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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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bezeichnet die Stelle. Schade, daß der Gedanke nicht früher jemandem ge¬
kommen ist! Zur Zeit der Werthermanie, wo die empfindsame Jugend sich in
blauen Frack, gelbe Weste und gelbe Beinkleider hüllte, wären sicher ganze Scharen
an den heiligen Ort gewnllfahret.

Goethe blieb nur den Sommer über in Wetzlar. Er wohnte in einer
der engsten und schmutzigsten Gassen, der Gewandsgnsse, in einem dumpfigen,
häßlichen Hause; eine Gedenktafel unter dem Fenster seines niedrigen Zimmers
erinnert an seinen Aufenthalt. Man begreift kaum, wie der verwöhnte Frank¬
furter Patriziersohn sich hat entschließen können, eine solche Wohnung zu be¬
ziehen. Aber einerseits war die Stadt stets sehr überfüllt, und es hieß vor¬
lieb nehmen, anderseits scheint man nach allem damals überhaupt uicht das
Bedürfnis empfunden zu haben, frei und luftig zu wohnen: die vielen engen
und dunkeln Gassen aus früherer Zeit sind ein sprechendes Zeugnis dafür.

Das Gasthaus "Zum Kronprinzen," wo Goethe nach seiner Erzählung
in "Wahrheit und Dichtung" an phantastischer, das steife Zeremoniell des
Neichskammergerichtskreises karrikirender Rittertafel seine Mittagsmahlzeiten
einnahm, besteht als solches nicht mehr. Dagegen steht, wenige Schritte von
des Dichters ehemaliger Wohnung, in feinem ursprünglichen Aussehen unver¬
ändert ein kleines, unscheinbares Häuschen, dessen Inschrift die mannichfachsten
Erinnerungen wachruft: "In diesem Hanse wurde Charlotte Sophie Henriette
Buff am 11. Januar 1753 geboren" -- heißt es in chrvnikartiger Kürze. Es
ist das alte deutsche Ordenshaus, oder vielmehr ein Seitenbau desselben. Hier
wohnte der Amtmann des deutschen Ordens, Buff, und hier lebte und wirkte
Goethes Lotte, die den früh verwaisten kleinern Geschwistern Mutterstelle ver¬
trat. Das Haus ist Besuchern zugänglich; noch jetzt zeigt man verschiedne
Sachen, die Lotten gehört haben oder von ihr gearbeitet worden sind: ein
Spinett, auf dem sie Goethe ihre einfachen "himmelsüßen" Melodien vorgespielt,
Stickereien u. a. Der Dichter sah die Geliebte zum erstenmal in dem Wetzlar
benachbarten Dorfe Volpertshausen, als sie schon die Braut des Legations-
sekretärs Kestner war. "Mehrere junge Leute hatten einen Ball angestellt, zu
dem ich mich auch willig finden ließ" -- erzählt er in Werthers Leiden. Das
Haus, wo Goethe damals mit Lotte getanzt und das eigentümliche Liebes¬
verhältnis zu Dreien angeknüpft hat, steht noch heutigen Tages.

Auch sein "Wahlheim" liegt nahe vor den Thoren der Stadt: es ist
das Dörfchen Garbenheim. "Die Lage an einem. Hügel ist sehr interessant,
und wenn man von oben auf dem Fußpfad zum Dorfe herausgeht, übersieht
man auf einmal das ganze Thal." Auf dem Platze vor der Kirche, unter
dem Schatten zweier mächtigen Linden verträumte der Dichter manche Stunde,
spielte mit den Kindern, unterhielt sich freundlich mit den Erwachsenen und
las feinen geliebten Homer. Es giebt in Wetzlar noch Leute, die "die gute
Wirtin, die gefällig und munter in ihrem Alter" war, noch persönlich gekannt


bezeichnet die Stelle. Schade, daß der Gedanke nicht früher jemandem ge¬
kommen ist! Zur Zeit der Werthermanie, wo die empfindsame Jugend sich in
blauen Frack, gelbe Weste und gelbe Beinkleider hüllte, wären sicher ganze Scharen
an den heiligen Ort gewnllfahret.

Goethe blieb nur den Sommer über in Wetzlar. Er wohnte in einer
der engsten und schmutzigsten Gassen, der Gewandsgnsse, in einem dumpfigen,
häßlichen Hause; eine Gedenktafel unter dem Fenster seines niedrigen Zimmers
erinnert an seinen Aufenthalt. Man begreift kaum, wie der verwöhnte Frank¬
furter Patriziersohn sich hat entschließen können, eine solche Wohnung zu be¬
ziehen. Aber einerseits war die Stadt stets sehr überfüllt, und es hieß vor¬
lieb nehmen, anderseits scheint man nach allem damals überhaupt uicht das
Bedürfnis empfunden zu haben, frei und luftig zu wohnen: die vielen engen
und dunkeln Gassen aus früherer Zeit sind ein sprechendes Zeugnis dafür.

