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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Zwei Schauspiele von Henrik Ibsen

Treten wir zunächst dem Inhalte des Stückes näher. Eine Küstenstadt
des südlichen Norwegens verdankt den Bemühungen ihres Bürgermeisters und
ihres Arztes, zweier Brüder, die Einrichtung eines hübschen Seebades, das
schon nach kurzer Zeit einen vorteilhaften Einfluß auf den Wohlstand der
Bürgerschaft ausübt. Aber eine Reihe von Typhnsfällen, die während des
letzten Sommers unter den vertrauensvoll herbeiströmenden Badegästen aus¬
gebrochen sind, erregt in dem tüchtigen Arzte Mißtrauen gegen sein eignes
Werk, und er rastet nicht, bis er der auffallenden Erscheinung auf den Grund
gekommen ist: eine fachmännische Untersuchung stellt alsbald fest, daß die
städtische Leitung ein von den Fäuluisstvffen großer Gerbereien verdorbenes
Wasser aus dein Mühlthal herabführt, das nicht bloß die Vrnnnen der Stadt,
sondern an seinem Auflauf auch die neue Badeanstalt, den Stolz der Gemeinde,
verpestet. Der gewissenhafte Doktor Stockmann will diese Thatsache sofort
öffentlich erörtern, damit die Wasserleitung schleunigst verlegt werde. Sein
Bruder aber will aus Niltzlichkeitsrücksichten die Angelegenheit nur amtlich
Weiter betreiben. Als nun der Arzt noch von einigen Zeitungsschreibern und
einem angesehenen Vertreter der Kleinbürger in seinem Widerstand und seinem
ungestümen Verbesserungsdrang lebhaft unterstützt wird, stellt der Bürgermeister,
um die Bewegung im Keim zu ersticken, rücksichtslos die Forderung an ihn,
den für den Ruf der Stadt schädlichen Gerüchten öffentlich entgegenzutreten,
damit die schwierige Angelegenheit nur im Kreise der Eingeweihten erörtert
und ihre Lösung im Stillen vorbereitet werde. Doktor Stockmann weigert
sich dagegen und ist entschlossen, durch einen leidenschaftlichen Artikel im
"Volksboden" die Sache gleich vor die ganze Bürgerschaft zu bringen, und die
Redakteure unterstützen ihn in diesem Vorhaben aufs lebhafteste. Doch der
Bürgermeister sucht den Löwen in seiner Höhle ans, er beredet Redakteure und
Verleger zu einer minder schroffen Auffassung, sodaß diese vom Arzt feig ab¬
falle". Aber dieser ist dadurch keineswegs eingeschüchtert; im Vertrauen auf
den gesunden Sinn der Bürgerschaft beruft er eine Volksversammlung, deren
Leitung freilich sofort die Geguer an sich reißen, sodaß er selbst nur mit Mühe
zum Worte kommt. Da er durch Abstimmung verhindert wird, über die An¬
gelegenheit des Bades zu sprechen, enthüllt er den Leuten eine viel wichtigere
Entdeckung, die er in den letzten Tagen gemacht hat: er donnert gegen die
Grundlagen unsrer ganzen bürgerlichen Gesellschaft, weil "unsre sämtlichen
geistigen Lebensquellen vergiftet" seien, der ganze soziale Organismus "auf
dein pestschwangern Grunde der Lüge ruhe"! Er überhäuft seine Zuhörer mit
dem Vorwurfe der Gewissenlosigkeit, da sie das Emporblühen der Stadt auf
dem Moorgrunde von Lüge und Betrug aufbauen wollen. Es ist nicht zu
verwundern, daß dem Redner nach dieser Kraftleistung durch eine neue Ab¬
stimmung das Wort überhaupt entzogen und das Brandmal des "Volksfeindes"
aufgedrückt wird.


