Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Aus den Jugendjahren der Sozialdemokratie

befreien, uns Verdienst und Brot geben, unsre fälligen Rechnungen bezahlen?
Nein, das wahre Glück des Volkes beruht nicht anf der Form seines Staates,
sondern auf dem Grunde der Gütergemeinschaft, der gemeinsamen Erziehung
und Arbeit. England erfreut sich der vollsten staatlichen Freiheit und zeigt
doch deu traurigsten Gegensatz von Armut und Reichtum."

Nach Paris zurückgekehrt, veröffentlichte er seinen hierauf begründeten
Reformplan in der Vo/aZs Ivgris, einer Schrift in zwei Teilen, deren erster
ein Phüaken- und Schlaraffenland nach dem Muster der Utopien von Thomas
Morus und Campanella schildert. Neben dem größten Überfluß an materiellen
Gittern findet man hier alle denkbaren Erfordernisse des sittlichen Wohlergehens,
alle Voraussetzungen der Entwicklung künstlerischen Talents, kurz die reichste
Fähigkeit und die besten Mittel zum edelsten Genusse des Lebens. Alle diese
Herrlichkeiten aber sind lediglich die Wirkung der strengsten Durchführung des
Prinzips der Gleichheit aller auch in Betreff des Eigentums, also der Güter¬
gemeinschaft. "Die Ikarier -- sagt Cabet -- kennen kein Sondereigentum,
keine Münze, weder Kauf noch Verkauf. Alle arbeiten gleichmäßig für das
Gemeinwesen. Dieses empfängt den Ertrag der Landwirtschaft und des Gewerb-
fleißes und giebt ihn zu gleichen Teilen seinen einzelnen Gliedern, es leistet
ihnen alles, was sie brauchen, zunächst das Notwendige, dann das Nützliche,
zuletzt das Angenehme, es nährt, kleidet und unterrichtet sie. Die Republik
bestimmt alljährlich die Gegenstände, die zur Speisung, Bekleidung und häus¬
lichen Einrichtung des Volkes erforderlich sind, und sie allein läßt sie anfertigen,
denn alle Gewerbszweige, alle Fabriken, alle Arbeiter dienen ihr. Sie liefert
die Rohstoffe und Werkzeuge, verteilt die Arbeiten und bezahlt sie, nicht mit
Geld, sondern mit Lieferungen ans ihren vom öffentlichen Fleiße gefüllten
Scheunen und Speichern. Die Republik, die auf diese Weise verfügt, ist das
Volk selbst in Gestalt einer aus allgemeinen und gleichen Wahlen hervor¬
gehenden Nationalversammlung, eines großen Gewerbeansschusses." Der zweite
Teil der "Reise nach Jkarien" zeigt dann, wie ein solcher glückseliger Zustand
der Gesellschaft sich aus dem gegenwärtigen herausbilden kann, und hier ist
sein Hauptmittel die Brüderlichkeit. Gewalt wollte er anfänglich nicht an¬
gewendet sehen, auch sollte die Giltergemeinschaft nicht mit einem Schlage,
sondern allmählich, stufenweise,, durch eiuen Übergangszustaud mit möglichster
Schonung der alten Ordnung eingeführt werden, wobei das allgemeine Stimm¬
recht, Progressivsteuern, Arbeiterbudgets und Nationalwerkstätten eine hervor¬
ragende Rolle als Mittel spielten. Später läßt Cabet aber die Gütergemein¬
schaft und die sie vorbereitenden und begleitenden Einrichtungen aus einer
Revolution hervorgehen, die einen Volksmann zum Diktator ausruft, der seine
unbeschränkte Gewalt in brüderlicher Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue zur
Verwirklichung der ikarischen Lehre anwendet. Diese Brüderlichkeit darf jedoch
auch sehr despotisch verfahren. Die Trägheit wird wie Diebstahl bestraft und


Aus den Jugendjahren der Sozialdemokratie

befreien, uns Verdienst und Brot geben, unsre fälligen Rechnungen bezahlen?
