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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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barbaren verschossen werden. Wir wisse,, wohl, daß es nicht in der Absicht
des Verfassers liegt und liegen kann, die deutsche Bildung von der glorreichen
französischen Julirevolution oder vom Erscheinen des Straußischen "Lebens
Jesu" zu datiren; wer ein Buch wie "Jean Paul" schreibt, muß auf ein andres
Publikum rechnen, als das, das in Jean Paul höchstens einen Vorläufer zur
modernsten Feuilletonschriftstellerei erblickt. Aber schade ist es immerhin, daß
dies geistvolle Buch in dem bezeichneten Sinne mißbraucht werden kann. Zu
vermeiden wäre das bei deu Grundanschauungen des Verfassers allerdings nnr
in einzelnen Füllen gewesen.

Die Lebensgeschichte Jean Pauls kann natürlich nur in Einzelzügen "neu"
sein, der Verfasser ist von deu heimatlichen Anfängen Jean Pauls in Wun-
siedel, Jvditz, Schwarzeubnch und Hof durch die wunderlichen Wanderungen
der mittlern Zeit bis zu dein spätern Baireuther Stillleben der äußern und
geistigen Entwicklung des Menschen und Schriftstellers mit musterhafter Sorg¬
falt nachgegangen, er schöpft im strengsten Sinne aus den Quellen (ohne den
Aberglauben derer zu teilen, die ihr Material schlechthin ausschreiben und
abschreiben und damit ans jede eigne Gestaltung verzichten), ist anch so glücklich
gewesen, durch Ernst Förster, deu Schwiegersohn, und Vrix Förster, den Enkel
Jean Pauls, eine Fülle vou wichtigem Material zu erhalten, das eine aus¬
führliche, in die Verhältnisse wie in die Stimmungen der Zeit zurückversetzende
Darstellung ermöglicht hat. Die Hilfsmittel der zeitgenössischen Litteratur, die
gedruckten Erinnerungen und Briefe sind nicht minder umfassend und glücklich
benutzt, und je mehr wir uns gewöhnt haben, die deutsche Litteratur- Und
Kulturentwicklung vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts so anzusehen, daß
Goethe und Schiller im Mittelpunkte stehen und bleiben, um so interessanter
ist es, einmal in eine Zeitanschaunng zurückversetzt zu werden, wo dies von
wenigen anerkannt und von vielen bestritten war. Es ist dies natürlich nur
möglich, wenn wir in der Biographie Jean Pauls uicht bloß blättern, sondern
Nerrlich vom Beginn um dnrch die Geschichte der Richterschen Vorfahren, die
allesamt als echte Kinder und Insassen des Fichtelgebirges erscheinen, in die
Schüler-, Studenten- und ersten Schriststellerjahre Jean Pauls mit Hin¬
gebung folgen.

Da die bewußte und unbewußte Heimatliebe Jean Pauls in seiner eigen-
tümlichen Lebeus- und Schaffensrichtuug eine mehr als vorübergehende Rolle
spielt, so ist es ganz richtig, daß Nerrlich mit der Schilderung des im Herzen
von Deutschland gelegenen Fichtelgebirges beginnt. "Wer einmal von seinen
Höhen herabgeschaut, die prächtigen Tauuenwaldnngen mit ihren aus dunkelm
Grün emporragenden gewaltigen Granitmassen oder die saftigen Wiesengründe
mit ihren fröhlich rauschenden und plätschernden Bächlein durchwandert hat,
der gedenkt immer wieder, auch wenn er Erhabneres kennt, mit Entzücken der
hier verlebten Tage. Noch heute ist das Fichtelgebirge das einsame, vou


Grenzboten I 1L90 12
Jean j?aut

barbaren verschossen werden. Wir wisse,, wohl, daß es nicht in der Absicht
des Verfassers liegt und liegen kann, die deutsche Bildung von der glorreichen
französischen Julirevolution oder vom Erscheinen des Straußischen „Lebens
Jesu" zu datiren; wer ein Buch wie „Jean Paul" schreibt, muß auf ein andres
Publikum rechnen, als das, das in Jean Paul höchstens einen Vorläufer zur
modernsten Feuilletonschriftstellerei erblickt. Aber schade ist es immerhin, daß
dies geistvolle Buch in dem bezeichneten Sinne mißbraucht werden kann. Zu
vermeiden wäre das bei deu Grundanschauungen des Verfassers allerdings nnr
in einzelnen Füllen gewesen.

Die Lebensgeschichte Jean Pauls kann natürlich nur in Einzelzügen „neu"
sein, der Verfasser ist von deu heimatlichen Anfängen Jean Pauls in Wun-
siedel, Jvditz, Schwarzeubnch und Hof durch die wunderlichen Wanderungen
der mittlern Zeit bis zu dein spätern Baireuther Stillleben der äußern und
geistigen Entwicklung des Menschen und Schriftstellers mit musterhafter Sorg¬
falt nachgegangen, er schöpft im strengsten Sinne aus den Quellen (ohne den
Aberglauben derer zu teilen, die ihr Material schlechthin ausschreiben und
abschreiben und damit ans jede eigne Gestaltung verzichten), ist anch so glücklich
gewesen, durch Ernst Förster, deu Schwiegersohn, und Vrix Förster, den Enkel
Jean Pauls, eine Fülle vou wichtigem Material zu erhalten, das eine aus¬
führliche, in die Verhältnisse wie in die Stimmungen der Zeit zurückversetzende
Darstellung ermöglicht hat. Die Hilfsmittel der zeitgenössischen Litteratur, die
gedruckten Erinnerungen und Briefe sind nicht minder umfassend und glücklich
benutzt, und je mehr wir uns gewöhnt haben, die deutsche Litteratur- Und
Kulturentwicklung vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts so anzusehen, daß
Goethe und Schiller im Mittelpunkte stehen und bleiben, um so interessanter
ist es, einmal in eine Zeitanschaunng zurückversetzt zu werden, wo dies von
wenigen anerkannt und von vielen bestritten war. Es ist dies natürlich nur
möglich, wenn wir in der Biographie Jean Pauls uicht bloß blättern, sondern
Nerrlich vom Beginn um dnrch die Geschichte der Richterschen Vorfahren, die
allesamt als echte Kinder und Insassen des Fichtelgebirges erscheinen, in die
Schüler-, Studenten- und ersten Schriststellerjahre Jean Pauls mit Hin¬
gebung folgen.

