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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Ans der Stadt des Reichskammergerichts

Preußen würde man sie Referendare nennen. Das Reichskammergericht hat
unter diesen Praktikanten innerhalb der kurzen Frist von fünf Jahren zwei
Männer gehabt, auf die noch heute jeder Deutsche stolz ist. Ju der Matrikel,
in die sich nach dem Brauch des Gerichts die Praktikanten eintragen mußten,
liest man unter Ur. 956:


Johann Wolfgang Goethe von Frfurt am Mayn 25 May 1772

und wenige Seiten später, unter Ur. 1106, findet sich der Eintrag:


Horrrioug l^riäoricus (Ärolns as Lehm sont. d. se s,"*)

Der Freiherr von Stein ist sehr fleißig gewesen. Dagegen versichert man,
daß sich die Thätigkeit Goethes beim Gericht so ziemlich auf jenen Eintrag in
die Matrikel beschränkt habe. Wenigstens hat man, trotz aller Nachforschungen,
keine Arbeiten von ihm in den Akten des Reichskammergerichts aufgefunden.
Er wäre auch ein schlechter Advokat geworden: von all meinen Fähigkeiten ist
die Jurisprudenz der geringsten eine, sagt er selbst. Um so thätiger war der
Dichter. Ist doch Wetzlar der Schauplatz der Leiden des jungen Werthers!
Man redete damals viel von dem traurigen Schicksal des braunschweigischen
Legationssekretärs Jerusalem, den gekränkter Ehrgeiz und unglückliche Liebe zu
der Gattin eines Freundes in deu Tod getrieben hatten. Obwohl Goethe ihm
im Leben ziemlich fern gestanden, ihn nie bei sich, selten bei andern gesehen
hatte, so war er doch von dem Selbstmorde des hoffnungsvollen jungen
Mannes tief ergriffen, und eine gewisse Ähnlichkeit zwischen eignen Erlebnissen
und Jerusalems Geschick trieb ihn, den Vorgang dichterisch zu verwerten und
dadurch zugleich sich selbst von dem Liebesbann zu losen, in dein ihn die
Braut eines andern, des hannöverschen Legationssekretärs ^"^) Kestner, ver¬
strickt hielt.

Wohl mehr um des Dichters und seiner Schöpfung, als um Jerusalems
willen ist an dem Hause, wo sich "Werther" erschossen hat, eine Gedenktafel
angebracht wordeu. Vergeblich hat man sich neuerdings bemüht, das Grab
Jerusalems auf dem Wetzlarer Kirchhof aufzufinden. Der Stein, der den Un¬
glücklichen deckte, ist längst zerfallen, und die "zwei Lindenbünme hinten in
der Ecke nach dem Felde zu," unter denen Werther nach seinem letzten Wunsch
angeblich begraben worden sein soll, sind nicht mehr vorhanden. Ein schwär¬
merisches Gemüt hat geglaubt, das Grab in dein benachbarten Garbenheim,
dem "Wahlheim" Werthers, entdeckt zu haben, und hat den Manen des Toten
ne einem dortigen Wirtsgarten einen Grabhügel geschichtet: eine Trauerweide




*) D. h. an demselben Tage desselben Jahres wie der Vorgänger, nämlich am 30. Mai 1777.
**) Zur Erklärung des Titels "LegationssekretNr" sei bemerkt, daß zu Goethes Zeit das
Reichskammergericht durch eine außerordentliche "Bisitationskommission" revidirt wurde. Diese
Kommission setzte sich zusammen aus Abgesandten der einzelnen Präsentanten, "ut die ihnen
beigegebenen Sekretäre hießen Legationssekretäre.
Ans der Stadt des Reichskammergerichts

Preußen würde man sie Referendare nennen. Das Reichskammergericht hat
unter diesen Praktikanten innerhalb der kurzen Frist von fünf Jahren zwei
Männer gehabt, auf die noch heute jeder Deutsche stolz ist. Ju der Matrikel,
in die sich nach dem Brauch des Gerichts die Praktikanten eintragen mußten,
liest man unter Ur. 956:


Johann Wolfgang Goethe von Frfurt am Mayn 25 May 1772

und wenige Seiten später, unter Ur. 1106, findet sich der Eintrag:


Horrrioug l^riäoricus (Ärolns as Lehm sont. d. se s,"*)

Der Freiherr von Stein ist sehr fleißig gewesen. Dagegen versichert man,
daß sich die Thätigkeit Goethes beim Gericht so ziemlich auf jenen Eintrag in
die Matrikel beschränkt habe. Wenigstens hat man, trotz aller Nachforschungen,
keine Arbeiten von ihm in den Akten des Reichskammergerichts aufgefunden.
Er wäre auch ein schlechter Advokat geworden: von all meinen Fähigkeiten ist
die Jurisprudenz der geringsten eine, sagt er selbst. Um so thätiger war der
Dichter. Ist doch Wetzlar der Schauplatz der Leiden des jungen Werthers!
Man redete damals viel von dem traurigen Schicksal des braunschweigischen
Legationssekretärs Jerusalem, den gekränkter Ehrgeiz und unglückliche Liebe zu
der Gattin eines Freundes in deu Tod getrieben hatten. Obwohl Goethe ihm
im Leben ziemlich fern gestanden, ihn nie bei sich, selten bei andern gesehen
hatte, so war er doch von dem Selbstmorde des hoffnungsvollen jungen
Mannes tief ergriffen, und eine gewisse Ähnlichkeit zwischen eignen Erlebnissen
und Jerusalems Geschick trieb ihn, den Vorgang dichterisch zu verwerten und
dadurch zugleich sich selbst von dem Liebesbann zu losen, in dein ihn die
Braut eines andern, des hannöverschen Legationssekretärs ^"^) Kestner, ver¬
strickt hielt.

Wohl mehr um des Dichters und seiner Schöpfung, als um Jerusalems
willen ist an dem Hause, wo sich „Werther" erschossen hat, eine Gedenktafel
angebracht wordeu. Vergeblich hat man sich neuerdings bemüht, das Grab
Jerusalems auf dem Wetzlarer Kirchhof aufzufinden. Der Stein, der den Un¬
glücklichen deckte, ist längst zerfallen, und die „zwei Lindenbünme hinten in
der Ecke nach dem Felde zu," unter denen Werther nach seinem letzten Wunsch
angeblich begraben worden sein soll, sind nicht mehr vorhanden. Ein schwär¬
merisches Gemüt hat geglaubt, das Grab in dein benachbarten Garbenheim,
dem „Wahlheim" Werthers, entdeckt zu haben, und hat den Manen des Toten
ne einem dortigen Wirtsgarten einen Grabhügel geschichtet: eine Trauerweide




*) D. h. an demselben Tage desselben Jahres wie der Vorgänger, nämlich am 30. Mai 1777.
**) Zur Erklärung des Titels „LegationssekretNr" sei bemerkt, daß zu Goethes Zeit das
Reichskammergericht durch eine außerordentliche „Bisitationskommission" revidirt wurde. Diese
Kommission setzte sich zusammen aus Abgesandten der einzelnen Präsentanten, »ut die ihnen
beigegebenen Sekretäre hießen Legationssekretäre.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/413>, abgerufen am 29.06.2024.