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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Streifziige durch die französische Litteratur der Gegenwart

ftrebllngeii und Leistungen ohne Rücksicht auf die Einflüsse andrer Kulturvölker
niederzuschreiben. Mit Recht sagt Joseph Reinach in seinen lesenswerten
Mulle!" <Jo Utbvrawro vt (I'lüsloiro (Paris, 1889): "Wenn auch die politischen
Grenzen weiter bestehen, so siud doch heutzutage die Schranken des geistigen
Lebens gefallen; überall bestehen und wirken zugleich die Anschauungen, die
Gedanken und die Shsteme in demselben unentwirrbaren Gemenge. Wie soll
man in dieser Mischung den genauen Anteil herausfinden, der jedem Bolle
zukommt? Wie soll man in dem unendlichen Ozean die Gewässer wieder erkennen,
die ans der Seine, der Themse oder dem Rheine herstammen?"

Dieses Urteil bezieht sich nicht nur auf die Wissenschaften und die Technik,
es gilt in demselben Maße auch für die Künste und für die Litteratur. Wenn
trotzdem der französische Schriftsteller Georges Pellissier den Versuch macht,
in seinein Buche I^o inuuvommck Uttvnurii -in XIX" "iovlu (Paris, 1889) eine
Entwicklungsgeschichte der französischen Litteratur in unserm Jahrhundert zu
schreibe", ohne den geistigen Einfluß fremder Völker auf Frankreich während
dieser ganzen Zeit zu berücksichtigen, selbst ohne die Beziehungen der dichterischen
Thätigkeit mit den Künsten, insbesondre mit der Malerei und der Musik zu
berühre", so kann er damit wohl ein abgerundetes und fesselndes Bild zustande
bringen, aber dem Borwurf einer einseitige" Auffnsfung, einer uuzulä"gliche"
Begründung, einer mangelhaften Lösung wird er nicht entgehen. Daß er dabei
das Verhältnis Frankreichs zur deutschen Litteratur und Philosophie, selbst
zu dem von den, französischen Romanciers weidlich ausgeschlachteten Schopenhauer
stillschweigend übergeht, wird uns nicht wunderbar erscheinen, wenn wir im
I^loro ein vönlvimir" ein .louriml av8 point" (Paris, l889) von einem ma߬
gebenden Schriftsteller folgendes Urteil über die deutsche Litteratur der Gegen¬
wart lesen: "Seit 1870 ist die Litteratur in Deutschland so armselig geworden,
die Tendenzen, die auf der andern Seite der Vogesen zur Herrschaft gekommen
sind, setzen eine solche Verachtung für alles voraus, was schöne Litteratur und
Philosophie betrifft, daß die Verpflichtung, das französische Volk darüber zu
unterrichten, zur Sinekure wird und sich mit einem schleudernde" Spaziergang
durch unfruchtbare Sandebenen vergleichen läßt."

Trotzdem muß nuerkmint werde", daß Pellissiers Buch mit einem großen
Aufwand von Geist und Scharfsinn geschrieben ist, und daß es eine Reihe
wertvoller Gedanke" und beachtenswerter Gesichtspunkte enthält, aus die es
sich verlohnt hier näher einzugehen; nur hätte der Verfasser gut gethan,
Re und da auch seine Quellen anzugeben, denn wer die kritischen Schriften
Frankreichs der letzten Jahre aufmerksam verfolgt hat, dem wird es nicht
entgehen, daß er hie und da auf Anschauungen, Formeln und Weuduiige"
stößt, die er schon einmal in Paul Bourgets ÜMiüs av xs^oltolo^lo
vmcksmpoi'An", in Jules Lemaitrcs Schriften und andern Werken ge¬
funden hat.


Streifziige durch die französische Litteratur der Gegenwart

ftrebllngeii und Leistungen ohne Rücksicht auf die Einflüsse andrer Kulturvölker
niederzuschreiben. Mit Recht sagt Joseph Reinach in seinen lesenswerten
Mulle!» <Jo Utbvrawro vt (I'lüsloiro (Paris, 1889): „Wenn auch die politischen
Grenzen weiter bestehen, so siud doch heutzutage die Schranken des geistigen
Lebens gefallen; überall bestehen und wirken zugleich die Anschauungen, die
Gedanken und die Shsteme in demselben unentwirrbaren Gemenge. Wie soll
man in dieser Mischung den genauen Anteil herausfinden, der jedem Bolle
zukommt? Wie soll man in dem unendlichen Ozean die Gewässer wieder erkennen,
die ans der Seine, der Themse oder dem Rheine herstammen?"

