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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Aus den Jugendjahren der Sozialdemokratie

zu beschwichtigen, aber immer kehrte er wieder, und die Regierung war völlig
erschöpft, als die Nacht endlich Ruhe brachte. Am nächsten Morgen wieder¬
holte sich die Gesahr. Wieder strömten die Vorstädte ihre Massen von Prole¬
tariat aus, neben Arbeitsleuten auch die Hefe der Bevölkerung, Verbrecher vom
Handwerk. Zuletzt war die vor dem Rathause versammelte Menge auf 40000
bis 50000 Köpfe' angewachsen, und nur brach sie sich Bahn in das Sitzungs¬
zimmer der provisorischen Regierung, um mit Ungestüm an sie eine Reihe aus¬
schweifender Forderungen zu stellen, wie Annahme der roten Fahne, Überwachung
der Beratungen und Beschlüsse durch einen Volksausschuß. Entwaffnung der
Nationalgarde und Verteilung ihrer Gewehre an das Proletariat, Beseitigung
aller gesellschaftlichen Ungleichheiten und Gewährleistung des Rechtes auf Arbeit,
Forderungen, die sofort erfüllt werden sollten. Wieder that Lamartine Wunder,
sein Wort beruhigte die drohenden Schreier, und wenn nach ihrem Abzüge
andre, wildere und trotzigere erschienen, so wußte er auch mit diesen in Güte
sMig zu werde", ohne sich zur Bewilligung ihrer Forderungen zu verpflichten.
Das Proletariat trug zunächst nnr ein Zugeständnis davou. aber ein ver¬
hängnisvolles. Gedrängt und bedroht von Arbeitern, an deren Spitze der
Drechsler Salle stand, unterzeichneten zwei Mitglieder der provisorischen Re¬
gierung, Louis Blaue und Garnier-Pagvs, jener aus Verblendung, dieser aus
Schwäche, ein Dekret folgenden Wortlautes: ..Die Negierung verpflichtet sich,
dem Arbeiter den Unterhalt durch die Arbeit zu verbürgen, sie verpflichtet sich,
allen Bürgern Beschäftigung zu verschaffen, sie erkennt an, daß alle Arbeiter
°as Recht haben, sich unter einander zu verbinden, um sich den rechtmäßigen
Ertrag ihrer Arbeit zu sichern. Die provisorische Regierung beschließt, deu
Arbeitern die Million der Zivilliste, die am Ende des Monats fällig wird,
und die ihnen gehört, zurückzuzahlen." Am 20. Februar war die Regierung
durch Ansammlung von Nationalgardisten, Militärschülern und Studenten vor
Leitern Zumutungen und Bedrohuugen durch das Proletariat geschützt, aber
schon am Morgen des nächsten Tages zog ein neues sozialistisches Unwetter
^gen sie heran, indem einige Tausend bewaffnete Sozinldemokraten in das
Rathaus eindrangen und verlangten, daß ihnen die "Organisation der Arbeit"
^gesichert und zu diesem BeHilfe ein "Ministerium des Fortschritts" mit Louis
^laue an der Spitze gebildet werde. Lamartine Wichte sie jedoch einigermaßen
an der Vernünftigkeit ihrer Forderung irre zu machen und sie durch unbestimmte
Zusagen hinzuhalten, und dafür, daß solche Überfälle sich nicht wiederholten.
'°rgte auf Lamartines Antrag der neue Polizeipräfekt Causfidiöre. Er bildete
"u der Stelle der in alle Winde zerstobenen alten Polizeimannschaft eine neue.
^' anfangs nur aus einigen hundert Mann bestand und den Namen der
^"ntagnards führte, später aber durch eine zweite Abteilung, die Volks- oder
Republikanische Garde, bis auf 2700 Mann verstärkt wurde und trotz ihres
Ursprungs und Aussehens der Sache der Sicherheit und Ordnung vortreffliche
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Aus den Jugendjahren der Sozialdemokratie

zu beschwichtigen, aber immer kehrte er wieder, und die Regierung war völlig
erschöpft, als die Nacht endlich Ruhe brachte. Am nächsten Morgen wieder¬
holte sich die Gesahr. Wieder strömten die Vorstädte ihre Massen von Prole¬
tariat aus, neben Arbeitsleuten auch die Hefe der Bevölkerung, Verbrecher vom
Handwerk. Zuletzt war die vor dem Rathause versammelte Menge auf 40000
bis 50000 Köpfe' angewachsen, und nur brach sie sich Bahn in das Sitzungs¬
zimmer der provisorischen Regierung, um mit Ungestüm an sie eine Reihe aus¬
schweifender Forderungen zu stellen, wie Annahme der roten Fahne, Überwachung
der Beratungen und Beschlüsse durch einen Volksausschuß. Entwaffnung der
Nationalgarde und Verteilung ihrer Gewehre an das Proletariat, Beseitigung
aller gesellschaftlichen Ungleichheiten und Gewährleistung des Rechtes auf Arbeit,
Forderungen, die sofort erfüllt werden sollten. Wieder that Lamartine Wunder,
sein Wort beruhigte die drohenden Schreier, und wenn nach ihrem Abzüge
andre, wildere und trotzigere erschienen, so wußte er auch mit diesen in Güte
sMig zu werde», ohne sich zur Bewilligung ihrer Forderungen zu verpflichten.
