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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Jean Paul

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V^Ä"M
^^D^eun die genaueste und eingehendste Forschung, die lebendigste
Charakteristik, die liebevollste Würdigung vergangner Tage und
Werke die Zauberkraft besäße, uns in die Stimmungen und die
Phantasierichtung unsrer Großväter und Großmütter zurückzu¬
versetzen, wenn sich gediegne biographisch-kritische Darstellungen
nicht vorzugsweise an Lebens- und Lesekreise wendeten, wo mau es liebt, sich
durch ein umfassend belehrendes Buch aller weitern Ansprüche überheben zu
lassen, so müßten im letzten Vierteljahr, viel verstaubte Bände ans den hintern
Reihen.deutscher Bücherschränke hervorgezogen worden Seitn Denn ein Dichter,
der neben Goethe und Schiller gewirkt und von einem Teile des Publikums,
wohlgemerkt nicht des schlechtesten Publikums, den Heroen von Weimar offen-
kundig vorgezogen worden ist, el" Schriftsteller, der einen nur zu starken und
tiefreichenden Einfluß auf Geschmacksrichtung und Bildung zweier Geschlechter
gehabt hat, hat in dem lange vorbereiteten Buche: Jean Paul. SeinLebeu und
seine Werke von Paul Nerrlich (Berlin, Weidmannsche Buchhandlung, 188!")
seine biographische und literarhistorische Auferstehung gefeiert. Die seit längerer
Zeit angekündigte Biographie ist die Frucht jahrelanger eingehender Beschäftigung
mit dem Dichter und seiner Zeit, geistvoller Anschauung wie ernsten Fleißes
und sollte in doppelter Hinsicht wirksam sein, sollte nicht bloß ein historisches
Urteil über den Dichter des "Titan" und des "Siebenkäs" tiefer begründen,
sondern auch wieder einmal Teilnahme und offnen Sinn für den trotz einer
sehr wunderlichen und für uns schlechthin stachlichen Schale dennoch echt poe¬
tischen Kern in Jean Pauls Werken erwecken. Daß dies jedoch nnr an ganz
vereinzelten Stellen geschehen wird, scheint uns leider gewiß; die Vorbe¬
dingungen, nnter denen vor Zeiten Jean Pauls Bücher "richt nnr gelesen und
genossen wurden, sondern nnter denen man in ihnen schwelgte und Thränen
der Rührung vergoß, sind fast sämtlich dahingeschwunden. Kein Zweiter unter
unsern großen Dichtern ist so unlöslich mit den fast vergessenen, verworrenen
und philiströsen Zuständen von Ende des achtzehnten und Eingang dieses
Jahrhunderts verwachsen, als Johann Paul Friedrich Richter. Die geistige
Weltweite und die materielle Enge und Armseligkeit des damaligen deutschen