Dieses Urteil bezieht sich nicht nur auf die Wissenschaften und die Technik,
es gilt in demselben Maße auch für die Künste und für die Litteratur. Wenn
trotzdem der französische Schriftsteller Georges Pellissier den Versuch macht,
in seinein Buche I^o inuuvommck Uttvnurii -in XIX" «iovlu (Paris, 1889) eine
Entwicklungsgeschichte der französischen Litteratur in unserm Jahrhundert zu
schreibe», ohne den geistigen Einfluß fremder Völker auf Frankreich während
dieser ganzen Zeit zu berücksichtigen, selbst ohne die Beziehungen der dichterischen
Thätigkeit mit den Künsten, insbesondre mit der Malerei und der Musik zu
berühre», so kann er damit wohl ein abgerundetes und fesselndes Bild zustande
bringen, aber dem Borwurf einer einseitige» Auffnsfung, einer uuzulä»gliche»
Begründung, einer mangelhaften Lösung wird er nicht entgehen. Daß er dabei
das Verhältnis Frankreichs zur deutschen Litteratur und Philosophie, selbst
zu dem von den, französischen Romanciers weidlich ausgeschlachteten Schopenhauer
stillschweigend übergeht, wird uns nicht wunderbar erscheinen, wenn wir im
I^loro ein vönlvimir« ein .louriml av8 point« (Paris, l889) von einem ma߬
gebenden Schriftsteller folgendes Urteil über die deutsche Litteratur der Gegen¬
wart lesen: „Seit 1870 ist die Litteratur in Deutschland so armselig geworden,
die Tendenzen, die auf der andern Seite der Vogesen zur Herrschaft gekommen
sind, setzen eine solche Verachtung für alles voraus, was schöne Litteratur und
Philosophie betrifft, daß die Verpflichtung, das französische Volk darüber zu
unterrichten, zur Sinekure wird und sich mit einem schleudernde« Spaziergang
durch unfruchtbare Sandebenen vergleichen läßt."

Trotzdem muß nuerkmint werde», daß Pellissiers Buch mit einem großen
Aufwand von Geist und Scharfsinn geschrieben ist, und daß es eine Reihe
wertvoller Gedanke» und beachtenswerter Gesichtspunkte enthält, aus die es
sich verlohnt hier näher einzugehen; nur hätte der Verfasser gut gethan,
Re und da auch seine Quellen anzugeben, denn wer die kritischen Schriften
Frankreichs der letzten Jahre aufmerksam verfolgt hat, dem wird es nicht
entgehen, daß er hie und da auf Anschauungen, Formeln und Weuduiige»
stößt, die er schon einmal in Paul Bourgets ÜMiüs av xs^oltolo^lo
vmcksmpoi'An«, in Jules Lemaitrcs Schriften und andern Werken ge¬
funden hat.


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[0175] Streifziige durch die französische Litteratur der Gegenwart ftrebllngeii und Leistungen ohne Rücksicht auf die Einflüsse andrer Kulturvölker niederzuschreiben. Mit Recht sagt Joseph Reinach in seinen lesenswerten Mulle!» <Jo Utbvrawro vt (I'lüsloiro (Paris, 1889): „Wenn auch die politischen Grenzen weiter bestehen, so siud doch heutzutage die Schranken des geistigen Lebens gefallen; überall bestehen und wirken zugleich die Anschauungen, die Gedanken und die Shsteme in demselben unentwirrbaren Gemenge. Wie soll man in dieser Mischung den genauen Anteil herausfinden, der jedem Bolle zukommt? Wie soll man in dem unendlichen Ozean die Gewässer wieder erkennen, die ans der Seine, der Themse oder dem Rheine herstammen?" Dieses Urteil bezieht sich nicht nur auf die Wissenschaften und die Technik, es gilt in demselben Maße auch für die Künste und für die Litteratur. Wenn trotzdem der französische Schriftsteller Georges Pellissier den Versuch macht, in seinein Buche I^o inuuvommck Uttvnurii -in XIX" «iovlu (Paris, 1889) eine Entwicklungsgeschichte der französischen Litteratur in unserm Jahrhundert zu schreibe», ohne den geistigen Einfluß fremder Völker auf Frankreich während dieser ganzen Zeit zu berücksichtigen, selbst ohne die Beziehungen der dichterischen Thätigkeit mit den Künsten, insbesondre mit der Malerei und der Musik zu berühre», so kann er damit wohl ein abgerundetes und fesselndes Bild zustande bringen, aber dem Borwurf einer einseitige» Auffnsfung, einer uuzulä»gliche» Begründung, einer mangelhaften Lösung wird er nicht entgehen. Daß er dabei das Verhältnis Frankreichs zur deutschen Litteratur und Philosophie, selbst zu dem von den, französischen Romanciers weidlich ausgeschlachteten Schopenhauer stillschweigend übergeht, wird uns nicht wunderbar erscheinen, wenn wir im I^loro ein vönlvimir« ein .louriml av8 point« (Paris, l889) von einem ma߬ gebenden Schriftsteller folgendes Urteil über die deutsche Litteratur der Gegen¬ wart lesen: „Seit 1870 ist die Litteratur in Deutschland so armselig geworden, die Tendenzen, die auf der andern Seite der Vogesen zur Herrschaft gekommen sind, setzen eine solche Verachtung für alles voraus, was schöne Litteratur und Philosophie betrifft, daß die Verpflichtung, das französische Volk darüber zu unterrichten, zur Sinekure wird und sich mit einem schleudernde« Spaziergang durch unfruchtbare Sandebenen vergleichen läßt." Trotzdem muß nuerkmint werde», daß Pellissiers Buch mit einem großen Aufwand von Geist und Scharfsinn geschrieben ist, und daß es eine Reihe wertvoller Gedanke» und beachtenswerter Gesichtspunkte enthält, aus die es sich verlohnt hier näher einzugehen; nur hätte der Verfasser gut gethan, Re und da auch seine Quellen anzugeben, denn wer die kritischen Schriften Frankreichs der letzten Jahre aufmerksam verfolgt hat, dem wird es nicht entgehen, daß er hie und da auf Anschauungen, Formeln und Weuduiige» stößt, die er schon einmal in Paul Bourgets ÜMiüs av xs^oltolo^lo vmcksmpoi'An«, in Jules Lemaitrcs Schriften und andern Werken ge¬ funden hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/175>, abgerufen am 01.07.2024.