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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Grundsatz auf: wir wollen den Armen nnr eine Beihilfe gewahren. Da er¬
hält z, B, eine Witwe mit drei Kindern nnter vierzehn Jahren monatlich nenn
Mark, also täglich 30 Pfennige. Kann sie davon Obdach und den unentbehr¬
lichen Lebensunterhalt bestreiten? Unmöglich. Sie geht früh an sechs oder
sieben Uhr des Erwerbes halber aus ihrer Wohnung, läßt die Kinder allein,
die sich ihr Frühstück selbst zu bereiten haben, sich zum Schulbesuch rüsten
sollen n. s. w. Oft ziehen es diese vor, überhaupt nicht zur Schule zu gehen,
zu Hause zu bleiben und Besuch von Nachbarskindern, denen es ebenso geht,
zu empfangen. Die Folgen solcher fehlenden Aufsicht durch Eltern oder ältere
Geschwister sieht die Kriminalpolizei, die auf Grund vou 8 176, 3 des Straf¬
gesetzbuches nicht selten gegen beide schuldige Teile Untersuchung einzuleiten hat.
Eine andre Folge der unzureichenden Armenunterstützung hat die Kriminalpolizei
bei den Hehlerinnen, Taschendiebinnen oder Kupplerinnen zu beobachten. Wir
sind überzeugt, daß, wenn die Aufsichtsbehörden in großen Städten jährlich nur
einmal bei einigen der Armenpflege anheimgefallenen Familien in deren Woh¬
nungen Revision veranstalten wollten, dieses von sehr segensreicher Wirkung sein
und sich als wirksames Mittel gegen die Sozialdemokratie erweisen würde.
In einem Vortrage des Pfarrers von S. aus Berlin, in der Provinz gehalten,
hörten wir zu unserm Erstaunen, daß sich in Berlin (wir glauben nicht zu
irren) 6000 Wohnungen befänden, die weder Licht noch Luft haben. Wes¬
halb, fragen wir, schreitet die Behörde uicht ein, weshalb läßt sie nicht
dergleichen unbewohnbare Wohnungen schließen? Sollten wir durch das
Gehenlassen zu den schnudervollen Wohnungsverhältnissen Londons kommen?

Hier vor allein gilt es Hand ans Werk zu legen. Auch die Wohnuugs-
srage ist in den Grenzboten vor kurzem behandelt worden, und es kann
nicht oft genug auf diese Not hingewiesen werden. Was will es sagen, daß
nach einem Vortrage von Professor Gneist in Berlin ein Kapital von 500000
Mark für einige hundert Wohnungen zusammengebracht worden ist, oder daß
muni mich einem in Kassel gehaltenen Vortrage des Gerichtsassessors Aschrott
"nie Vermehrung der gesunden Wohnungen durch Privatgesellschaften anzu¬
streben "fucht," und ein Verbot gegen gesundheitswidrige Benutzung der
Wohnungen zu erwirken sich bemüht. Ein solches Verbot besitzt Preußen
i" ^ 10, Teil II, Titel 17 des 1794 erlassenen Allgemeinen Landrechts,
und das Suchen nach Privatbaugesellschafteu scheint bis jetzt ganz ergebnis¬
los gewesen zu sei". Anderseits war ja selbst an jeuer Stelle zugegeben,
d"ß die Beschaffung besserer Wohnungen das Zuströmen nach der Reichs-
hauptstadt verdoppeln würde. Hier ist die Konsequenz des Freizügigkeits-
gesetzes vom 1. November 1867 zu ziehen. Dieses vou den Liberalen so heiß
^sehnte und so hoch geschätzte Gesetz verhindert eben Gemeinden oder Ball¬
gesellschaften, den kleinen Leuten gesunde Wohnungen zu schaffen. Es kann
^ nnr die Frage entstehen: Soll das Freizngigkeitsgesetz in seinem jetzigen


Grundsatz auf: wir wollen den Armen nnr eine Beihilfe gewahren. Da er¬
hält z, B, eine Witwe mit drei Kindern nnter vierzehn Jahren monatlich nenn
Mark, also täglich 30 Pfennige. Kann sie davon Obdach und den unentbehr¬
lichen Lebensunterhalt bestreiten? Unmöglich. Sie geht früh an sechs oder
sieben Uhr des Erwerbes halber aus ihrer Wohnung, läßt die Kinder allein,
die sich ihr Frühstück selbst zu bereiten haben, sich zum Schulbesuch rüsten
sollen n. s. w. Oft ziehen es diese vor, überhaupt nicht zur Schule zu gehen,
zu Hause zu bleiben und Besuch von Nachbarskindern, denen es ebenso geht,
zu empfangen. Die Folgen solcher fehlenden Aufsicht durch Eltern oder ältere
Geschwister sieht die Kriminalpolizei, die auf Grund vou 8 176, 3 des Straf¬
gesetzbuches nicht selten gegen beide schuldige Teile Untersuchung einzuleiten hat.
Eine andre Folge der unzureichenden Armenunterstützung hat die Kriminalpolizei
bei den Hehlerinnen, Taschendiebinnen oder Kupplerinnen zu beobachten. Wir
sind überzeugt, daß, wenn die Aufsichtsbehörden in großen Städten jährlich nur
einmal bei einigen der Armenpflege anheimgefallenen Familien in deren Woh¬
nungen Revision veranstalten wollten, dieses von sehr segensreicher Wirkung sein
und sich als wirksames Mittel gegen die Sozialdemokratie erweisen würde.
In einem Vortrage des Pfarrers von S. aus Berlin, in der Provinz gehalten,
hörten wir zu unserm Erstaunen, daß sich in Berlin (wir glauben nicht zu
irren) 6000 Wohnungen befänden, die weder Licht noch Luft haben. Wes¬
halb, fragen wir, schreitet die Behörde uicht ein, weshalb läßt sie nicht
dergleichen unbewohnbare Wohnungen schließen? Sollten wir durch das
Gehenlassen zu den schnudervollen Wohnungsverhältnissen Londons kommen?

