Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.Noch einmal das Socialistengesetz auch reichlich genützt. Geht doch überhaupt die Erziehung darauf aus, die Aber nicht nur das Gesetz selbst, sondern namentlich auch seine Anwendung Noch einmal das Socialistengesetz auch reichlich genützt. Geht doch überhaupt die Erziehung darauf aus, die Aber nicht nur das Gesetz selbst, sondern namentlich auch seine Anwendung <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0402" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207697"/> <fw type="header" place="top"> Noch einmal das Socialistengesetz</fw><lb/> <p xml:id="ID_1092" prev="#ID_1091"> auch reichlich genützt. Geht doch überhaupt die Erziehung darauf aus, die<lb/> fortschreitende Entwicklung des Menschengeschlechts in ruhigere Bahnen zu<lb/> leiten und darin zu erhalten, nicht aber sie zu hemmen. Wer jetzt der Ansicht<lb/> ist, daß diese erziehende Seite des Sozialistengesetzes so gering anzuschlagen sei,<lb/> der werfe einmal einen Blick in die sozialdemokratischen Zeitungen, wie sie<lb/> vor dem Erlaß des Sozialistengesetzes erschienen, der lese die Berichte über<lb/> die svzialdemvkrntischen Versammlungen aus jeuer Zeit, von andern Dingen zu<lb/> schweigen, und er wird gewiß das Irrtümliche seiner Ansicht einsehen. Auch<lb/> der so schrecklich geschilderte Ausweislingsparagraph soll keinen Nutzen gehabt,<lb/> vielmehr nur die sozialistische Bewegung aus den großen Städten in die Pro¬<lb/> vinz getrieben haben. Nun ist es ja richtig, daß ein ausgewiesener Sozial-<lb/> demokrnt leicht an seinem neuen Aufenthaltsorte der Mittelpunkt einer Bewegung<lb/> werden konnte; er wurde es aber nicht immer, viele haben sich nach erfolgter<lb/> Ausweisung sehr ruhig verhalten. War aber den Hanptlenkern der Bewegung<lb/> daran gelegen, diese an irgend einem Orte hervorzurufen, so brachten sie das,<lb/> wie jeder, der mit diese» Angelegenheiten zu thun gehabt hat, bezeugen kann,<lb/> anch ohne die Mithilfe ausgewiesener Aufreizer fertig. Umgekehrt bot der Alls¬<lb/> weisungsparagraph auch die willkommene Gelegenheit, die ärgsten Wühler aus<lb/> den kleinern Orten fortzuschaffen, indem man ihnen auch dort den Aufenthalt<lb/> versagte, und es ist eigentlich merkwürdig, daß dieser wichtige Punkt bei den<lb/> Verhandlungen über das Sozialisteugesetz so gar nicht hervorgehoben worden ist.<lb/> Wenn man schließlich den: Gesetze gar zum Vorwurf macht, es habe die Arbeiter<lb/> gereizt und deshalb die Aufhebung verdient, dann muß man folgerichtig alle<lb/> Gesetze für fehlerhaft erklären, die in irgend einer Weise der freien Bewegung<lb/> eine notwendig erscheinende Schranke setzen; denn jeder, der hierdurch seine<lb/> freie Bewegung gehemmt sieht, wird dadurch mehr oder weniger verstimmt<lb/> oder gereizt werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1093" next="#ID_1094"> Aber nicht nur das Gesetz selbst, sondern namentlich auch seine Anwendung<lb/> ist oft und insbesondre bei den Neichstagsverhandlungen über den letzten Ent¬<lb/> wurf lebhaft getadelt worden, auch von solchen, von denen man mehr auf eine<lb/> Unterstützung der Behörden hätte rechnen sollen, und derartige Vorwürfe sind<lb/> auch aufrecht erhalten worden, obwohl ihnen der Minister Herrfurth, gewiß<lb/> ein klassischer Zeuge, aufs kräftigste entgegentrat. Hätte man doch über die<lb/> Handhabung des Sozialistengesetzes statistische Angaben verlangt, die gar nicht<lb/> so schwer zu beschaffen gewesen wären! Man hätte z. V. feststellen sollen, wie<lb/> viele sozialdemokratische Versammlungen überhaupt abgehalten worden sind, wie<lb/> viele davon ausgelost oder verboten worden sind, gegen wie viele dieser Auf¬<lb/> lösungen und Verbote Beschwerde erhoben ist, und wie viele von diesen Be¬<lb/> schwerden endlich von Erfolg begleitet gewesen sind. Es würde sich dann eine<lb/> verschwindend kleine Zahl ergeben haben. Ein ähnliches Verhältnis Hütte sich<lb/> ergeben, wenn man Erhebungen über die Erzeugnisse der sozialdemvkratischeii</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0402]
