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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Aus den Jugendjahren der Sozialdemokratie

und mau würde ohne Aufschub an den Erlaß einer Anzahl revolutionärer
Dekrete gegangen sein, die man schon vorher entworfen hatte, wenn Lamartine
und Ledru-Rollin nicht bald mit Nationalgarde erschienen wären und die
Häuptlinge der Sozialdemokratie zu Gefangenen gemacht hätten. Einer der
Entwürfe ersetzte die Nationalversammlung durch einen Wohlfahrtsausschuß,
ein andrer schaffte alle Ämter ab und übertrug deren Befugnisse "Mnnizipal-
ausschüssen," Behörden von je sieben Mitgliedern, unter denen wenigstens fünf
Arbeiter sein sollten, ein dritter schuf eine progressive Steuer, die ans ihrer
letzten Stufe die Hälfte des Einkommens betrug, und deren Abschätzung den
Munizipalausschüssen übertragen wurde.

Die Nationalversammlung hatte sich inzwischen wieder in ihrem Palast
eingefunden, und die ebenfalls einen Augenblick gestörte Vvllziehnngskommission
hatte ihre Thätigkeit wieder aufgenommen. Beide Körperschaften stimmten nicht
recht überein, namentlich nicht recht in der Frage der Nativnalwerkstätten,
deren Schließung die Volksvertretung lebhafter wünschte als die Regierung-
Das Arbeiterparlament war mittlerweile auseinandergegangen, nachdem Louis
Blaue, an der Lösung seiner Aufgabe verzweifelnd, den Vorsitz niedergelegt
hatte. Seine einzige nennenswerte Leistung war gewesen, daß es für einige
Handwerkergesellschaften vom Staate Geldvorschüsse erwirkt hatte, mit denen
sie Werkstätten gründeten, die mit Aufzehrung des vorgestreckten Kapitals ein¬
gingen. Außerdem machte das Arbeiterparlament einige Vorschläge, die im
wesentlichen darauf hinausliefen, der Einwirkung des Staates ans Ackerbau,
Gewerbe und Handel einen möglichst weiten Spielraum zu geben und die
oberste Leitung der wirtschaftlichen Dinge mehr und mehr in seinen Händen
zu zentralisiren. Unter andern: sollte er sich des Bankwesens bemächtigen und
mit einer Masse von Papiergeld dem Kapitalmaugel durch wohlfeile Darlehen
abhelfen. Sonst hinterließ das Parlament nur gesteigerte Unzufriedenheit w
den untern Klassen.

Unter solchen Umständen wurde die Aufhebung der Nativnalwerkstätten
immer schwieriger, aber auch immer notwendiger. In den letzten Tagen des
Mai beschloß die Regierung einige vorbereitende Maßregeln. Es sollten d>e
Arbeiter daraus entlassen werden, die nicht mindestens sechs Monate in Paris
wohnten, ebenso die, die sich weigerten, die ihnen von Privatunternehmern
angebotene Beschäftigung anzunehmen; denn mehrere Fabriken waren jetzt nur
noch durch den Mangel an Leuten, die um angemessenen Lohn ernstlich arbeiten
wollten, verhindert, ihren Geschäftsbetrieb wieder in Schwung zu setzen. Ferner
sollte die Arbeit in den Nativnalwerkstätten uicht mehr mit festem Lohn (tag'
lich zwei Franks), sondern nach dem Stück bezahlt werden, und endlich wurdl
die Entfernung eines Teils der Arbeiter ans Paris und ihre Beschäftigung u'
entlegenen Lnndesgegeuden angeordnet. Als diese Weisungen der Vollziehung^
kommifsivn dem Direktor der Nativnalwerkstätten, Emil Thomas, mitgetel


Aus den Jugendjahren der Sozialdemokratie

und mau würde ohne Aufschub an den Erlaß einer Anzahl revolutionärer
Dekrete gegangen sein, die man schon vorher entworfen hatte, wenn Lamartine
und Ledru-Rollin nicht bald mit Nationalgarde erschienen wären und die
Häuptlinge der Sozialdemokratie zu Gefangenen gemacht hätten. Einer der
Entwürfe ersetzte die Nationalversammlung durch einen Wohlfahrtsausschuß,
ein andrer schaffte alle Ämter ab und übertrug deren Befugnisse „Mnnizipal-
ausschüssen," Behörden von je sieben Mitgliedern, unter denen wenigstens fünf
Arbeiter sein sollten, ein dritter schuf eine progressive Steuer, die ans ihrer
letzten Stufe die Hälfte des Einkommens betrug, und deren Abschätzung den
Munizipalausschüssen übertragen wurde.

Die Nationalversammlung hatte sich inzwischen wieder in ihrem Palast
eingefunden, und die ebenfalls einen Augenblick gestörte Vvllziehnngskommission
hatte ihre Thätigkeit wieder aufgenommen. Beide Körperschaften stimmten nicht
recht überein, namentlich nicht recht in der Frage der Nativnalwerkstätten,
deren Schließung die Volksvertretung lebhafter wünschte als die Regierung-
Das Arbeiterparlament war mittlerweile auseinandergegangen, nachdem Louis
Blaue, an der Lösung seiner Aufgabe verzweifelnd, den Vorsitz niedergelegt
hatte. Seine einzige nennenswerte Leistung war gewesen, daß es für einige
Handwerkergesellschaften vom Staate Geldvorschüsse erwirkt hatte, mit denen
sie Werkstätten gründeten, die mit Aufzehrung des vorgestreckten Kapitals ein¬
gingen. Außerdem machte das Arbeiterparlament einige Vorschläge, die im
wesentlichen darauf hinausliefen, der Einwirkung des Staates ans Ackerbau,
Gewerbe und Handel einen möglichst weiten Spielraum zu geben und die
oberste Leitung der wirtschaftlichen Dinge mehr und mehr in seinen Händen
zu zentralisiren. Unter andern: sollte er sich des Bankwesens bemächtigen und
mit einer Masse von Papiergeld dem Kapitalmaugel durch wohlfeile Darlehen
abhelfen. Sonst hinterließ das Parlament nur gesteigerte Unzufriedenheit w
den untern Klassen.