Hier vor allein gilt es Hand ans Werk zu legen. Auch die Wohnuugs-
srage ist in den Grenzboten vor kurzem behandelt worden, und es kann
nicht oft genug auf diese Not hingewiesen werden. Was will es sagen, daß
nach einem Vortrage von Professor Gneist in Berlin ein Kapital von 500000
Mark für einige hundert Wohnungen zusammengebracht worden ist, oder daß
muni mich einem in Kassel gehaltenen Vortrage des Gerichtsassessors Aschrott
«nie Vermehrung der gesunden Wohnungen durch Privatgesellschaften anzu¬
streben „fucht," und ein Verbot gegen gesundheitswidrige Benutzung der
Wohnungen zu erwirken sich bemüht. Ein solches Verbot besitzt Preußen
i» ^ 10, Teil II, Titel 17 des 1794 erlassenen Allgemeinen Landrechts,
und das Suchen nach Privatbaugesellschafteu scheint bis jetzt ganz ergebnis¬
los gewesen zu sei». Anderseits war ja selbst an jeuer Stelle zugegeben,
d"ß die Beschaffung besserer Wohnungen das Zuströmen nach der Reichs-
hauptstadt verdoppeln würde. Hier ist die Konsequenz des Freizügigkeits-
gesetzes vom 1. November 1867 zu ziehen. Dieses vou den Liberalen so heiß
^sehnte und so hoch geschätzte Gesetz verhindert eben Gemeinden oder Ball¬
gesellschaften, den kleinen Leuten gesunde Wohnungen zu schaffen. Es kann
^ nnr die Frage entstehen: Soll das Freizngigkeitsgesetz in seinem jetzigen


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[0159] Grundsatz auf: wir wollen den Armen nnr eine Beihilfe gewahren. Da er¬ hält z, B, eine Witwe mit drei Kindern nnter vierzehn Jahren monatlich nenn Mark, also täglich 30 Pfennige. Kann sie davon Obdach und den unentbehr¬ lichen Lebensunterhalt bestreiten? Unmöglich. Sie geht früh an sechs oder sieben Uhr des Erwerbes halber aus ihrer Wohnung, läßt die Kinder allein, die sich ihr Frühstück selbst zu bereiten haben, sich zum Schulbesuch rüsten sollen n. s. w. Oft ziehen es diese vor, überhaupt nicht zur Schule zu gehen, zu Hause zu bleiben und Besuch von Nachbarskindern, denen es ebenso geht, zu empfangen. Die Folgen solcher fehlenden Aufsicht durch Eltern oder ältere Geschwister sieht die Kriminalpolizei, die auf Grund vou 8 176, 3 des Straf¬ gesetzbuches nicht selten gegen beide schuldige Teile Untersuchung einzuleiten hat. Eine andre Folge der unzureichenden Armenunterstützung hat die Kriminalpolizei bei den Hehlerinnen, Taschendiebinnen oder Kupplerinnen zu beobachten. Wir sind überzeugt, daß, wenn die Aufsichtsbehörden in großen Städten jährlich nur einmal bei einigen der Armenpflege anheimgefallenen Familien in deren Woh¬ nungen Revision veranstalten wollten, dieses von sehr segensreicher Wirkung sein und sich als wirksames Mittel gegen die Sozialdemokratie erweisen würde. In einem Vortrage des Pfarrers von S. aus Berlin, in der Provinz gehalten, hörten wir zu unserm Erstaunen, daß sich in Berlin (wir glauben nicht zu irren) 6000 Wohnungen befänden, die weder Licht noch Luft haben. Wes¬ halb, fragen wir, schreitet die Behörde uicht ein, weshalb läßt sie nicht dergleichen unbewohnbare Wohnungen schließen? Sollten wir durch das Gehenlassen zu den schnudervollen Wohnungsverhältnissen Londons kommen? Hier vor allein gilt es Hand ans Werk zu legen. Auch die Wohnuugs- srage ist in den Grenzboten vor kurzem behandelt worden, und es kann nicht oft genug auf diese Not hingewiesen werden. Was will es sagen, daß nach einem Vortrage von Professor Gneist in Berlin ein Kapital von 500000 Mark für einige hundert Wohnungen zusammengebracht worden ist, oder daß muni mich einem in Kassel gehaltenen Vortrage des Gerichtsassessors Aschrott «nie Vermehrung der gesunden Wohnungen durch Privatgesellschaften anzu¬ streben „fucht," und ein Verbot gegen gesundheitswidrige Benutzung der Wohnungen zu erwirken sich bemüht. Ein solches Verbot besitzt Preußen i» ^ 10, Teil II, Titel 17 des 1794 erlassenen Allgemeinen Landrechts, und das Suchen nach Privatbaugesellschafteu scheint bis jetzt ganz ergebnis¬ los gewesen zu sei». Anderseits war ja selbst an jeuer Stelle zugegeben, d"ß die Beschaffung besserer Wohnungen das Zuströmen nach der Reichs- hauptstadt verdoppeln würde. Hier ist die Konsequenz des Freizügigkeits- gesetzes vom 1. November 1867 zu ziehen. Dieses vou den Liberalen so heiß ^sehnte und so hoch geschätzte Gesetz verhindert eben Gemeinden oder Ball¬ gesellschaften, den kleinen Leuten gesunde Wohnungen zu schaffen. Es kann ^ nnr die Frage entstehen: Soll das Freizngigkeitsgesetz in seinem jetzigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/159>, abgerufen am 27.12.2024.