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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Bismarck und die sozialpolitische Gesetzgebung

Unsre Aufgabe hat es hier nicht sein sollen, eine Kritik der Vorlage zu
geben, die der .Kaiser mit so großem Ernst in den Vordergrund der Reichstngs-
nrbeiten gestellt hat. Manche Bestimmung muß von vornherein jedes menschen¬
freundliche Herz für sich einnehmen, so die Forderung, daß auch im Handel
die Arbeit Sonntags nicht über fünf Stunden dauern solle; Tausende von
Handelsbeflisseneu werden dem Kaiser dankbar sein, wenn ihnen die Gabe ge¬
boten wird, daß sie allsonntäglich ein paar Stunden Erholung und Freiheit
genießen können. Auch im Eisenbahn- und Postbetriebe wird die vergönnte
Sonntagsruhe für viele Tausende eine beglückende, bisher mir wenig gekannte
Wohlthat sein. Einer der heilsamsten Gedanken der ganzen Vorlage ist die
Kontrole, die Vätern und Vormündern über unmündige Arbeiter gegeben
werden soll. Ihre Art ist ziemlich begrenzt, doch ist es immer ein Anfang,
eine xg-tila potsstW wieder geltend zu machen, deren fast gänzliches Aufgeben
in der Arbeiterwelt geradezu verheerend gewirkt hat. Denn die Erscheinung,
die sich jetzt bei allen Aufständen zeigt, daß Bursche, die kaum flügge geworden
sind, dein reifen Alter Vorschriften zugehen lassen, durch die sie ganze Familien
ruiniren, würde unmöglich sein, wenn nicht alle und jede väterliche Gewalt
über sie von dein Augenblick an aufhörte, wo sie mit dein Eintritt in die Fabrik
durch Allszahlung des Lohnes an sie ihre wirtschaftliche Scheinselbständigkeit
gewinnen. Die Kontrole müßte aber dadurch erweitert werden, daß die jungen
Leute auch der Aufsicht und Leitung des Fabrikherrn unterworfen würden,
daß diesem eine gewisse Überwachung in der Lebensführung zuzusprechen wäre.
Wie man sich vor solcher Überwachung schellen kann, ist unbegreiflich. Der
Student steht unter einer solchen ihrer Disziplinargewalt, die Rektor und
Senat über ihn haben, der junge Offizier wird in seiner Lebensführung von
seinen Vorgesetzten gerade so überwacht, wie der angehende Beamte. Und
das sind junge Leute von ganz andrer sittlicher Kraft zur Selbständigkeit, als
der unmündige junge Arbeiter. Der Gedanke der Vorlage ist also noch frucht¬
barer zu machen und weiter auszudehnen. Dankbar anzuerkennen ist aber,
daß wenigstens ein Anfang gemacht worden ist. Die Besonnenheit, mit der
der Entwurf ausgearbeitet ist, giebt sich auch darin zu erkennen, daß eine Be¬
stimmung über die Arbeitszeit der Erwachsenen, also der Normalarbeitstag
fehlt. Es ist wohl keine Frage, daß das absichtlich geschehen ist, und das mit
Recht. Die Feststellung einer Normalarbeitszeit kann gar nicht nach einem
einzigen Maße und für alle Arbeiter geschehen. Es muß dem Arbeiter frei¬
gestellt bleiben, im Einverständnis mit dem Arbeitgeber die Arbeitszeit zu
regeln. Der Wunsch nach einer Nvrmalarbeitszeit geht auch, darin stimmt
das Urteil der Fabrikinspektoren überein, nur von jenem kleinen Teile der
Arbeiter aus, die bei wellig Arbeitsstunden hohen Lohn beanspruchen. Wie
diese dazu kommen, den Normalarbeitstag zu wünschen, natürlich den acht¬
stündigen, das sagt der Jahresbericht der sächsischen Gelverbeinspektoren aus