Nein, das wahre Glück des Volkes beruht nicht anf der Form seines Staates,
sondern auf dem Grunde der Gütergemeinschaft, der gemeinsamen Erziehung
und Arbeit. England erfreut sich der vollsten staatlichen Freiheit und zeigt
doch deu traurigsten Gegensatz von Armut und Reichtum."

Nach Paris zurückgekehrt, veröffentlichte er seinen hierauf begründeten
Reformplan in der Vo/aZs Ivgris, einer Schrift in zwei Teilen, deren erster
ein Phüaken- und Schlaraffenland nach dem Muster der Utopien von Thomas
Morus und Campanella schildert. Neben dem größten Überfluß an materiellen
Gittern findet man hier alle denkbaren Erfordernisse des sittlichen Wohlergehens,
alle Voraussetzungen der Entwicklung künstlerischen Talents, kurz die reichste
Fähigkeit und die besten Mittel zum edelsten Genusse des Lebens. Alle diese
Herrlichkeiten aber sind lediglich die Wirkung der strengsten Durchführung des
Prinzips der Gleichheit aller auch in Betreff des Eigentums, also der Güter¬
gemeinschaft. „Die Ikarier — sagt Cabet — kennen kein Sondereigentum,
keine Münze, weder Kauf noch Verkauf. Alle arbeiten gleichmäßig für das
Gemeinwesen. Dieses empfängt den Ertrag der Landwirtschaft und des Gewerb-
fleißes und giebt ihn zu gleichen Teilen seinen einzelnen Gliedern, es leistet
ihnen alles, was sie brauchen, zunächst das Notwendige, dann das Nützliche,
zuletzt das Angenehme, es nährt, kleidet und unterrichtet sie. Die Republik
bestimmt alljährlich die Gegenstände, die zur Speisung, Bekleidung und häus¬
lichen Einrichtung des Volkes erforderlich sind, und sie allein läßt sie anfertigen,
denn alle Gewerbszweige, alle Fabriken, alle Arbeiter dienen ihr. Sie liefert
die Rohstoffe und Werkzeuge, verteilt die Arbeiten und bezahlt sie, nicht mit
Geld, sondern mit Lieferungen ans ihren vom öffentlichen Fleiße gefüllten
Scheunen und Speichern. Die Republik, die auf diese Weise verfügt, ist das
Volk selbst in Gestalt einer aus allgemeinen und gleichen Wahlen hervor¬
gehenden Nationalversammlung, eines großen Gewerbeansschusses." Der zweite
Teil der „Reise nach Jkarien" zeigt dann, wie ein solcher glückseliger Zustand
der Gesellschaft sich aus dem gegenwärtigen herausbilden kann, und hier ist
sein Hauptmittel die Brüderlichkeit. Gewalt wollte er anfänglich nicht an¬
gewendet sehen, auch sollte die Giltergemeinschaft nicht mit einem Schlage,
sondern allmählich, stufenweise,, durch eiuen Übergangszustaud mit möglichster
Schonung der alten Ordnung eingeführt werden, wobei das allgemeine Stimm¬
recht, Progressivsteuern, Arbeiterbudgets und Nationalwerkstätten eine hervor¬
ragende Rolle als Mittel spielten. Später läßt Cabet aber die Gütergemein¬
schaft und die sie vorbereitenden und begleitenden Einrichtungen aus einer
Revolution hervorgehen, die einen Volksmann zum Diktator ausruft, der seine
unbeschränkte Gewalt in brüderlicher Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue zur
Verwirklichung der ikarischen Lehre anwendet. Diese Brüderlichkeit darf jedoch
auch sehr despotisch verfahren. Die Trägheit wird wie Diebstahl bestraft und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0122" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207417"/>
          <fw type="header" place="top"> Aus den Jugendjahren der Sozialdemokratie</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_341" prev="#ID_340"> befreien, uns Verdienst und Brot geben, unsre fälligen Rechnungen bezahlen?<lb/>