Zwei Schauspiele von Henrik Ibsen

Treten wir zunächst dem Inhalte des Stückes näher. Eine Küstenstadt
des südlichen Norwegens verdankt den Bemühungen ihres Bürgermeisters und
ihres Arztes, zweier Brüder, die Einrichtung eines hübschen Seebades, das
schon nach kurzer Zeit einen vorteilhaften Einfluß auf den Wohlstand der
Bürgerschaft ausübt. Aber eine Reihe von Typhnsfällen, die während des
letzten Sommers unter den vertrauensvoll herbeiströmenden Badegästen aus¬
gebrochen sind, erregt in dem tüchtigen Arzte Mißtrauen gegen sein eignes
Werk, und er rastet nicht, bis er der auffallenden Erscheinung auf den Grund
gekommen ist: eine fachmännische Untersuchung stellt alsbald fest, daß die
städtische Leitung ein von den Fäuluisstvffen großer Gerbereien verdorbenes
Wasser aus dein Mühlthal herabführt, das nicht bloß die Vrnnnen der Stadt,
sondern an seinem Auflauf auch die neue Badeanstalt, den Stolz der Gemeinde,
verpestet. Der gewissenhafte Doktor Stockmann will diese Thatsache sofort
öffentlich erörtern, damit die Wasserleitung schleunigst verlegt werde. Sein
Bruder aber will aus Niltzlichkeitsrücksichten die Angelegenheit nur amtlich
Weiter betreiben. Als nun der Arzt noch von einigen Zeitungsschreibern und
einem angesehenen Vertreter der Kleinbürger in seinem Widerstand und seinem
ungestümen Verbesserungsdrang lebhaft unterstützt wird, stellt der Bürgermeister,
um die Bewegung im Keim zu ersticken, rücksichtslos die Forderung an ihn,
den für den Ruf der Stadt schädlichen Gerüchten öffentlich entgegenzutreten,
damit die schwierige Angelegenheit nur im Kreise der Eingeweihten erörtert
und ihre Lösung im Stillen vorbereitet werde. Doktor Stockmann weigert
sich dagegen und ist entschlossen, durch einen leidenschaftlichen Artikel im
„Volksboden" die Sache gleich vor die ganze Bürgerschaft zu bringen, und die
Redakteure unterstützen ihn in diesem Vorhaben aufs lebhafteste. Doch der
Bürgermeister sucht den Löwen in seiner Höhle ans, er beredet Redakteure und
Verleger zu einer minder schroffen Auffassung, sodaß diese vom Arzt feig ab¬
falle». Aber dieser ist dadurch keineswegs eingeschüchtert; im Vertrauen auf
den gesunden Sinn der Bürgerschaft beruft er eine Volksversammlung, deren
Leitung freilich sofort die Geguer an sich reißen, sodaß er selbst nur mit Mühe
zum Worte kommt. Da er durch Abstimmung verhindert wird, über die An¬
gelegenheit des Bades zu sprechen, enthüllt er den Leuten eine viel wichtigere
Entdeckung, die er in den letzten Tagen gemacht hat: er donnert gegen die
Grundlagen unsrer ganzen bürgerlichen Gesellschaft, weil „unsre sämtlichen
geistigen Lebensquellen vergiftet" seien, der ganze soziale Organismus „auf
dein pestschwangern Grunde der Lüge ruhe"! Er überhäuft seine Zuhörer mit
dem Vorwurfe der Gewissenlosigkeit, da sie das Emporblühen der Stadt auf
dem Moorgrunde von Lüge und Betrug aufbauen wollen. Es ist nicht zu
verwundern, daß dem Redner nach dieser Kraftleistung durch eine neue Ab¬
stimmung das Wort überhaupt entzogen und das Brandmal des „Volksfeindes"
aufgedrückt wird.


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[0130] Zwei Schauspiele von Henrik Ibsen Treten wir zunächst dem Inhalte des Stückes näher. Eine Küstenstadt des südlichen Norwegens verdankt den Bemühungen ihres Bürgermeisters und ihres Arztes, zweier Brüder, die Einrichtung eines hübschen Seebades, das schon nach kurzer Zeit einen vorteilhaften Einfluß auf den Wohlstand der Bürgerschaft ausübt. Aber eine Reihe von Typhnsfällen, die während des letzten Sommers unter den vertrauensvoll herbeiströmenden Badegästen aus¬ gebrochen sind, erregt in dem tüchtigen Arzte Mißtrauen gegen sein eignes Werk, und er rastet nicht, bis er der auffallenden Erscheinung auf den Grund gekommen ist: eine fachmännische Untersuchung stellt alsbald fest, daß die städtische Leitung ein von den Fäuluisstvffen großer Gerbereien verdorbenes Wasser aus dein Mühlthal herabführt, das nicht bloß die Vrnnnen der Stadt, sondern an seinem Auflauf auch die neue Badeanstalt, den Stolz der Gemeinde, verpestet. Der gewissenhafte Doktor Stockmann will diese Thatsache sofort öffentlich erörtern, damit die Wasserleitung schleunigst verlegt werde. Sein Bruder aber will aus Niltzlichkeitsrücksichten die Angelegenheit nur amtlich Weiter betreiben. Als nun der Arzt noch von einigen Zeitungsschreibern und einem angesehenen Vertreter der Kleinbürger in seinem Widerstand und seinem ungestümen Verbesserungsdrang lebhaft unterstützt wird, stellt der Bürgermeister, um die Bewegung im Keim zu ersticken, rücksichtslos die Forderung an ihn, den für den Ruf der Stadt schädlichen Gerüchten öffentlich entgegenzutreten, damit die schwierige Angelegenheit nur im Kreise der Eingeweihten erörtert und ihre Lösung im Stillen vorbereitet werde. Doktor Stockmann weigert sich dagegen und ist entschlossen, durch einen leidenschaftlichen Artikel im „Volksboden" die Sache gleich vor die ganze Bürgerschaft zu bringen, und die Redakteure unterstützen ihn in diesem Vorhaben aufs lebhafteste. Doch der Bürgermeister sucht den Löwen in seiner Höhle ans, er beredet Redakteure und Verleger zu einer minder schroffen Auffassung, sodaß diese vom Arzt feig ab¬ falle». Aber dieser ist dadurch keineswegs eingeschüchtert; im Vertrauen auf den gesunden Sinn der Bürgerschaft beruft er eine Volksversammlung, deren Leitung freilich sofort die Geguer an sich reißen, sodaß er selbst nur mit Mühe zum Worte kommt. Da er durch Abstimmung verhindert wird, über die An¬ gelegenheit des Bades zu sprechen, enthüllt er den Leuten eine viel wichtigere Entdeckung, die er in den letzten Tagen gemacht hat: er donnert gegen die Grundlagen unsrer ganzen bürgerlichen Gesellschaft, weil „unsre sämtlichen geistigen Lebensquellen vergiftet" seien, der ganze soziale Organismus „auf dein pestschwangern Grunde der Lüge ruhe"! Er überhäuft seine Zuhörer mit dem Vorwurfe der Gewissenlosigkeit, da sie das Emporblühen der Stadt auf dem Moorgrunde von Lüge und Betrug aufbauen wollen. Es ist nicht zu verwundern, daß dem Redner nach dieser Kraftleistung durch eine neue Ab¬ stimmung das Wort überhaupt entzogen und das Brandmal des „Volksfeindes" aufgedrückt wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/130>, abgerufen am 22.07.2024.