Grenzbvte" II 1M0 45
Bismarck und die sozialpolitische Gesetzgebung

Unsre Aufgabe hat es hier nicht sein sollen, eine Kritik der Vorlage zu
geben, die der .Kaiser mit so großem Ernst in den Vordergrund der Reichstngs-
nrbeiten gestellt hat. Manche Bestimmung muß von vornherein jedes menschen¬
freundliche Herz für sich einnehmen, so die Forderung, daß auch im Handel
die Arbeit Sonntags nicht über fünf Stunden dauern solle; Tausende von
Handelsbeflisseneu werden dem Kaiser dankbar sein, wenn ihnen die Gabe ge¬
boten wird, daß sie allsonntäglich ein paar Stunden Erholung und Freiheit
genießen können. Auch im Eisenbahn- und Postbetriebe wird die vergönnte
Sonntagsruhe für viele Tausende eine beglückende, bisher mir wenig gekannte
Wohlthat sein. Einer der heilsamsten Gedanken der ganzen Vorlage ist die
Kontrole, die Vätern und Vormündern über unmündige Arbeiter gegeben
werden soll. Ihre Art ist ziemlich begrenzt, doch ist es immer ein Anfang,
eine xg-tila potsstW wieder geltend zu machen, deren fast gänzliches Aufgeben
in der Arbeiterwelt geradezu verheerend gewirkt hat. Denn die Erscheinung,
die sich jetzt bei allen Aufständen zeigt, daß Bursche, die kaum flügge geworden
sind, dein reifen Alter Vorschriften zugehen lassen, durch die sie ganze Familien
ruiniren, würde unmöglich sein, wenn nicht alle und jede väterliche Gewalt
über sie von dein Augenblick an aufhörte, wo sie mit dein Eintritt in die Fabrik
durch Allszahlung des Lohnes an sie ihre wirtschaftliche Scheinselbständigkeit
gewinnen. Die Kontrole müßte aber dadurch erweitert werden, daß die jungen
Leute auch der Aufsicht und Leitung des Fabrikherrn unterworfen würden,
daß diesem eine gewisse Überwachung in der Lebensführung zuzusprechen wäre.
Wie man sich vor solcher Überwachung schellen kann, ist unbegreiflich. Der
Student steht unter einer solchen ihrer Disziplinargewalt, die Rektor und
Senat über ihn haben, der junge Offizier wird in seiner Lebensführung von
seinen Vorgesetzten gerade so überwacht, wie der angehende Beamte. Und
das sind junge Leute von ganz andrer sittlicher Kraft zur Selbständigkeit, als
der unmündige junge Arbeiter. Der Gedanke der Vorlage ist also noch frucht¬
barer zu machen und weiter auszudehnen. Dankbar anzuerkennen ist aber,
daß wenigstens ein Anfang gemacht worden ist. Die Besonnenheit, mit der
der Entwurf ausgearbeitet ist, giebt sich auch darin zu erkennen, daß eine Be¬
stimmung über die Arbeitszeit der Erwachsenen, also der Normalarbeitstag
fehlt. Es ist wohl keine Frage, daß das absichtlich geschehen ist, und das mit
Recht. Die Feststellung einer Normalarbeitszeit kann gar nicht nach einem
einzigen Maße und für alle Arbeiter geschehen. Es muß dem Arbeiter frei¬
gestellt bleiben, im Einverständnis mit dem Arbeitgeber die Arbeitszeit zu
regeln. Der Wunsch nach einer Nvrmalarbeitszeit geht auch, darin stimmt
das Urteil der Fabrikinspektoren überein, nur von jenem kleinen Teile der
Arbeiter aus, die bei wellig Arbeitsstunden hohen Lohn beanspruchen. Wie
diese dazu kommen, den Normalarbeitstag zu wünschen, natürlich den acht¬
stündigen, das sagt der Jahresbericht der sächsischen Gelverbeinspektoren aus