Das Proletariat trug zunächst nnr ein Zugeständnis davou. aber ein ver¬
hängnisvolles. Gedrängt und bedroht von Arbeitern, an deren Spitze der
Drechsler Salle stand, unterzeichneten zwei Mitglieder der provisorischen Re¬
gierung, Louis Blaue und Garnier-Pagvs, jener aus Verblendung, dieser aus
Schwäche, ein Dekret folgenden Wortlautes: ..Die Negierung verpflichtet sich,
dem Arbeiter den Unterhalt durch die Arbeit zu verbürgen, sie verpflichtet sich,
allen Bürgern Beschäftigung zu verschaffen, sie erkennt an, daß alle Arbeiter
°as Recht haben, sich unter einander zu verbinden, um sich den rechtmäßigen
Ertrag ihrer Arbeit zu sichern. Die provisorische Regierung beschließt, deu
Arbeitern die Million der Zivilliste, die am Ende des Monats fällig wird,
und die ihnen gehört, zurückzuzahlen." Am 20. Februar war die Regierung
durch Ansammlung von Nationalgardisten, Militärschülern und Studenten vor
Leitern Zumutungen und Bedrohuugen durch das Proletariat geschützt, aber
schon am Morgen des nächsten Tages zog ein neues sozialistisches Unwetter
^gen sie heran, indem einige Tausend bewaffnete Sozinldemokraten in das
Rathaus eindrangen und verlangten, daß ihnen die „Organisation der Arbeit"
^gesichert und zu diesem BeHilfe ein „Ministerium des Fortschritts" mit Louis
^laue an der Spitze gebildet werde. Lamartine Wichte sie jedoch einigermaßen
an der Vernünftigkeit ihrer Forderung irre zu machen und sie durch unbestimmte
Zusagen hinzuhalten, und dafür, daß solche Überfälle sich nicht wiederholten.
'°rgte auf Lamartines Antrag der neue Polizeipräfekt Causfidiöre. Er bildete
"u der Stelle der in alle Winde zerstobenen alten Polizeimannschaft eine neue.
^' anfangs nur aus einigen hundert Mann bestand und den Namen der
^"ntagnards führte, später aber durch eine zweite Abteilung, die Volks- oder
Republikanische Garde, bis auf 2700 Mann verstärkt wurde und trotz ihres
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[0305] Aus den Jugendjahren der Sozialdemokratie zu beschwichtigen, aber immer kehrte er wieder, und die Regierung war völlig erschöpft, als die Nacht endlich Ruhe brachte. Am nächsten Morgen wieder¬ holte sich die Gesahr. Wieder strömten die Vorstädte ihre Massen von Prole¬ tariat aus, neben Arbeitsleuten auch die Hefe der Bevölkerung, Verbrecher vom Handwerk. Zuletzt war die vor dem Rathause versammelte Menge auf 40000 bis 50000 Köpfe' angewachsen, und nur brach sie sich Bahn in das Sitzungs¬ zimmer der provisorischen Regierung, um mit Ungestüm an sie eine Reihe aus¬ schweifender Forderungen zu stellen, wie Annahme der roten Fahne, Überwachung der Beratungen und Beschlüsse durch einen Volksausschuß. Entwaffnung der Nationalgarde und Verteilung ihrer Gewehre an das Proletariat, Beseitigung aller gesellschaftlichen Ungleichheiten und Gewährleistung des Rechtes auf Arbeit, Forderungen, die sofort erfüllt werden sollten. Wieder that Lamartine Wunder, sein Wort beruhigte die drohenden Schreier, und wenn nach ihrem Abzüge andre, wildere und trotzigere erschienen, so wußte er auch mit diesen in Güte sMig zu werde», ohne sich zur Bewilligung ihrer Forderungen zu verpflichten. Das Proletariat trug zunächst nnr ein Zugeständnis davou. aber ein ver¬ hängnisvolles. Gedrängt und bedroht von Arbeitern, an deren Spitze der Drechsler Salle stand, unterzeichneten zwei Mitglieder der provisorischen Re¬ gierung, Louis Blaue und Garnier-Pagvs, jener aus Verblendung, dieser aus Schwäche, ein Dekret folgenden Wortlautes: ..Die Negierung verpflichtet sich, dem Arbeiter den Unterhalt durch die Arbeit zu verbürgen, sie verpflichtet sich, allen Bürgern Beschäftigung zu verschaffen, sie erkennt an, daß alle Arbeiter °as Recht haben, sich unter einander zu verbinden, um sich den rechtmäßigen Ertrag ihrer Arbeit zu sichern. Die provisorische Regierung beschließt, deu Arbeitern die Million der Zivilliste, die am Ende des Monats fällig wird, und die ihnen gehört, zurückzuzahlen." Am 20. Februar war die Regierung durch Ansammlung von Nationalgardisten, Militärschülern und Studenten vor Leitern Zumutungen und Bedrohuugen durch das Proletariat geschützt, aber schon am Morgen des nächsten Tages zog ein neues sozialistisches Unwetter ^gen sie heran, indem einige Tausend bewaffnete Sozinldemokraten in das Rathaus eindrangen und verlangten, daß ihnen die „Organisation der Arbeit" ^gesichert und zu diesem BeHilfe ein „Ministerium des Fortschritts" mit Louis ^laue an der Spitze gebildet werde. Lamartine Wichte sie jedoch einigermaßen an der Vernünftigkeit ihrer Forderung irre zu machen und sie durch unbestimmte Zusagen hinzuhalten, und dafür, daß solche Überfälle sich nicht wiederholten. '°rgte auf Lamartines Antrag der neue Polizeipräfekt Causfidiöre. Er bildete "u der Stelle der in alle Winde zerstobenen alten Polizeimannschaft eine neue. ^' anfangs nur aus einigen hundert Mann bestand und den Namen der ^"ntagnards führte, später aber durch eine zweite Abteilung, die Volks- oder Republikanische Garde, bis auf 2700 Mann verstärkt wurde und trotz ihres Ursprungs und Aussehens der Sache der Sicherheit und Ordnung vortreffliche G renzboten 11 1890 ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/305>, abgerufen am 27.12.2024.