Jean Paul

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^^D^eun die genaueste und eingehendste Forschung, die lebendigste
Charakteristik, die liebevollste Würdigung vergangner Tage und
Werke die Zauberkraft besäße, uns in die Stimmungen und die
Phantasierichtung unsrer Großväter und Großmütter zurückzu¬
versetzen, wenn sich gediegne biographisch-kritische Darstellungen
nicht vorzugsweise an Lebens- und Lesekreise wendeten, wo mau es liebt, sich
durch ein umfassend belehrendes Buch aller weitern Ansprüche überheben zu
lassen, so müßten im letzten Vierteljahr, viel verstaubte Bände ans den hintern
Reihen.deutscher Bücherschränke hervorgezogen worden Seitn Denn ein Dichter,
der neben Goethe und Schiller gewirkt und von einem Teile des Publikums,
wohlgemerkt nicht des schlechtesten Publikums, den Heroen von Weimar offen-
kundig vorgezogen worden ist, el» Schriftsteller, der einen nur zu starken und
tiefreichenden Einfluß auf Geschmacksrichtung und Bildung zweier Geschlechter
gehabt hat, hat in dem lange vorbereiteten Buche: Jean Paul. SeinLebeu und
seine Werke von Paul Nerrlich (Berlin, Weidmannsche Buchhandlung, 188!»)
seine biographische und literarhistorische Auferstehung gefeiert. Die seit längerer
Zeit angekündigte Biographie ist die Frucht jahrelanger eingehender Beschäftigung
mit dem Dichter und seiner Zeit, geistvoller Anschauung wie ernsten Fleißes
und sollte in doppelter Hinsicht wirksam sein, sollte nicht bloß ein historisches
Urteil über den Dichter des „Titan" und des „Siebenkäs" tiefer begründen,
sondern auch wieder einmal Teilnahme und offnen Sinn für den trotz einer
sehr wunderlichen und für uns schlechthin stachlichen Schale dennoch echt poe¬
tischen Kern in Jean Pauls Werken erwecken. Daß dies jedoch nnr an ganz
vereinzelten Stellen geschehen wird, scheint uns leider gewiß; die Vorbe¬
dingungen, nnter denen vor Zeiten Jean Pauls Bücher «richt nnr gelesen und
genossen wurden, sondern nnter denen man in ihnen schwelgte und Thränen
der Rührung vergoß, sind fast sämtlich dahingeschwunden. Kein Zweiter unter
unsern großen Dichtern ist so unlöslich mit den fast vergessenen, verworrenen
und philiströsen Zuständen von Ende des achtzehnten und Eingang dieses
Jahrhunderts verwachsen, als Johann Paul Friedrich Richter. Die geistige
Weltweite und die materielle Enge und Armseligkeit des damaligen deutschen


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[0093] Jean Paul M^H V^Ä«M ^^D^eun die genaueste und eingehendste Forschung, die lebendigste Charakteristik, die liebevollste Würdigung vergangner Tage und Werke die Zauberkraft besäße, uns in die Stimmungen und die Phantasierichtung unsrer Großväter und Großmütter zurückzu¬ versetzen, wenn sich gediegne biographisch-kritische Darstellungen nicht vorzugsweise an Lebens- und Lesekreise wendeten, wo mau es liebt, sich durch ein umfassend belehrendes Buch aller weitern Ansprüche überheben zu lassen, so müßten im letzten Vierteljahr, viel verstaubte Bände ans den hintern Reihen.deutscher Bücherschränke hervorgezogen worden Seitn Denn ein Dichter, der neben Goethe und Schiller gewirkt und von einem Teile des Publikums, wohlgemerkt nicht des schlechtesten Publikums, den Heroen von Weimar offen- kundig vorgezogen worden ist, el» Schriftsteller, der einen nur zu starken und tiefreichenden Einfluß auf Geschmacksrichtung und Bildung zweier Geschlechter gehabt hat, hat in dem lange vorbereiteten Buche: Jean Paul. SeinLebeu und seine Werke von Paul Nerrlich (Berlin, Weidmannsche Buchhandlung, 188!») seine biographische und literarhistorische Auferstehung gefeiert. Die seit längerer Zeit angekündigte Biographie ist die Frucht jahrelanger eingehender Beschäftigung mit dem Dichter und seiner Zeit, geistvoller Anschauung wie ernsten Fleißes und sollte in doppelter Hinsicht wirksam sein, sollte nicht bloß ein historisches Urteil über den Dichter des „Titan" und des „Siebenkäs" tiefer begründen, sondern auch wieder einmal Teilnahme und offnen Sinn für den trotz einer sehr wunderlichen und für uns schlechthin stachlichen Schale dennoch echt poe¬ tischen Kern in Jean Pauls Werken erwecken. Daß dies jedoch nnr an ganz vereinzelten Stellen geschehen wird, scheint uns leider gewiß; die Vorbe¬ dingungen, nnter denen vor Zeiten Jean Pauls Bücher «richt nnr gelesen und genossen wurden, sondern nnter denen man in ihnen schwelgte und Thränen der Rührung vergoß, sind fast sämtlich dahingeschwunden. Kein Zweiter unter unsern großen Dichtern ist so unlöslich mit den fast vergessenen, verworrenen und philiströsen Zuständen von Ende des achtzehnten und Eingang dieses Jahrhunderts verwachsen, als Johann Paul Friedrich Richter. Die geistige Weltweite und die materielle Enge und Armseligkeit des damaligen deutschen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/93>, abgerufen am 23.07.2024.