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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Unterricht und Erziehung

Aufgabe, sondern vor nllem das Böse ausrotten und das Gute entwickeln, das
in der Seele als Anlage enthalten ist. Hier gilt das Wort v. Raumers: "Er¬
ziehung ist eine Kunst, der Natur entgegen." Denn das Ziel der Erziehung
ist die sittliche Persönlichkeit, die Bildung des Charakters, oder mit andern
Worten die sittliche Freiheit. Auf diesem Gebiete ist aber die kindliche
Originalität zwar zu studiren, aber nicht zu respektiren. Denn sittliche
Freiheit ist für alle zu fordern, und der Erzieher kann hierbei keine Unter¬
schiede nnter seinen Zöglingen als berechtigt anerkennen. Die geistigen
Fähigkeiten, die gemütliche Anlage, die Eigenart, sofern sie sich im Na¬
turell zeigt, sind bei allen Menschen verschieden. Die Forderungen der
Sittlichkeit, wenn auch als Ideale, sollen für alle gelten. Ich weiß wohl,
daß sich auch hierin die Menschen schließlich von einander unterscheiden,
und daß die Willenskraft nicht bei allen in gleichem Maße entwickelt wird.
Aber der Erzieher hat ans diesem Gebiete das Gleiche für alle zu verlangen,
wenn auch seine Mittel zu diesem Ziele je nach der Art des Kindes verschieden
sein dürfen und sollen. Wenn Herr Güßfeldt deswegen, allerdings nicht mit
dürren Worten, sondern in seiner blumenreichen Sprache, die Erziehung davon
zurückhalten will, daß alle Kinder den Rosen gleichen, sondern auch Nesseln,
Lilien u. a. in dein großen Gottesgarten der Kinder gestattet, so ist ersichtlich,
daß hier die Rücksicht auf die natürliche Anlage einseitig übertrieben ist.

Aus dem Gesagten ergiebt sich, daß Herrn Güßfeldts Auseinander¬
setzungen über die Erziehung des Kindes in den wesentlichen Punkten von
irrtümlichen Anschauungen und Voraussetzungen beherrscht sind, die, vielleicht
nicht von ungefähr, eine nahe Verwandtschaft mit Rousseauischen Ideen zeigen.
Der größere Teil des Buches beschäftigt sich mit der Erziehung der heran¬
wachsenden männlichen Jugend unsers Vaterlandes. Auch hier finden sich An¬
klänge an Rousseau, die aber unberücksichtigt bleiben können, weil nirgends
mit ihnen der Anspruch auf prinzipielle Bedeutung erhoben wird.

Sobald das Kindesalter überschritten ist, nimmt die Erziehung weitere
Formen an, es tritt der Unterricht hinzu. Es handelt sich nun zunächst darum,
wie das Ziel der Erziehung, das vorhin als sittliche Freiheit gefaßt war, näher
zu bestimmen ist, sodann darum, mit welchen Mitteln das Ziel zu erreichen ist-

Die sittliche Freiheit des Menschen ist immer eine Idee. Weil aber der
Mensch in ein reales Leben hineintritt, so wird er seine Freiheit in ganz be¬
stimmten Verhältnissen zu bethätigen haben. Anfassen sollen wir das Leben
real, auffassen aber ideal. Die Bildung von Charakteren wird sich darum
jede Erziehung als Ziel setzen müssen; aber weil die Berufs- und Gcmein-
schaftskreise der einzelnen Menschen verschieden sind, und weil jede Zeit ihre
besondern sittlichen Aufgaben stellt, deswegen können die von der Erziehung
angewandten Mittel weder sür alle Schichten des Volkes gleichmäßig gelten
noch für alle Zeiten dieselbe Bedeutung behalten. Die wechselnden Daseins-


Unterricht und Erziehung

Aufgabe, sondern vor nllem das Böse ausrotten und das Gute entwickeln, das
in der Seele als Anlage enthalten ist. Hier gilt das Wort v. Raumers: „Er¬
ziehung ist eine Kunst, der Natur entgegen." Denn das Ziel der Erziehung
ist die sittliche Persönlichkeit, die Bildung des Charakters, oder mit andern
Worten die sittliche Freiheit. Auf diesem Gebiete ist aber die kindliche
Originalität zwar zu studiren, aber nicht zu respektiren. Denn sittliche
Freiheit ist für alle zu fordern, und der Erzieher kann hierbei keine Unter¬
schiede nnter seinen Zöglingen als berechtigt anerkennen. Die geistigen
Fähigkeiten, die gemütliche Anlage, die Eigenart, sofern sie sich im Na¬
turell zeigt, sind bei allen Menschen verschieden. Die Forderungen der
Sittlichkeit, wenn auch als Ideale, sollen für alle gelten. Ich weiß wohl,
daß sich auch hierin die Menschen schließlich von einander unterscheiden,
und daß die Willenskraft nicht bei allen in gleichem Maße entwickelt wird.
Aber der Erzieher hat ans diesem Gebiete das Gleiche für alle zu verlangen,
wenn auch seine Mittel zu diesem Ziele je nach der Art des Kindes verschieden
sein dürfen und sollen. Wenn Herr Güßfeldt deswegen, allerdings nicht mit
dürren Worten, sondern in seiner blumenreichen Sprache, die Erziehung davon
zurückhalten will, daß alle Kinder den Rosen gleichen, sondern auch Nesseln,
Lilien u. a. in dein großen Gottesgarten der Kinder gestattet, so ist ersichtlich,
daß hier die Rücksicht auf die natürliche Anlage einseitig übertrieben ist.

