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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Noch einmal das Sozialistengcsetz

Litteratur und die dagegen ergriffenen Maßnahmen angestellt hatte. Vielleicht
darf man aber auch bei aller Bescheidenheit die Frage auswerfen, ob denn die
Aufhebung der Verfügung einer untergeordneten Behörde durch eine höhere
Instanz immer als Beweis einer fehlerhafte" Entscheidung oder Maßnahme
der untern Instanz gelten kann. Die Sachen nehmen im Beschwerdeverfahren
eine mit der Höhe der Instanz sich steigernde Abblasfung der Farben an,
sodaß eine Menge Punkte, die in erster Instanz maßgebend sein mußten, oben
gar nicht mehr zur Erscheinung kommeu. Man kann getrost sagen, daß gar
manche Vcschwerdeinstanz der ersten Instanz entsprechend entscheiden würde,
wenn die Angelegenheit sich vor der erkennenden Behörde selbst abgespielt hätte.
Es kommt aber auch, namentlich bei politischen Behörden, öfters vor, daß in
den obern Instanzen andre Anschauungen maßgebend werden, ohne daß die
untern Instanzen davon Kenntnis erhalten, sodaß diese nach den bisherigen
Anweisungen und Entscheidungen weiter Verfahren und erst recht spät bei Ge¬
legenheit eiues zufälligen Spezialfalles von der Änderung in den Anschauungen
der maßgebenden Behörden Kunde erlangen, indem thuen eine früher für
richtig befundene Verfügung nun als unbegründet aufgehoben wird. Es ist
wahrlich kein Grund dazu vorhanden, aus der Aufhebung eines mäßigen
Prozentsatzes polizeilicher Verfügungen Anlaß zum Mißtrauen gegen die Po¬
lizeibehörden zu entnehmen, ebenso wenig wie nun unsre Gerichte für unzu-
verlässig hält, obwohl doch die abweichende Entscheidung derselben Sache in ver¬
schiedenen Instanzen durchaus nicht zu den Seltenheiten gehört. Sonach dürsten
die Vorwürfe gegen das Gesetz und dessen Handhabung in sich zusammen
fallen, wie ja auch die Handhabung des Ausweisungsparagraphen ausdrücklich
als rücksichtsvoll anerkannt worden ist.

Wie wird es nun uach Wegfall des Sozialistengesetzes werden? Wer das
Gesetz für schädlich hält, muß natürlich annehmen, daß nach der Wegräumung
dieses Steines des Anstoßes eitel Wohlbehagen im Reiche einziehen wird.
Wohl die überwiegende Mehrheit giebt sich aber solchen Hoffnungen uicht hin,
sondern sieht der Zukunft nicht ohne Bedenken entgegen. Wenn von denen,
die wesentlich zum Fall des Gesetzes beigetragen haben, nun der Regierung die
Verantwortung dafür zugeschoben werden soll, weil sie dem Reichstage das
Gesetz nicht noch einmal vorgelegt habe, so kann dies nur einen etwas eigen¬
tümlichen Eindruck hervorrufen, läßt aber durchblicken, daß denen, die sich dieser
Schlußfolgerung bedienen, selbst vor ihrem eignen Werke bange wird und sie
die Verantwortung dafür gern auf andre Schultern wälzen möchten.

Andre halten den Wegfall des Sozialistengesetzes für nützlich, weil infolge
der dann entstehenden Freiheit der bisher verborgen gehaltene Giftstoff offen
hervortreten und der dadurch bewirkte Zustand auch dem blödesten Auge die
Notwendigkeit der jetzt bei der nicht genügend verbreiteten Kenntnis des Nbels
für überflüssig gehaltenen Beschränkungen der Freiheit der sozialdemokratischen


Noch einmal das Sozialistengcsetz

Litteratur und die dagegen ergriffenen Maßnahmen angestellt hatte. Vielleicht
darf man aber auch bei aller Bescheidenheit die Frage auswerfen, ob denn die
Aufhebung der Verfügung einer untergeordneten Behörde durch eine höhere
Instanz immer als Beweis einer fehlerhafte» Entscheidung oder Maßnahme
der untern Instanz gelten kann. Die Sachen nehmen im Beschwerdeverfahren
eine mit der Höhe der Instanz sich steigernde Abblasfung der Farben an,
sodaß eine Menge Punkte, die in erster Instanz maßgebend sein mußten, oben
gar nicht mehr zur Erscheinung kommeu. Man kann getrost sagen, daß gar
manche Vcschwerdeinstanz der ersten Instanz entsprechend entscheiden würde,
wenn die Angelegenheit sich vor der erkennenden Behörde selbst abgespielt hätte.
Es kommt aber auch, namentlich bei politischen Behörden, öfters vor, daß in
den obern Instanzen andre Anschauungen maßgebend werden, ohne daß die
untern Instanzen davon Kenntnis erhalten, sodaß diese nach den bisherigen
Anweisungen und Entscheidungen weiter Verfahren und erst recht spät bei Ge¬
legenheit eiues zufälligen Spezialfalles von der Änderung in den Anschauungen
der maßgebenden Behörden Kunde erlangen, indem thuen eine früher für
richtig befundene Verfügung nun als unbegründet aufgehoben wird. Es ist
wahrlich kein Grund dazu vorhanden, aus der Aufhebung eines mäßigen
Prozentsatzes polizeilicher Verfügungen Anlaß zum Mißtrauen gegen die Po¬
lizeibehörden zu entnehmen, ebenso wenig wie nun unsre Gerichte für unzu-
verlässig hält, obwohl doch die abweichende Entscheidung derselben Sache in ver¬
schiedenen Instanzen durchaus nicht zu den Seltenheiten gehört. Sonach dürsten
die Vorwürfe gegen das Gesetz und dessen Handhabung in sich zusammen
fallen, wie ja auch die Handhabung des Ausweisungsparagraphen ausdrücklich
als rücksichtsvoll anerkannt worden ist.

