordnung" erklärt. Sein Christentum ist eine Religion der Liebe, der Duldung,
der heilige» Arbeit. Er rechnet voll der kaiserlichen Botschaft des Jahres 1881
an die neue Zeit, die Lösung der sozialen Fragen ist ihm die wichtigste Aus¬
gabe der Gegenwart. Der Weg der Svzialdemokmtie scheint ihm dabei der
nllerverkehrteste zu sein. Die rohen Leidenschaften entfachen, den Bürger¬
krieg entfesseln, die gesamte gesellschaftliche Ordnung umstürzen, wie es die
Sozialdemv traten wollen, das stellt er in seiner ganzen Unvernünftigkeit dar.
„Ich habe eingesehen, sagt der Held des Romans zum Schluß, daß jede ans
die Erregung eines besondern proletarischen Standesgefühls gerichtete Bewegung
von Übel ist. Möge der Staat fortfahren, die schlimmsten Härten in der Lage
der arbeitenden Klassen dnrch den Zwang des Gesetzes zu beseitigen! Die
Hauptsache aber ist, das; in die Kreise der Arbeiter wie der Arbeitgeber ein
andrer, ein gerechterer Geist einziehe: Genügsamkeit der Arbeiter und Achtung
der Arbeitgeber vor der Menschenwürde auch des letzten ihrer Leute. Die in
Deutschland auf beiden Seite» herrschende Gefühlsvergiftuug ist es, was geheilt
werden muß. Solveit ich zu sehe» vermag, giebt es kein andres Mittel, als
wenn in den obern Schichten der Egoismus wieder gedämpft wird durch edle
Nächstenliebe, und in deu untern an die Stelle des trostlosen Materialismus
wieder eine idealere Lebensauffassung tritt" n. s. w. Dialektisch durch Aus-
einandersetzungen des Helden mit sich selbst und den verschiednen Pnrteihäuptern
und dichterisch durch Schilderung der sozialdemokratischen Führer, der Unruhen
infolge von Streiks: so von zwei Seiten ans geht Boettcher der Sozialdemo¬
kratie zuleide. Und da er über eine nicht gewöhnliche Darstellungsgabe ver¬
fügt, so weiß er uns in Spannung zu erhalten. Spielhagen mag ihm wohl


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[0044] Tendenzromane gegen die .K'anvneli. Das ist die Schwäche ihres Buches, die sie selbst wohl empfunden hat und daher durch eingeflochtene Episodenfiguren novellistischer Art zu verdecken gesucht hat. Sie hat des Guten zuviel gethan. Sie hat nicht Maß gehalten, sie wiederholt sich unnötigerweise, sie stellt die Geduld des Lesers auf eine zu harte Probe. Sie hätte den Krieg mit weniger Auf¬ wand von Mitteln bekämpfen sollen, dann wäre auch die Wirkung wuchtiger geworden. Unterhaltender, darum anch wirksamer hat Friedrich Boettcher seine Tendenz in dem Romane Or-i, <>t U>et>«»ri>, dargestellt. Auch hier bewegen wir uns in politischer Luft, die jüngste Gegenwart Deutschlands mit allen ihren Parteien und Problemen wird uns vorgeführt; der Kampf gegen die Sozial- demvtmtie, als ihr wichtigstes, steht in der Mitte. Boettcher steht auf dem Standpunkte der Freikonservativen oder der Nationallibernlen. Er überschaut die ganze Entwicklung der dentschen Nation seit dem Jahre 1848. Er hält zu Kaiser und Reich, ist ein Anhänger Bismarcks, bleibt auf dem Boden des Christentums und ist ein Renlist im vornehmen Sinne, wenn er die Kultur¬ entwicklung selbst „als die allmähliche Verwirklichung der göttlichen Welt- ordnung" erklärt. Sein Christentum ist eine Religion der Liebe, der Duldung, der heilige» Arbeit. Er rechnet voll der kaiserlichen Botschaft des Jahres 1881 an die neue Zeit, die Lösung der sozialen Fragen ist ihm die wichtigste Aus¬ gabe der Gegenwart. Der Weg der Svzialdemokmtie scheint ihm dabei der nllerverkehrteste zu sein. Die rohen Leidenschaften entfachen, den Bürger¬ krieg entfesseln, die gesamte gesellschaftliche Ordnung umstürzen, wie es die Sozialdemv traten wollen, das stellt er in seiner ganzen Unvernünftigkeit dar. „Ich habe eingesehen, sagt der Held des Romans zum Schluß, daß jede ans die Erregung eines besondern proletarischen Standesgefühls gerichtete Bewegung von Übel ist. Möge der Staat fortfahren, die schlimmsten Härten in der Lage der arbeitenden Klassen dnrch den Zwang des Gesetzes zu beseitigen! Die Hauptsache aber ist, das; in die Kreise der Arbeiter wie der Arbeitgeber ein andrer, ein gerechterer Geist einziehe: Genügsamkeit der Arbeiter und Achtung der Arbeitgeber vor der Menschenwürde auch des letzten ihrer Leute. Die in Deutschland auf beiden Seite» herrschende Gefühlsvergiftuug ist es, was geheilt werden muß. Solveit ich zu sehe» vermag, giebt es kein andres Mittel, als wenn in den obern Schichten der Egoismus wieder gedämpft wird durch edle Nächstenliebe, und in deu untern an die Stelle des trostlosen Materialismus wieder eine idealere Lebensauffassung tritt" n. s. w. Dialektisch durch Aus- einandersetzungen des Helden mit sich selbst und den verschiednen Pnrteihäuptern und dichterisch durch Schilderung der sozialdemokratischen Führer, der Unruhen infolge von Streiks: so von zwei Seiten ans geht Boettcher der Sozialdemo¬ kratie zuleide. Und da er über eine nicht gewöhnliche Darstellungsgabe ver¬ fügt, so weiß er uns in Spannung zu erhalten. Spielhagen mag ihm wohl

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/44>, abgerufen am 27.12.2024.