Unter solchen Umständen wurde die Aufhebung der Nativnalwerkstätten
immer schwieriger, aber auch immer notwendiger. In den letzten Tagen des
Mai beschloß die Regierung einige vorbereitende Maßregeln. Es sollten d>e
Arbeiter daraus entlassen werden, die nicht mindestens sechs Monate in Paris
wohnten, ebenso die, die sich weigerten, die ihnen von Privatunternehmern
angebotene Beschäftigung anzunehmen; denn mehrere Fabriken waren jetzt nur
noch durch den Mangel an Leuten, die um angemessenen Lohn ernstlich arbeiten
wollten, verhindert, ihren Geschäftsbetrieb wieder in Schwung zu setzen. Ferner
sollte die Arbeit in den Nativnalwerkstätten uicht mehr mit festem Lohn (tag'
lich zwei Franks), sondern nach dem Stück bezahlt werden, und endlich wurdl
die Entfernung eines Teils der Arbeiter ans Paris und ihre Beschäftigung u'
entlegenen Lnndesgegeuden angeordnet. Als diese Weisungen der Vollziehung^
kommifsivn dem Direktor der Nativnalwerkstätten, Emil Thomas, mitgetel


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[0310] Aus den Jugendjahren der Sozialdemokratie und mau würde ohne Aufschub an den Erlaß einer Anzahl revolutionärer Dekrete gegangen sein, die man schon vorher entworfen hatte, wenn Lamartine und Ledru-Rollin nicht bald mit Nationalgarde erschienen wären und die Häuptlinge der Sozialdemokratie zu Gefangenen gemacht hätten. Einer der Entwürfe ersetzte die Nationalversammlung durch einen Wohlfahrtsausschuß, ein andrer schaffte alle Ämter ab und übertrug deren Befugnisse „Mnnizipal- ausschüssen," Behörden von je sieben Mitgliedern, unter denen wenigstens fünf Arbeiter sein sollten, ein dritter schuf eine progressive Steuer, die ans ihrer letzten Stufe die Hälfte des Einkommens betrug, und deren Abschätzung den Munizipalausschüssen übertragen wurde. Die Nationalversammlung hatte sich inzwischen wieder in ihrem Palast eingefunden, und die ebenfalls einen Augenblick gestörte Vvllziehnngskommission hatte ihre Thätigkeit wieder aufgenommen. Beide Körperschaften stimmten nicht recht überein, namentlich nicht recht in der Frage der Nativnalwerkstätten, deren Schließung die Volksvertretung lebhafter wünschte als die Regierung- Das Arbeiterparlament war mittlerweile auseinandergegangen, nachdem Louis Blaue, an der Lösung seiner Aufgabe verzweifelnd, den Vorsitz niedergelegt hatte. Seine einzige nennenswerte Leistung war gewesen, daß es für einige Handwerkergesellschaften vom Staate Geldvorschüsse erwirkt hatte, mit denen sie Werkstätten gründeten, die mit Aufzehrung des vorgestreckten Kapitals ein¬ gingen. Außerdem machte das Arbeiterparlament einige Vorschläge, die im wesentlichen darauf hinausliefen, der Einwirkung des Staates ans Ackerbau, Gewerbe und Handel einen möglichst weiten Spielraum zu geben und die oberste Leitung der wirtschaftlichen Dinge mehr und mehr in seinen Händen zu zentralisiren. Unter andern: sollte er sich des Bankwesens bemächtigen und mit einer Masse von Papiergeld dem Kapitalmaugel durch wohlfeile Darlehen abhelfen. Sonst hinterließ das Parlament nur gesteigerte Unzufriedenheit w den untern Klassen. Unter solchen Umständen wurde die Aufhebung der Nativnalwerkstätten immer schwieriger, aber auch immer notwendiger. In den letzten Tagen des Mai beschloß die Regierung einige vorbereitende Maßregeln. Es sollten d>e Arbeiter daraus entlassen werden, die nicht mindestens sechs Monate in Paris wohnten, ebenso die, die sich weigerten, die ihnen von Privatunternehmern angebotene Beschäftigung anzunehmen; denn mehrere Fabriken waren jetzt nur noch durch den Mangel an Leuten, die um angemessenen Lohn ernstlich arbeiten wollten, verhindert, ihren Geschäftsbetrieb wieder in Schwung zu setzen. Ferner sollte die Arbeit in den Nativnalwerkstätten uicht mehr mit festem Lohn (tag' lich zwei Franks), sondern nach dem Stück bezahlt werden, und endlich wurdl die Entfernung eines Teils der Arbeiter ans Paris und ihre Beschäftigung u' entlegenen Lnndesgegeuden angeordnet. Als diese Weisungen der Vollziehung^ kommifsivn dem Direktor der Nativnalwerkstätten, Emil Thomas, mitgetel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/310>, abgerufen am 22.07.2024.