Grenzbvte» II 1M0 45
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[0361] Bismarck und die sozialpolitische Gesetzgebung Unsre Aufgabe hat es hier nicht sein sollen, eine Kritik der Vorlage zu geben, die der .Kaiser mit so großem Ernst in den Vordergrund der Reichstngs- nrbeiten gestellt hat. Manche Bestimmung muß von vornherein jedes menschen¬ freundliche Herz für sich einnehmen, so die Forderung, daß auch im Handel die Arbeit Sonntags nicht über fünf Stunden dauern solle; Tausende von Handelsbeflisseneu werden dem Kaiser dankbar sein, wenn ihnen die Gabe ge¬ boten wird, daß sie allsonntäglich ein paar Stunden Erholung und Freiheit genießen können. Auch im Eisenbahn- und Postbetriebe wird die vergönnte Sonntagsruhe für viele Tausende eine beglückende, bisher mir wenig gekannte Wohlthat sein. Einer der heilsamsten Gedanken der ganzen Vorlage ist die Kontrole, die Vätern und Vormündern über unmündige Arbeiter gegeben werden soll. Ihre Art ist ziemlich begrenzt, doch ist es immer ein Anfang, eine xg-tila potsstW wieder geltend zu machen, deren fast gänzliches Aufgeben in der Arbeiterwelt geradezu verheerend gewirkt hat. Denn die Erscheinung, die sich jetzt bei allen Aufständen zeigt, daß Bursche, die kaum flügge geworden sind, dein reifen Alter Vorschriften zugehen lassen, durch die sie ganze Familien ruiniren, würde unmöglich sein, wenn nicht alle und jede väterliche Gewalt über sie von dein Augenblick an aufhörte, wo sie mit dein Eintritt in die Fabrik durch Allszahlung des Lohnes an sie ihre wirtschaftliche Scheinselbständigkeit gewinnen. Die Kontrole müßte aber dadurch erweitert werden, daß die jungen Leute auch der Aufsicht und Leitung des Fabrikherrn unterworfen würden, daß diesem eine gewisse Überwachung in der Lebensführung zuzusprechen wäre. Wie man sich vor solcher Überwachung schellen kann, ist unbegreiflich. Der Student steht unter einer solchen ihrer Disziplinargewalt, die Rektor und Senat über ihn haben, der junge Offizier wird in seiner Lebensführung von seinen Vorgesetzten gerade so überwacht, wie der angehende Beamte. Und das sind junge Leute von ganz andrer sittlicher Kraft zur Selbständigkeit, als der unmündige junge Arbeiter. Der Gedanke der Vorlage ist also noch frucht¬ barer zu machen und weiter auszudehnen. Dankbar anzuerkennen ist aber, daß wenigstens ein Anfang gemacht worden ist. Die Besonnenheit, mit der der Entwurf ausgearbeitet ist, giebt sich auch darin zu erkennen, daß eine Be¬ stimmung über die Arbeitszeit der Erwachsenen, also der Normalarbeitstag fehlt. Es ist wohl keine Frage, daß das absichtlich geschehen ist, und das mit Recht. Die Feststellung einer Normalarbeitszeit kann gar nicht nach einem einzigen Maße und für alle Arbeiter geschehen. Es muß dem Arbeiter frei¬ gestellt bleiben, im Einverständnis mit dem Arbeitgeber die Arbeitszeit zu regeln. Der Wunsch nach einer Nvrmalarbeitszeit geht auch, darin stimmt das Urteil der Fabrikinspektoren überein, nur von jenem kleinen Teile der Arbeiter aus, die bei wellig Arbeitsstunden hohen Lohn beanspruchen. Wie diese dazu kommen, den Normalarbeitstag zu wünschen, natürlich den acht¬ stündigen, das sagt der Jahresbericht der sächsischen Gelverbeinspektoren aus Grenzbvte» II 1M0 45

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/361>, abgerufen am 28.09.2024.