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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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und natürlich insbesondre für Wien, eine Bemerkung, die übrigens schon Martin
Greif 1871 in einem Feuilleton über den Dichter ausgesprochen hat. Aus
Raimunds Stücken spricht die Wiener Volksseele, die entschieden da ist, wenn auch
die moderne "exakt-empirische" Litteraturgeschichte diesen von den Romantikern
allerdings zu sehr gefeierten Begriff gering zu schätze" liebt. Raimund hat
die Wiener Volksseele in faßbare und sichtbare Formen gefesselt. Wer die
Wiener Volkssprache kennen lernen will, muß seine Stücke lesen: so lieblich
wienerisch hat kein Dichter wieder nach ihm gesprochen. Keiner hat auch die
guten und schlimmen Züge des Wiener Volkscharakters so schlicht und wahr
und dabei doch so anmutig dargestellt wie Raimund. Freilich nur seine Heimat
kaun ihn ganz rein nachempfinden und verstehen, wie auch Hebel und Reuter
zwar allgemein dichterische Kraft genug nufzuweiseu haben, um überall zu
wirken, aber dennoch von ihren engsten Landsleuten, die ihre Seele in ihnen
wiederfinden, noch ganz anders verstanden werden als von den andern.

Zur Würdigung und richtigen Erkenntnis Raimunds ist von wissenschaft¬
licher Seite schon ziemlich viel geschehen. Gvedeke war der erste Litterar-
historiker vou Ansehen, der Raimunds Dichtergröße feierte; Grillparzers hohe
Anerkennung wurde später in der ersten Ausgabe seiner Werke (1872) bekannt,
wo es (XI, 206) vom "Alpenkönig" heißt: "Man muß die Wüste der neuesten
deutschen Poesie durchwandelt haben, gefühlt habe", wie Naturwahrheit
und Leben aus dem begriffsmäßigen Gerüste talentloser UberschN'änglichkeiteu
sich nach und nach völlig zurückzuziehen droht, um das Erquickende dieser
frischen Quelle ganz zu empfinden. Zuerst der Gedanke des Ganzen, die etwas
barocke Einkleidung des auf der Volksbühne auch der Form nach stationär
Gewordenen, Zauberhaften abgerechnet, hätte selbst Moliere eine vortrefflichere
Anlage nicht erdenken können. Ich wollte, sämtliche deutsche Dichter studirten
dieses Werk eines Verfassers, dem sie an Bildung himmelweit überlege" sin^
um zu begreifen, woran es unsern gesteigerten Bestrebungen eigentlich fehlt,
um einzusehen, daß nicht in der Idee die Aufgabe der Kunst liegt, sondern i"
der Belebung der Idee; daß die Poesie Wesen und Anschauungen will, nich^
abgeschattete Begriffe, daß endlich ein lebender Zeisig mehr wert ist als ein
ausgestopfter Riesengeier oder Steinadler."

Die begeisterte Parteinahme des strengen Grillparzer für seine" Landsmciiin
Raimund ist nebenbei menschlich rührend. Raimund sah zu seinem gebildetere"
Freunde und Kollegen gar respektvoll empor. Er beneidete ihn um seine höhere
Bildung, seine Erfolge mit dein ernsten Drama, seine Bnrgtheaterfähigkeit. Es
lastete, dnrch persönliche Erfahrungen noch vermehrt, zeitlebens anf ihn: das
Gefühl der Unbefriedigung; weder mit sich selbst noch mit seinen doch
reichen und glänzenden Erfolgen als Schauspieler und als Dichter war er
jemals zufrieden; er war ein Hypochonder gerade so wie Grillparzer, nur daß
dieser Kraft genug hatte, die Melancholie zu überwinden und sich ins hohe


und natürlich insbesondre für Wien, eine Bemerkung, die übrigens schon Martin
Greif 1871 in einem Feuilleton über den Dichter ausgesprochen hat. Aus
Raimunds Stücken spricht die Wiener Volksseele, die entschieden da ist, wenn auch
die moderne „exakt-empirische" Litteraturgeschichte diesen von den Romantikern
allerdings zu sehr gefeierten Begriff gering zu schätze» liebt. Raimund hat
die Wiener Volksseele in faßbare und sichtbare Formen gefesselt. Wer die
Wiener Volkssprache kennen lernen will, muß seine Stücke lesen: so lieblich
wienerisch hat kein Dichter wieder nach ihm gesprochen. Keiner hat auch die
guten und schlimmen Züge des Wiener Volkscharakters so schlicht und wahr
und dabei doch so anmutig dargestellt wie Raimund. Freilich nur seine Heimat
kaun ihn ganz rein nachempfinden und verstehen, wie auch Hebel und Reuter
zwar allgemein dichterische Kraft genug nufzuweiseu haben, um überall zu
wirken, aber dennoch von ihren engsten Landsleuten, die ihre Seele in ihnen
wiederfinden, noch ganz anders verstanden werden als von den andern.

Zur Würdigung und richtigen Erkenntnis Raimunds ist von wissenschaft¬
licher Seite schon ziemlich viel geschehen. Gvedeke war der erste Litterar-
historiker vou Ansehen, der Raimunds Dichtergröße feierte; Grillparzers hohe
Anerkennung wurde später in der ersten Ausgabe seiner Werke (1872) bekannt,
wo es (XI, 206) vom „Alpenkönig" heißt: „Man muß die Wüste der neuesten
deutschen Poesie durchwandelt haben, gefühlt habe», wie Naturwahrheit
und Leben aus dem begriffsmäßigen Gerüste talentloser UberschN'änglichkeiteu
sich nach und nach völlig zurückzuziehen droht, um das Erquickende dieser
frischen Quelle ganz zu empfinden. Zuerst der Gedanke des Ganzen, die etwas
barocke Einkleidung des auf der Volksbühne auch der Form nach stationär
Gewordenen, Zauberhaften abgerechnet, hätte selbst Moliere eine vortrefflichere
Anlage nicht erdenken können. Ich wollte, sämtliche deutsche Dichter studirten
dieses Werk eines Verfassers, dem sie an Bildung himmelweit überlege» sin^
um zu begreifen, woran es unsern gesteigerten Bestrebungen eigentlich fehlt,
um einzusehen, daß nicht in der Idee die Aufgabe der Kunst liegt, sondern i»
der Belebung der Idee; daß die Poesie Wesen und Anschauungen will, nich^
abgeschattete Begriffe, daß endlich ein lebender Zeisig mehr wert ist als ein
ausgestopfter Riesengeier oder Steinadler."

Die begeisterte Parteinahme des strengen Grillparzer für seine» Landsmciiin
Raimund ist nebenbei menschlich rührend. Raimund sah zu seinem gebildetere»
Freunde und Kollegen gar respektvoll empor. Er beneidete ihn um seine höhere
Bildung, seine Erfolge mit dein ernsten Drama, seine Bnrgtheaterfähigkeit. Es
lastete, dnrch persönliche Erfahrungen noch vermehrt, zeitlebens anf ihn: das
Gefühl der Unbefriedigung; weder mit sich selbst noch mit seinen doch
reichen und glänzenden Erfolgen als Schauspieler und als Dichter war er
jemals zufrieden; er war ein Hypochonder gerade so wie Grillparzer, nur daß
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/276>, abgerufen am 23.06.2024.