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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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seiner Arbeiter gegenüber in die Unmöglichkeit versetzt sieht, weiter arbeiten
zu lassen, hat der Spaß ein Ende, die Bewegung zerplatzt und vergeht wie
eine Blase. Es würde uicht das erstemal sein, das; sozialistische Bewegungen
dieses Ende genommen haben. Die Zigarrenarbeiter in Magdeburg, Halber¬
stadt, Wernigerode und Vraunschweig, die mit ihrem Arbeiternachweisungs-
bürean ganz unmögliche Bedingungen gestellt hatten, haben bereits bittere Erfah¬
rungen machen müssen. Hier hat die Welle des Sozialismus bereits ihren
Höhepunkt erreicht und kippt über.

Es ist kein Grund zur Mutlosigkeit vorhanden, sofern es sich um die
eigentliche soziale Krankheit handelt. Aber die Lage erscheint bedenklich genug,
wenn wir bemerken, daß wir es im Grunde mit einer tiefern und weiter ver¬
breiteten Volkskrankheit zu thun haben, der Verwilderung, deren eigentliche
Wurzeln im Familienleben liegen. Die Aufgabe ist eine volkspädagogische.
Es ist in der That eine staatliche Aufgabe. Denn offenbar muß, wo die
Kraft des Einzelnen nicht ausreicht, die Kraft der Gesamtheit eintreten, das
ist doch der Sinn jeder Staatsaufgabe. Wenn die Gesamtheit den Entschluß
nicht fände, einzugreifen, dann wäre die Lage hoffnungslos. Der Staat, dessen
Aufgaben man anf "Nachtwächterdienste" beschränkt hat, kann es freilich nicht,
aber von unserm preußischen, monarchischen, christlichen Staate hoffen wir mit
Zuversicht, daß er der Staat, Kirche und Familie auflösenden Strömung werde
Herr werden. Der Staat hat in dein Menschenalter nach dem dreißigjährigen
Kriege schon einmal die Aufgabe gehabt, die aus den Fugen gegangene Gesell¬
schaft nen zu ordnen, es liegt ihm jetzt, nachdem man der Selbstbestimmung
des Einzelnen einen größern Raum gegeben hat, als ihm gut war und er
vertragen konnte, die Aufgabe ob, die Zügel straffer anzuziehen und das Gewicht
seines Ansehens dn einzusetzen, wo der Einzelne das eigne Ansehen nicht zu
wahren vermag. An die Rücksichtslosigkeiten des Absolutismus jener Zeiten,
an den Korporalstock Friedrich Wilhelms I. denken wir nicht, jede Zeit hat
ihre eigne Art und ihre eignen Mittel; aber doch an kräftigere und tiefer
greifende Maßnahmen, als sie in der eben dein Reichstage vorliegenden Gewerbe-
nvvelle vorgeschlagen werden. Da soll den Eltern, um ihre elterliche Autorität
zu stärken, gestattet sein, die Arbeitsbücher ihrer Kinder einzufordern und ein¬
zusehen. Ob das etwas helfen wird? Wenn wir es mit Eltern zu thun
hätten, die ihre Elternrechte ausübten, so wäre der Notstand überhaupt nicht
vorhanden.

Vor allem aber müßte der Staat bei sich selber anfangen, er müßte seine
Negiernngsmaschine straffer und zuverlässiger einrichten und deu Schwerpunkt
mehr auf die Seite der Lokalbehörden legen. Die Stärkung der Autorität
an Haupt und Gliedern, das ists, was uns not thut.




seiner Arbeiter gegenüber in die Unmöglichkeit versetzt sieht, weiter arbeiten
zu lassen, hat der Spaß ein Ende, die Bewegung zerplatzt und vergeht wie
eine Blase. Es würde uicht das erstemal sein, das; sozialistische Bewegungen
dieses Ende genommen haben. Die Zigarrenarbeiter in Magdeburg, Halber¬
stadt, Wernigerode und Vraunschweig, die mit ihrem Arbeiternachweisungs-
bürean ganz unmögliche Bedingungen gestellt hatten, haben bereits bittere Erfah¬
rungen machen müssen. Hier hat die Welle des Sozialismus bereits ihren
Höhepunkt erreicht und kippt über.

Es ist kein Grund zur Mutlosigkeit vorhanden, sofern es sich um die
eigentliche soziale Krankheit handelt. Aber die Lage erscheint bedenklich genug,
wenn wir bemerken, daß wir es im Grunde mit einer tiefern und weiter ver¬
breiteten Volkskrankheit zu thun haben, der Verwilderung, deren eigentliche
Wurzeln im Familienleben liegen. Die Aufgabe ist eine volkspädagogische.
Es ist in der That eine staatliche Aufgabe. Denn offenbar muß, wo die
Kraft des Einzelnen nicht ausreicht, die Kraft der Gesamtheit eintreten, das
ist doch der Sinn jeder Staatsaufgabe. Wenn die Gesamtheit den Entschluß
nicht fände, einzugreifen, dann wäre die Lage hoffnungslos. Der Staat, dessen
Aufgaben man anf „Nachtwächterdienste" beschränkt hat, kann es freilich nicht,
aber von unserm preußischen, monarchischen, christlichen Staate hoffen wir mit
Zuversicht, daß er der Staat, Kirche und Familie auflösenden Strömung werde
Herr werden. Der Staat hat in dein Menschenalter nach dem dreißigjährigen
Kriege schon einmal die Aufgabe gehabt, die aus den Fugen gegangene Gesell¬
schaft nen zu ordnen, es liegt ihm jetzt, nachdem man der Selbstbestimmung
des Einzelnen einen größern Raum gegeben hat, als ihm gut war und er
vertragen konnte, die Aufgabe ob, die Zügel straffer anzuziehen und das Gewicht
seines Ansehens dn einzusetzen, wo der Einzelne das eigne Ansehen nicht zu
wahren vermag. An die Rücksichtslosigkeiten des Absolutismus jener Zeiten,
an den Korporalstock Friedrich Wilhelms I. denken wir nicht, jede Zeit hat
ihre eigne Art und ihre eignen Mittel; aber doch an kräftigere und tiefer
greifende Maßnahmen, als sie in der eben dein Reichstage vorliegenden Gewerbe-
nvvelle vorgeschlagen werden. Da soll den Eltern, um ihre elterliche Autorität
zu stärken, gestattet sein, die Arbeitsbücher ihrer Kinder einzufordern und ein¬
zusehen. Ob das etwas helfen wird? Wenn wir es mit Eltern zu thun
hätten, die ihre Elternrechte ausübten, so wäre der Notstand überhaupt nicht
vorhanden.

Vor allem aber müßte der Staat bei sich selber anfangen, er müßte seine
Negiernngsmaschine straffer und zuverlässiger einrichten und deu Schwerpunkt
mehr auf die Seite der Lokalbehörden legen. Die Stärkung der Autorität
an Haupt und Gliedern, das ists, was uns not thut.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/400>, abgerufen am 28.09.2024.