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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Jean Paul

gemacht hat und hinsichtlich der Sinnlichkeit und Anschaulichkeit seines Stils
nur noch in Lessing seinesgleichen findet. Doch wir würden ihm nur zur
Hälfte gerecht werden, wenn wir nur von Jean Paul dem Dichter sprächen
und nicht schließlich mich noch kurz Jean Puits des Ästhetikers, Pädagogen
und Politikers gedenken, wie zuletzt einen Blick ans seine Stellung zur Religion
werfen wollten." Von dem Ästhetiker Jean Paul rühmt Nerrlich, das; ihm
Einblicke in die Tiefen des schaffenden Genius vergönnt gewesen seien, die
wir vergeblich bei Lessing und selbst bei Schiller suchten. Bon dem Pädagogen
ist er überzeugt, "daß der Name Jean Pauls allezeit in der Geschichte der
^ Pädagogik neben Rousseau als der eines Pfadfinders fortleben wird; unter den
Dentschen sind damals nnr noch Hamann und Herder mit gleicher Wärme für
die Pflege des nationalen Sinnes und der Muttersprache eingetreten." "Als
Politiker und Patriot setzt Jean Paul nicht nur das Werk eines Schiller fort,
sondern greift auch, freilich nnr als Schriftsteller, unmittelbar in die Gegenwart
ein und sucht seine Ideale direkt, nicht erst dnrch Vermittlung der Dichtkunst
zu verwirklichen." In seiner "Stellung zur Religion" soll ihm nach Nerrlich
unvergessen bleiben, daß er "im Gegensatz zu Goethe und Schiller, anknüpfend
an Lessing, Hamann und Herder, überhaupt wiederum die religiösen Probleme
direkt aufnahm." "Durch nichts vielleicht werden wir so sehr mit den Mängeln
Jean Pauls ausgesöhnt, als dadurch, daß er allezeit die Religion als das
Höchste und Letzte gepriesen und ihre Suprematie über die Dichtung und Philo¬
sophie anerkannt hat."

Wir geben von vornherein zu, daß es dieser oder einer ähnlichen Über-
zeugung bedürfte, um ein so bis ins Einzelne treues und anschauliches Lebens¬
bild Jean Pauls in Angriff zu nehmen, und daß die aufrichtige Begeisterung
des Verfassers für seinen Helden der Frische und lebendigen Beweglichkeit der
Darstellung zu gute gekommen ist. Die Grundanschauung, von der das Werk
durchdrungen erscheint, ist nicht die unsre, uns scheint weder Heine ein
"Fortschritt" über Goethe, noch Feuerbach ein Fortschritt über Kant hinaus,
Nur glauben keinen Angenblick daran, daß Goethe und Schiller "alles in allem"
nur die Vertreter der ästhetischen Kultur seien, und daß es irgend einen
berechtigten Standpunkt gebe, auf diese Kultur geringschätzig herabzusehen,
sondern wissen sehr wohl, daß Goethe ein Recht hatte, in seinen letzten Tagen
mit olympischer Ruhe als der Freieste der Freien nach dem armseligen Partei-
freisinu hinzublicken, der eben das große Wort zu führen begann. Überhaupt ist es
ein Unheil, daß selbst ein Schriftsteller von dem Gepräge Nerrlichs es nicht über
sich gewinnen kann, den größten Naturen gerecht zu werden, ohne sie für Dinge
verantwortlich zu machen, die sie nichts angehen (denn was hat zum Beispiel
Goethes oder Schillers "Schwärmerei für die Griechen" mit dem modernsten
Philologen- und Grammatikerdünkel zu schaffen?), daß ein bedeutendes und
ernstes Buch sich zum Köcher macht für Pfeile, die von deu jüngsten Preß-


Jean Paul

gemacht hat und hinsichtlich der Sinnlichkeit und Anschaulichkeit seines Stils
nur noch in Lessing seinesgleichen findet. Doch wir würden ihm nur zur
Hälfte gerecht werden, wenn wir nur von Jean Paul dem Dichter sprächen
und nicht schließlich mich noch kurz Jean Puits des Ästhetikers, Pädagogen
und Politikers gedenken, wie zuletzt einen Blick ans seine Stellung zur Religion
werfen wollten." Von dem Ästhetiker Jean Paul rühmt Nerrlich, das; ihm
Einblicke in die Tiefen des schaffenden Genius vergönnt gewesen seien, die
wir vergeblich bei Lessing und selbst bei Schiller suchten. Bon dem Pädagogen
ist er überzeugt, „daß der Name Jean Pauls allezeit in der Geschichte der
^ Pädagogik neben Rousseau als der eines Pfadfinders fortleben wird; unter den
Dentschen sind damals nnr noch Hamann und Herder mit gleicher Wärme für
die Pflege des nationalen Sinnes und der Muttersprache eingetreten." „Als
Politiker und Patriot setzt Jean Paul nicht nur das Werk eines Schiller fort,
sondern greift auch, freilich nnr als Schriftsteller, unmittelbar in die Gegenwart
ein und sucht seine Ideale direkt, nicht erst dnrch Vermittlung der Dichtkunst
zu verwirklichen." In seiner „Stellung zur Religion" soll ihm nach Nerrlich
unvergessen bleiben, daß er „im Gegensatz zu Goethe und Schiller, anknüpfend
an Lessing, Hamann und Herder, überhaupt wiederum die religiösen Probleme
direkt aufnahm." „Durch nichts vielleicht werden wir so sehr mit den Mängeln
Jean Pauls ausgesöhnt, als dadurch, daß er allezeit die Religion als das
Höchste und Letzte gepriesen und ihre Suprematie über die Dichtung und Philo¬
sophie anerkannt hat."

Wir geben von vornherein zu, daß es dieser oder einer ähnlichen Über-
zeugung bedürfte, um ein so bis ins Einzelne treues und anschauliches Lebens¬
bild Jean Pauls in Angriff zu nehmen, und daß die aufrichtige Begeisterung
des Verfassers für seinen Helden der Frische und lebendigen Beweglichkeit der
Darstellung zu gute gekommen ist. Die Grundanschauung, von der das Werk
durchdrungen erscheint, ist nicht die unsre, uns scheint weder Heine ein
„Fortschritt" über Goethe, noch Feuerbach ein Fortschritt über Kant hinaus,
Nur glauben keinen Angenblick daran, daß Goethe und Schiller „alles in allem"
nur die Vertreter der ästhetischen Kultur seien, und daß es irgend einen
berechtigten Standpunkt gebe, auf diese Kultur geringschätzig herabzusehen,
sondern wissen sehr wohl, daß Goethe ein Recht hatte, in seinen letzten Tagen
mit olympischer Ruhe als der Freieste der Freien nach dem armseligen Partei-
freisinu hinzublicken, der eben das große Wort zu führen begann. Überhaupt ist es
ein Unheil, daß selbst ein Schriftsteller von dem Gepräge Nerrlichs es nicht über
sich gewinnen kann, den größten Naturen gerecht zu werden, ohne sie für Dinge
verantwortlich zu machen, die sie nichts angehen (denn was hat zum Beispiel
Goethes oder Schillers „Schwärmerei für die Griechen" mit dem modernsten
Philologen- und Grammatikerdünkel zu schaffen?), daß ein bedeutendes und
ernstes Buch sich zum Köcher macht für Pfeile, die von deu jüngsten Preß-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/96>, abgerufen am 23.07.2024.