Da die bewußte und unbewußte Heimatliebe Jean Pauls in seiner eigen-
tümlichen Lebeus- und Schaffensrichtuug eine mehr als vorübergehende Rolle
spielt, so ist es ganz richtig, daß Nerrlich mit der Schilderung des im Herzen
von Deutschland gelegenen Fichtelgebirges beginnt. „Wer einmal von seinen
Höhen herabgeschaut, die prächtigen Tauuenwaldnngen mit ihren aus dunkelm
Grün emporragenden gewaltigen Granitmassen oder die saftigen Wiesengründe
mit ihren fröhlich rauschenden und plätschernden Bächlein durchwandert hat,
der gedenkt immer wieder, auch wenn er Erhabneres kennt, mit Entzücken der
hier verlebten Tage. Noch heute ist das Fichtelgebirge das einsame, vou


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[0097] Jean j?aut barbaren verschossen werden. Wir wisse,, wohl, daß es nicht in der Absicht des Verfassers liegt und liegen kann, die deutsche Bildung von der glorreichen französischen Julirevolution oder vom Erscheinen des Straußischen „Lebens Jesu" zu datiren; wer ein Buch wie „Jean Paul" schreibt, muß auf ein andres Publikum rechnen, als das, das in Jean Paul höchstens einen Vorläufer zur modernsten Feuilletonschriftstellerei erblickt. Aber schade ist es immerhin, daß dies geistvolle Buch in dem bezeichneten Sinne mißbraucht werden kann. Zu vermeiden wäre das bei deu Grundanschauungen des Verfassers allerdings nnr in einzelnen Füllen gewesen. Die Lebensgeschichte Jean Pauls kann natürlich nur in Einzelzügen „neu" sein, der Verfasser ist von deu heimatlichen Anfängen Jean Pauls in Wun- siedel, Jvditz, Schwarzeubnch und Hof durch die wunderlichen Wanderungen der mittlern Zeit bis zu dein spätern Baireuther Stillleben der äußern und geistigen Entwicklung des Menschen und Schriftstellers mit musterhafter Sorg¬ falt nachgegangen, er schöpft im strengsten Sinne aus den Quellen (ohne den Aberglauben derer zu teilen, die ihr Material schlechthin ausschreiben und abschreiben und damit ans jede eigne Gestaltung verzichten), ist anch so glücklich gewesen, durch Ernst Förster, deu Schwiegersohn, und Vrix Förster, den Enkel Jean Pauls, eine Fülle vou wichtigem Material zu erhalten, das eine aus¬ führliche, in die Verhältnisse wie in die Stimmungen der Zeit zurückversetzende Darstellung ermöglicht hat. Die Hilfsmittel der zeitgenössischen Litteratur, die gedruckten Erinnerungen und Briefe sind nicht minder umfassend und glücklich benutzt, und je mehr wir uns gewöhnt haben, die deutsche Litteratur- Und Kulturentwicklung vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts so anzusehen, daß Goethe und Schiller im Mittelpunkte stehen und bleiben, um so interessanter ist es, einmal in eine Zeitanschaunng zurückversetzt zu werden, wo dies von wenigen anerkannt und von vielen bestritten war. Es ist dies natürlich nur möglich, wenn wir in der Biographie Jean Pauls uicht bloß blättern, sondern Nerrlich vom Beginn um dnrch die Geschichte der Richterschen Vorfahren, die allesamt als echte Kinder und Insassen des Fichtelgebirges erscheinen, in die Schüler-, Studenten- und ersten Schriststellerjahre Jean Pauls mit Hin¬ gebung folgen. Da die bewußte und unbewußte Heimatliebe Jean Pauls in seiner eigen- tümlichen Lebeus- und Schaffensrichtuug eine mehr als vorübergehende Rolle spielt, so ist es ganz richtig, daß Nerrlich mit der Schilderung des im Herzen von Deutschland gelegenen Fichtelgebirges beginnt. „Wer einmal von seinen Höhen herabgeschaut, die prächtigen Tauuenwaldnngen mit ihren aus dunkelm Grün emporragenden gewaltigen Granitmassen oder die saftigen Wiesengründe mit ihren fröhlich rauschenden und plätschernden Bächlein durchwandert hat, der gedenkt immer wieder, auch wenn er Erhabneres kennt, mit Entzücken der hier verlebten Tage. Noch heute ist das Fichtelgebirge das einsame, vou Grenzboten I 1L90 12

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/97>, abgerufen am 23.07.2024.