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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die Aufgabe der Gegenwart

das möglich? Sehr einfach: der Herr Amtsrat zahlt alle Sonntage seine
Mark fünfzig Pfennige Strafe, was für ihn gar nichts bedeutet. Und die
staatliche Behörde giebt sich mit solcher Verhöhnung ihres eignen Gesetzes zu¬
frieden! Übertretung und Strafe heben sich, um weiteres kümmert man sich
nicht. Aber welchen Eindruck machen solche Vorgänge ans die ganze Gegend!
Was sagt man dazu, daß sich ein Staatsanwalt und mehrere Juristen, die
gern einen verbotenen Weg gehen wollten, bereit erklärten, die Strafe im
voraus zu hinterlegen? Das läßt tief blicken, sagt Sabor. In einer
thüringischen Stadt besteht die Pvlizeiverordnung, daß mit so und so viel
bestraft wird, wer Mist aus seinem Wagen fallen läßt. Um, fährt ein
Bäuerlein Mist ab, der mehr Jauche ist, und zieht durch die ganze Stadt
seine duftende Linie. Er wird polizeilich bestraft, aber gerichtlich freigesprochen,
weil der Mist herausgestossen -- nicht herabgefallen sei. Es sind Hauptkerls, die
Herren Juristen. Es soll nicht behauptet werden, daß Entscheidungen wie die
eben angeführte die Regel seien; aber das in die Angen springende Beispiel
läßt erkennen, wie weit sich juristisches Denken von dein natürlichen, gesunden
Menschenverstande entsernen kann. Wir brauchen Juristen, die etwas mehr
verstehen als ihre Juristerei, die auch die schwere Kunst üben, bisweilen
zu vergessen, daß sie Juristen sind, und zu denken und zu sehen wie gewöhn-
liehe Menschenkinder. Wenigstens ist vorderhand noch nicht zu erwarten, daß
sich die Welt zu einer rein juristischen umgestalten werde. Es ist durchaus
nötig, die juristische Allmacht in den verschiednen Gebieten der Verwaltung
zu beschränken und den nicht juristischen Mitgliedern der Räte, den technische"
Beamten die nötige Freiheit und das nötige Gewicht zu verschaffen. Wir
brauchen ein sachliches Regiment.

Was ist denu die Aufgabe? Sozialdemokratin zu bekehren ist nicht die
Aufgabe, denn das würde ein undurchführbares Unternehmen sein; aber die
Vevölkerungsschichten, die noch nicht uubekehrbar geworden sind, von den un¬
verbesserlichen zu trennen und sie vor weiteren Verfalle zu bewahren, das ist
die Aufgabe. Es ist wunderbar, mit welchem Fanatismus jene Weltverbesserer
an ihre "Religion" glauben. Ein protestantischer Bischof hat schon vor fünf¬
undzwanzig Jahren diesen begeisterten Glauben, der einer bessern Sache würdig
wäre, mit dein der ersten Christen verglichen. Das ist zu günstig geurteilt,
^ber man könnte ihn mit dem eiues Spekulanten vergleichen, der seinen letzten
Groschen eingesetzt hat, und der mit Hartnäckigkeit an seinen Erfolg glaubt.
Denn wenn er nicht Erfolg hat was dann? Gründe helfen nicht, Vernunft
6lebt nicht, wo eine so leidenschaftliche Begehrlichkeit dawider redet, und wo
scheinbare Erfolge zu neuen Thaten anspornen. Auch die Erfüllung berechtigter
Wünsche wird nichts helfen. Die nltiinu, ratio ist auch nicht die Kanone,
sondern der Hunger. Wir befinden uns vielleicht in größerer Nähe dieser
^ntscheidnng, als man glaubt. Sobald sich der Arbeitgeber den Forderungen


Die Aufgabe der Gegenwart

das möglich? Sehr einfach: der Herr Amtsrat zahlt alle Sonntage seine
Mark fünfzig Pfennige Strafe, was für ihn gar nichts bedeutet. Und die
staatliche Behörde giebt sich mit solcher Verhöhnung ihres eignen Gesetzes zu¬
frieden! Übertretung und Strafe heben sich, um weiteres kümmert man sich
nicht. Aber welchen Eindruck machen solche Vorgänge ans die ganze Gegend!
Was sagt man dazu, daß sich ein Staatsanwalt und mehrere Juristen, die
gern einen verbotenen Weg gehen wollten, bereit erklärten, die Strafe im
voraus zu hinterlegen? Das läßt tief blicken, sagt Sabor. In einer
thüringischen Stadt besteht die Pvlizeiverordnung, daß mit so und so viel
bestraft wird, wer Mist aus seinem Wagen fallen läßt. Um, fährt ein
Bäuerlein Mist ab, der mehr Jauche ist, und zieht durch die ganze Stadt
seine duftende Linie. Er wird polizeilich bestraft, aber gerichtlich freigesprochen,
weil der Mist herausgestossen — nicht herabgefallen sei. Es sind Hauptkerls, die
Herren Juristen. Es soll nicht behauptet werden, daß Entscheidungen wie die
eben angeführte die Regel seien; aber das in die Angen springende Beispiel
läßt erkennen, wie weit sich juristisches Denken von dein natürlichen, gesunden
Menschenverstande entsernen kann. Wir brauchen Juristen, die etwas mehr
verstehen als ihre Juristerei, die auch die schwere Kunst üben, bisweilen
zu vergessen, daß sie Juristen sind, und zu denken und zu sehen wie gewöhn-
liehe Menschenkinder. Wenigstens ist vorderhand noch nicht zu erwarten, daß
sich die Welt zu einer rein juristischen umgestalten werde. Es ist durchaus
nötig, die juristische Allmacht in den verschiednen Gebieten der Verwaltung
zu beschränken und den nicht juristischen Mitgliedern der Räte, den technische»
Beamten die nötige Freiheit und das nötige Gewicht zu verschaffen. Wir
brauchen ein sachliches Regiment.

Was ist denu die Aufgabe? Sozialdemokratin zu bekehren ist nicht die
Aufgabe, denn das würde ein undurchführbares Unternehmen sein; aber die
Vevölkerungsschichten, die noch nicht uubekehrbar geworden sind, von den un¬
verbesserlichen zu trennen und sie vor weiteren Verfalle zu bewahren, das ist
die Aufgabe. Es ist wunderbar, mit welchem Fanatismus jene Weltverbesserer
an ihre „Religion" glauben. Ein protestantischer Bischof hat schon vor fünf¬
undzwanzig Jahren diesen begeisterten Glauben, der einer bessern Sache würdig
wäre, mit dein der ersten Christen verglichen. Das ist zu günstig geurteilt,
^ber man könnte ihn mit dem eiues Spekulanten vergleichen, der seinen letzten
Groschen eingesetzt hat, und der mit Hartnäckigkeit an seinen Erfolg glaubt.
Denn wenn er nicht Erfolg hat was dann? Gründe helfen nicht, Vernunft
6lebt nicht, wo eine so leidenschaftliche Begehrlichkeit dawider redet, und wo
scheinbare Erfolge zu neuen Thaten anspornen. Auch die Erfüllung berechtigter
Wünsche wird nichts helfen. Die nltiinu, ratio ist auch nicht die Kanone,
sondern der Hunger. Wir befinden uns vielleicht in größerer Nähe dieser
^ntscheidnng, als man glaubt. Sobald sich der Arbeitgeber den Forderungen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/399>, abgerufen am 28.12.2024.