Aus dem Gesagten ergiebt sich, daß Herrn Güßfeldts Auseinander¬
setzungen über die Erziehung des Kindes in den wesentlichen Punkten von
irrtümlichen Anschauungen und Voraussetzungen beherrscht sind, die, vielleicht
nicht von ungefähr, eine nahe Verwandtschaft mit Rousseauischen Ideen zeigen.
Der größere Teil des Buches beschäftigt sich mit der Erziehung der heran¬
wachsenden männlichen Jugend unsers Vaterlandes. Auch hier finden sich An¬
klänge an Rousseau, die aber unberücksichtigt bleiben können, weil nirgends
mit ihnen der Anspruch auf prinzipielle Bedeutung erhoben wird.

Sobald das Kindesalter überschritten ist, nimmt die Erziehung weitere
Formen an, es tritt der Unterricht hinzu. Es handelt sich nun zunächst darum,
wie das Ziel der Erziehung, das vorhin als sittliche Freiheit gefaßt war, näher
zu bestimmen ist, sodann darum, mit welchen Mitteln das Ziel zu erreichen ist-

Die sittliche Freiheit des Menschen ist immer eine Idee. Weil aber der
Mensch in ein reales Leben hineintritt, so wird er seine Freiheit in ganz be¬
stimmten Verhältnissen zu bethätigen haben. Anfassen sollen wir das Leben
real, auffassen aber ideal. Die Bildung von Charakteren wird sich darum
jede Erziehung als Ziel setzen müssen; aber weil die Berufs- und Gcmein-
schaftskreise der einzelnen Menschen verschieden sind, und weil jede Zeit ihre
besondern sittlichen Aufgaben stellt, deswegen können die von der Erziehung
angewandten Mittel weder sür alle Schichten des Volkes gleichmäßig gelten
noch für alle Zeiten dieselbe Bedeutung behalten. Die wechselnden Daseins-


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[0226] Unterricht und Erziehung Aufgabe, sondern vor nllem das Böse ausrotten und das Gute entwickeln, das in der Seele als Anlage enthalten ist. Hier gilt das Wort v. Raumers: „Er¬ ziehung ist eine Kunst, der Natur entgegen." Denn das Ziel der Erziehung ist die sittliche Persönlichkeit, die Bildung des Charakters, oder mit andern Worten die sittliche Freiheit. Auf diesem Gebiete ist aber die kindliche Originalität zwar zu studiren, aber nicht zu respektiren. Denn sittliche Freiheit ist für alle zu fordern, und der Erzieher kann hierbei keine Unter¬ schiede nnter seinen Zöglingen als berechtigt anerkennen. Die geistigen Fähigkeiten, die gemütliche Anlage, die Eigenart, sofern sie sich im Na¬ turell zeigt, sind bei allen Menschen verschieden. Die Forderungen der Sittlichkeit, wenn auch als Ideale, sollen für alle gelten. Ich weiß wohl, daß sich auch hierin die Menschen schließlich von einander unterscheiden, und daß die Willenskraft nicht bei allen in gleichem Maße entwickelt wird. Aber der Erzieher hat ans diesem Gebiete das Gleiche für alle zu verlangen, wenn auch seine Mittel zu diesem Ziele je nach der Art des Kindes verschieden sein dürfen und sollen. Wenn Herr Güßfeldt deswegen, allerdings nicht mit dürren Worten, sondern in seiner blumenreichen Sprache, die Erziehung davon zurückhalten will, daß alle Kinder den Rosen gleichen, sondern auch Nesseln, Lilien u. a. in dein großen Gottesgarten der Kinder gestattet, so ist ersichtlich, daß hier die Rücksicht auf die natürliche Anlage einseitig übertrieben ist. Aus dem Gesagten ergiebt sich, daß Herrn Güßfeldts Auseinander¬ setzungen über die Erziehung des Kindes in den wesentlichen Punkten von irrtümlichen Anschauungen und Voraussetzungen beherrscht sind, die, vielleicht nicht von ungefähr, eine nahe Verwandtschaft mit Rousseauischen Ideen zeigen. Der größere Teil des Buches beschäftigt sich mit der Erziehung der heran¬ wachsenden männlichen Jugend unsers Vaterlandes. Auch hier finden sich An¬ klänge an Rousseau, die aber unberücksichtigt bleiben können, weil nirgends mit ihnen der Anspruch auf prinzipielle Bedeutung erhoben wird. Sobald das Kindesalter überschritten ist, nimmt die Erziehung weitere Formen an, es tritt der Unterricht hinzu. Es handelt sich nun zunächst darum, wie das Ziel der Erziehung, das vorhin als sittliche Freiheit gefaßt war, näher zu bestimmen ist, sodann darum, mit welchen Mitteln das Ziel zu erreichen ist- Die sittliche Freiheit des Menschen ist immer eine Idee. Weil aber der Mensch in ein reales Leben hineintritt, so wird er seine Freiheit in ganz be¬ stimmten Verhältnissen zu bethätigen haben. Anfassen sollen wir das Leben real, auffassen aber ideal. Die Bildung von Charakteren wird sich darum jede Erziehung als Ziel setzen müssen; aber weil die Berufs- und Gcmein- schaftskreise der einzelnen Menschen verschieden sind, und weil jede Zeit ihre besondern sittlichen Aufgaben stellt, deswegen können die von der Erziehung angewandten Mittel weder sür alle Schichten des Volkes gleichmäßig gelten noch für alle Zeiten dieselbe Bedeutung behalten. Die wechselnden Daseins-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/226>, abgerufen am 23.07.2024.