Das Gasthaus „Zum Kronprinzen," wo Goethe nach seiner Erzählung
in „Wahrheit und Dichtung" an phantastischer, das steife Zeremoniell des
Neichskammergerichtskreises karrikirender Rittertafel seine Mittagsmahlzeiten
einnahm, besteht als solches nicht mehr. Dagegen steht, wenige Schritte von
des Dichters ehemaliger Wohnung, in feinem ursprünglichen Aussehen unver¬
ändert ein kleines, unscheinbares Häuschen, dessen Inschrift die mannichfachsten
Erinnerungen wachruft: „In diesem Hanse wurde Charlotte Sophie Henriette
Buff am 11. Januar 1753 geboren" — heißt es in chrvnikartiger Kürze. Es
ist das alte deutsche Ordenshaus, oder vielmehr ein Seitenbau desselben. Hier
wohnte der Amtmann des deutschen Ordens, Buff, und hier lebte und wirkte
Goethes Lotte, die den früh verwaisten kleinern Geschwistern Mutterstelle ver¬
trat. Das Haus ist Besuchern zugänglich; noch jetzt zeigt man verschiedne
Sachen, die Lotten gehört haben oder von ihr gearbeitet worden sind: ein
Spinett, auf dem sie Goethe ihre einfachen „himmelsüßen" Melodien vorgespielt,
Stickereien u. a. Der Dichter sah die Geliebte zum erstenmal in dem Wetzlar
benachbarten Dorfe Volpertshausen, als sie schon die Braut des Legations-
sekretärs Kestner war. „Mehrere junge Leute hatten einen Ball angestellt, zu
dem ich mich auch willig finden ließ" — erzählt er in Werthers Leiden. Das
Haus, wo Goethe damals mit Lotte getanzt und das eigentümliche Liebes¬
verhältnis zu Dreien angeknüpft hat, steht noch heutigen Tages.

Auch sein „Wahlheim" liegt nahe vor den Thoren der Stadt: es ist
das Dörfchen Garbenheim. „Die Lage an einem. Hügel ist sehr interessant,
und wenn man von oben auf dem Fußpfad zum Dorfe herausgeht, übersieht
man auf einmal das ganze Thal." Auf dem Platze vor der Kirche, unter
dem Schatten zweier mächtigen Linden verträumte der Dichter manche Stunde,
spielte mit den Kindern, unterhielt sich freundlich mit den Erwachsenen und
las feinen geliebten Homer. Es giebt in Wetzlar noch Leute, die „die gute
Wirtin, die gefällig und munter in ihrem Alter" war, noch persönlich gekannt


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[0414] bezeichnet die Stelle. Schade, daß der Gedanke nicht früher jemandem ge¬ kommen ist! Zur Zeit der Werthermanie, wo die empfindsame Jugend sich in blauen Frack, gelbe Weste und gelbe Beinkleider hüllte, wären sicher ganze Scharen an den heiligen Ort gewnllfahret. Goethe blieb nur den Sommer über in Wetzlar. Er wohnte in einer der engsten und schmutzigsten Gassen, der Gewandsgnsse, in einem dumpfigen, häßlichen Hause; eine Gedenktafel unter dem Fenster seines niedrigen Zimmers erinnert an seinen Aufenthalt. Man begreift kaum, wie der verwöhnte Frank¬ furter Patriziersohn sich hat entschließen können, eine solche Wohnung zu be¬ ziehen. Aber einerseits war die Stadt stets sehr überfüllt, und es hieß vor¬ lieb nehmen, anderseits scheint man nach allem damals überhaupt uicht das Bedürfnis empfunden zu haben, frei und luftig zu wohnen: die vielen engen und dunkeln Gassen aus früherer Zeit sind ein sprechendes Zeugnis dafür. Das Gasthaus „Zum Kronprinzen," wo Goethe nach seiner Erzählung in „Wahrheit und Dichtung" an phantastischer, das steife Zeremoniell des Neichskammergerichtskreises karrikirender Rittertafel seine Mittagsmahlzeiten einnahm, besteht als solches nicht mehr. Dagegen steht, wenige Schritte von des Dichters ehemaliger Wohnung, in feinem ursprünglichen Aussehen unver¬ ändert ein kleines, unscheinbares Häuschen, dessen Inschrift die mannichfachsten Erinnerungen wachruft: „In diesem Hanse wurde Charlotte Sophie Henriette Buff am 11. Januar 1753 geboren" — heißt es in chrvnikartiger Kürze. Es ist das alte deutsche Ordenshaus, oder vielmehr ein Seitenbau desselben. Hier wohnte der Amtmann des deutschen Ordens, Buff, und hier lebte und wirkte Goethes Lotte, die den früh verwaisten kleinern Geschwistern Mutterstelle ver¬ trat. Das Haus ist Besuchern zugänglich; noch jetzt zeigt man verschiedne Sachen, die Lotten gehört haben oder von ihr gearbeitet worden sind: ein Spinett, auf dem sie Goethe ihre einfachen „himmelsüßen" Melodien vorgespielt, Stickereien u. a. Der Dichter sah die Geliebte zum erstenmal in dem Wetzlar benachbarten Dorfe Volpertshausen, als sie schon die Braut des Legations- sekretärs Kestner war. „Mehrere junge Leute hatten einen Ball angestellt, zu dem ich mich auch willig finden ließ" — erzählt er in Werthers Leiden. Das Haus, wo Goethe damals mit Lotte getanzt und das eigentümliche Liebes¬ verhältnis zu Dreien angeknüpft hat, steht noch heutigen Tages. Auch sein „Wahlheim" liegt nahe vor den Thoren der Stadt: es ist das Dörfchen Garbenheim. „Die Lage an einem. Hügel ist sehr interessant, und wenn man von oben auf dem Fußpfad zum Dorfe herausgeht, übersieht man auf einmal das ganze Thal." Auf dem Platze vor der Kirche, unter dem Schatten zweier mächtigen Linden verträumte der Dichter manche Stunde, spielte mit den Kindern, unterhielt sich freundlich mit den Erwachsenen und las feinen geliebten Homer. Es giebt in Wetzlar noch Leute, die „die gute Wirtin, die gefällig und munter in ihrem Alter" war, noch persönlich gekannt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/414>, abgerufen am 28.12.2024.