Nein, das wahre Glück des Volkes beruht nicht anf der Form seines Staates,<lb/>
sondern auf dem Grunde der Gütergemeinschaft, der gemeinsamen Erziehung<lb/>
und Arbeit. England erfreut sich der vollsten staatlichen Freiheit und zeigt<lb/>
doch deu traurigsten Gegensatz von Armut und Reichtum."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_342" next="#ID_343"> Nach Paris zurückgekehrt, veröffentlichte er seinen hierauf begründeten<lb/>
Reformplan in der Vo/aZs Ivgris, einer Schrift in zwei Teilen, deren erster<lb/>
ein Phüaken- und Schlaraffenland nach dem Muster der Utopien von Thomas<lb/>
Morus und Campanella schildert. Neben dem größten Überfluß an materiellen<lb/>
Gittern findet man hier alle denkbaren Erfordernisse des sittlichen Wohlergehens,<lb/>
alle Voraussetzungen der Entwicklung künstlerischen Talents, kurz die reichste<lb/>
Fähigkeit und die besten Mittel zum edelsten Genusse des Lebens. Alle diese<lb/>
Herrlichkeiten aber sind lediglich die Wirkung der strengsten Durchführung des<lb/>
Prinzips der Gleichheit aller auch in Betreff des Eigentums, also der Güter¬<lb/>
gemeinschaft. &#x201E;Die Ikarier &#x2014; sagt Cabet &#x2014; kennen kein Sondereigentum,<lb/>
keine Münze, weder Kauf noch Verkauf. Alle arbeiten gleichmäßig für das<lb/>
Gemeinwesen. Dieses empfängt den Ertrag der Landwirtschaft und des Gewerb-<lb/>
fleißes und giebt ihn zu gleichen Teilen seinen einzelnen Gliedern, es leistet<lb/>
ihnen alles, was sie brauchen, zunächst das Notwendige, dann das Nützliche,<lb/>
zuletzt das Angenehme, es nährt, kleidet und unterrichtet sie. Die Republik<lb/>
bestimmt alljährlich die Gegenstände, die zur Speisung, Bekleidung und häus¬<lb/>
lichen Einrichtung des Volkes erforderlich sind, und sie allein läßt sie anfertigen,<lb/>
denn alle Gewerbszweige, alle Fabriken, alle Arbeiter dienen ihr. Sie liefert<lb/>
die Rohstoffe und Werkzeuge, verteilt die Arbeiten und bezahlt sie, nicht mit<lb/>
Geld, sondern mit Lieferungen ans ihren vom öffentlichen Fleiße gefüllten<lb/>
Scheunen und Speichern. Die Republik, die auf diese Weise verfügt, ist das<lb/>
Volk selbst in Gestalt einer aus allgemeinen und gleichen Wahlen hervor¬<lb/>
gehenden Nationalversammlung, eines großen Gewerbeansschusses." Der zweite<lb/>
Teil der &#x201E;Reise nach Jkarien" zeigt dann, wie ein solcher glückseliger Zustand<lb/>
der Gesellschaft sich aus dem gegenwärtigen herausbilden kann, und hier ist<lb/>
sein Hauptmittel die Brüderlichkeit. Gewalt wollte er anfänglich nicht an¬<lb/>
gewendet sehen, auch sollte die Giltergemeinschaft nicht mit einem Schlage,<lb/>
sondern allmählich, stufenweise,, durch eiuen Übergangszustaud mit möglichster<lb/>
Schonung der alten Ordnung eingeführt werden, wobei das allgemeine Stimm¬<lb/>
recht, Progressivsteuern, Arbeiterbudgets und Nationalwerkstätten eine hervor¬<lb/>
ragende Rolle als Mittel spielten. Später läßt Cabet aber die Gütergemein¬<lb/>
schaft und die sie vorbereitenden und begleitenden Einrichtungen aus einer<lb/>
Revolution hervorgehen, die einen Volksmann zum Diktator ausruft, der seine<lb/>
unbeschränkte Gewalt in brüderlicher Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue zur<lb/>
Verwirklichung der ikarischen Lehre anwendet. Diese Brüderlichkeit darf jedoch<lb/>