Wie wird es nun uach Wegfall des Sozialistengesetzes werden? Wer das
Gesetz für schädlich hält, muß natürlich annehmen, daß nach der Wegräumung
dieses Steines des Anstoßes eitel Wohlbehagen im Reiche einziehen wird.
Wohl die überwiegende Mehrheit giebt sich aber solchen Hoffnungen uicht hin,
sondern sieht der Zukunft nicht ohne Bedenken entgegen. Wenn von denen,
die wesentlich zum Fall des Gesetzes beigetragen haben, nun der Regierung die
Verantwortung dafür zugeschoben werden soll, weil sie dem Reichstage das
Gesetz nicht noch einmal vorgelegt habe, so kann dies nur einen etwas eigen¬
tümlichen Eindruck hervorrufen, läßt aber durchblicken, daß denen, die sich dieser
Schlußfolgerung bedienen, selbst vor ihrem eignen Werke bange wird und sie
die Verantwortung dafür gern auf andre Schultern wälzen möchten.

Andre halten den Wegfall des Sozialistengesetzes für nützlich, weil infolge
der dann entstehenden Freiheit der bisher verborgen gehaltene Giftstoff offen
hervortreten und der dadurch bewirkte Zustand auch dem blödesten Auge die
Notwendigkeit der jetzt bei der nicht genügend verbreiteten Kenntnis des Nbels
für überflüssig gehaltenen Beschränkungen der Freiheit der sozialdemokratischen


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[0403] Noch einmal das Sozialistengcsetz Litteratur und die dagegen ergriffenen Maßnahmen angestellt hatte. Vielleicht darf man aber auch bei aller Bescheidenheit die Frage auswerfen, ob denn die Aufhebung der Verfügung einer untergeordneten Behörde durch eine höhere Instanz immer als Beweis einer fehlerhafte» Entscheidung oder Maßnahme der untern Instanz gelten kann. Die Sachen nehmen im Beschwerdeverfahren eine mit der Höhe der Instanz sich steigernde Abblasfung der Farben an, sodaß eine Menge Punkte, die in erster Instanz maßgebend sein mußten, oben gar nicht mehr zur Erscheinung kommeu. Man kann getrost sagen, daß gar manche Vcschwerdeinstanz der ersten Instanz entsprechend entscheiden würde, wenn die Angelegenheit sich vor der erkennenden Behörde selbst abgespielt hätte. Es kommt aber auch, namentlich bei politischen Behörden, öfters vor, daß in den obern Instanzen andre Anschauungen maßgebend werden, ohne daß die untern Instanzen davon Kenntnis erhalten, sodaß diese nach den bisherigen Anweisungen und Entscheidungen weiter Verfahren und erst recht spät bei Ge¬ legenheit eiues zufälligen Spezialfalles von der Änderung in den Anschauungen der maßgebenden Behörden Kunde erlangen, indem thuen eine früher für richtig befundene Verfügung nun als unbegründet aufgehoben wird. Es ist wahrlich kein Grund dazu vorhanden, aus der Aufhebung eines mäßigen Prozentsatzes polizeilicher Verfügungen Anlaß zum Mißtrauen gegen die Po¬ lizeibehörden zu entnehmen, ebenso wenig wie nun unsre Gerichte für unzu- verlässig hält, obwohl doch die abweichende Entscheidung derselben Sache in ver¬ schiedenen Instanzen durchaus nicht zu den Seltenheiten gehört. Sonach dürsten die Vorwürfe gegen das Gesetz und dessen Handhabung in sich zusammen fallen, wie ja auch die Handhabung des Ausweisungsparagraphen ausdrücklich als rücksichtsvoll anerkannt worden ist. Wie wird es nun uach Wegfall des Sozialistengesetzes werden? Wer das Gesetz für schädlich hält, muß natürlich annehmen, daß nach der Wegräumung dieses Steines des Anstoßes eitel Wohlbehagen im Reiche einziehen wird. Wohl die überwiegende Mehrheit giebt sich aber solchen Hoffnungen uicht hin, sondern sieht der Zukunft nicht ohne Bedenken entgegen. Wenn von denen, die wesentlich zum Fall des Gesetzes beigetragen haben, nun der Regierung die Verantwortung dafür zugeschoben werden soll, weil sie dem Reichstage das Gesetz nicht noch einmal vorgelegt habe, so kann dies nur einen etwas eigen¬ tümlichen Eindruck hervorrufen, läßt aber durchblicken, daß denen, die sich dieser Schlußfolgerung bedienen, selbst vor ihrem eignen Werke bange wird und sie die Verantwortung dafür gern auf andre Schultern wälzen möchten. Andre halten den Wegfall des Sozialistengesetzes für nützlich, weil infolge der dann entstehenden Freiheit der bisher verborgen gehaltene Giftstoff offen hervortreten und der dadurch bewirkte Zustand auch dem blödesten Auge die Notwendigkeit der jetzt bei der nicht genügend verbreiteten Kenntnis des Nbels für überflüssig gehaltenen Beschränkungen der Freiheit der sozialdemokratischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/403>, abgerufen am 29.06.2024.