Noch einmal das Socialistengesetz
auch reichlich genützt. Geht doch überhaupt die Erziehung darauf aus, die
fortschreitende Entwicklung des Menschengeschlechts in ruhigere Bahnen zu
leiten und darin zu erhalten, nicht aber sie zu hemmen. Wer jetzt der Ansicht
ist, daß diese erziehende Seite des Sozialistengesetzes so gering anzuschlagen sei,
der werfe einmal einen Blick in die sozialdemokratischen Zeitungen, wie sie
vor dem Erlaß des Sozialistengesetzes erschienen, der lese die Berichte über
die svzialdemvkrntischen Versammlungen aus jeuer Zeit, von andern Dingen zu
schweigen, und er wird gewiß das Irrtümliche seiner Ansicht einsehen. Auch
der so schrecklich geschilderte Ausweislingsparagraph soll keinen Nutzen gehabt,
vielmehr nur die sozialistische Bewegung aus den großen Städten in die Pro¬
vinz getrieben haben. Nun ist es ja richtig, daß ein ausgewiesener Sozial-
demokrnt leicht an seinem neuen Aufenthaltsorte der Mittelpunkt einer Bewegung
werden konnte; er wurde es aber nicht immer, viele haben sich nach erfolgter
Ausweisung sehr ruhig verhalten. War aber den Hanptlenkern der Bewegung
daran gelegen, diese an irgend einem Orte hervorzurufen, so brachten sie das,
wie jeder, der mit diese» Angelegenheiten zu thun gehabt hat, bezeugen kann,
anch ohne die Mithilfe ausgewiesener Aufreizer fertig. Umgekehrt bot der Alls¬
weisungsparagraph auch die willkommene Gelegenheit, die ärgsten Wühler aus
den kleinern Orten fortzuschaffen, indem man ihnen auch dort den Aufenthalt
versagte, und es ist eigentlich merkwürdig, daß dieser wichtige Punkt bei den
Verhandlungen über das Sozialisteugesetz so gar nicht hervorgehoben worden ist.
Wenn man schließlich den: Gesetze gar zum Vorwurf macht, es habe die Arbeiter
gereizt und deshalb die Aufhebung verdient, dann muß man folgerichtig alle
Gesetze für fehlerhaft erklären, die in irgend einer Weise der freien Bewegung
eine notwendig erscheinende Schranke setzen; denn jeder, der hierdurch seine
freie Bewegung gehemmt sieht, wird dadurch mehr oder weniger verstimmt
oder gereizt werden.
Aber nicht nur das Gesetz selbst, sondern namentlich auch seine Anwendung
ist oft und insbesondre bei den Neichstagsverhandlungen über den letzten Ent¬
wurf lebhaft getadelt worden, auch von solchen, von denen man mehr auf eine
Unterstützung der Behörden hätte rechnen sollen, und derartige Vorwürfe sind
auch aufrecht erhalten worden, obwohl ihnen der Minister Herrfurth, gewiß
ein klassischer Zeuge, aufs kräftigste entgegentrat. Hätte man doch über die
Handhabung des Sozialistengesetzes statistische Angaben verlangt, die gar nicht
so schwer zu beschaffen gewesen wären! Man hätte z. V. feststellen sollen, wie
viele sozialdemokratische Versammlungen überhaupt abgehalten worden sind, wie
viele davon ausgelost oder verboten worden sind, gegen wie viele dieser Auf¬
lösungen und Verbote Beschwerde erhoben ist, und wie viele von diesen Be¬
schwerden endlich von Erfolg begleitet gewesen sind. Es würde sich dann eine
verschwindend kleine Zahl ergeben haben. Ein ähnliches Verhältnis Hütte sich
ergeben, wenn man Erhebungen über die Erzeugnisse der sozialdemvkratischeii
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