auch sehr despotisch verfahren. Die Trägheit wird wie Diebstahl bestraft und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0122] Aus den Jugendjahren der Sozialdemokratie befreien, uns Verdienst und Brot geben, unsre fälligen Rechnungen bezahlen? Nein, das wahre Glück des Volkes beruht nicht anf der Form seines Staates, sondern auf dem Grunde der Gütergemeinschaft, der gemeinsamen Erziehung und Arbeit. England erfreut sich der vollsten staatlichen Freiheit und zeigt doch deu traurigsten Gegensatz von Armut und Reichtum." Nach Paris zurückgekehrt, veröffentlichte er seinen hierauf begründeten Reformplan in der Vo/aZs Ivgris, einer Schrift in zwei Teilen, deren erster ein Phüaken- und Schlaraffenland nach dem Muster der Utopien von Thomas Morus und Campanella schildert. Neben dem größten Überfluß an materiellen Gittern findet man hier alle denkbaren Erfordernisse des sittlichen Wohlergehens, alle Voraussetzungen der Entwicklung künstlerischen Talents, kurz die reichste Fähigkeit und die besten Mittel zum edelsten Genusse des Lebens. Alle diese Herrlichkeiten aber sind lediglich die Wirkung der strengsten Durchführung des Prinzips der Gleichheit aller auch in Betreff des Eigentums, also der Güter¬ gemeinschaft. „Die Ikarier — sagt Cabet — kennen kein Sondereigentum, keine Münze, weder Kauf noch Verkauf. Alle arbeiten gleichmäßig für das Gemeinwesen. Dieses empfängt den Ertrag der Landwirtschaft und des Gewerb- fleißes und giebt ihn zu gleichen Teilen seinen einzelnen Gliedern, es leistet ihnen alles, was sie brauchen, zunächst das Notwendige, dann das Nützliche, zuletzt das Angenehme, es nährt, kleidet und unterrichtet sie. Die Republik bestimmt alljährlich die Gegenstände, die zur Speisung, Bekleidung und häus¬ lichen Einrichtung des Volkes erforderlich sind, und sie allein läßt sie anfertigen, denn alle Gewerbszweige, alle Fabriken, alle Arbeiter dienen ihr. Sie liefert die Rohstoffe und Werkzeuge, verteilt die Arbeiten und bezahlt sie, nicht mit Geld, sondern mit Lieferungen ans ihren vom öffentlichen Fleiße gefüllten Scheunen und Speichern. Die Republik, die auf diese Weise verfügt, ist das Volk selbst in Gestalt einer aus allgemeinen und gleichen Wahlen hervor¬ gehenden Nationalversammlung, eines großen Gewerbeansschusses." Der zweite Teil der „Reise nach Jkarien" zeigt dann, wie ein solcher glückseliger Zustand der Gesellschaft sich aus dem gegenwärtigen herausbilden kann, und hier ist sein Hauptmittel die Brüderlichkeit. Gewalt wollte er anfänglich nicht an¬ gewendet sehen, auch sollte die Giltergemeinschaft nicht mit einem Schlage, sondern allmählich, stufenweise,, durch eiuen Übergangszustaud mit möglichster Schonung der alten Ordnung eingeführt werden, wobei das allgemeine Stimm¬ recht, Progressivsteuern, Arbeiterbudgets und Nationalwerkstätten eine hervor¬ ragende Rolle als Mittel spielten. Später läßt Cabet aber die Gütergemein¬ schaft und die sie vorbereitenden und begleitenden Einrichtungen aus einer Revolution hervorgehen, die einen Volksmann zum Diktator ausruft, der seine unbeschränkte Gewalt in brüderlicher Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue zur Verwirklichung der ikarischen Lehre anwendet. Diese Brüderlichkeit darf jedoch auch sehr despotisch verfahren. Die Trägheit wird wie Diebstahl bestraft und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/122
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/122>, abgerufen am 27.12.2024.