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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Allerhand Sprachdummheiten

Dn hat kein andres Tempus etwas zu suchen als das Präsens und das Per¬
fektum, das Präsens für die Geschichte selbst, das Perfekt für die Vorgeschichte.
Es wirkt dies unleugbar auf die Dauer etwas ermüdend, aber das ist nicht
die Schuld der Tempora, sondern die Schuld der Rezensenten, die nicht im¬
stande sind, eine Inhaltsangabe knapp zu halten und auf das Wesentlichste zu
beschränken. Erzählen hören kann man jemand stundenlang, über eine Inhalts¬
angabe fängt man schon nach fünf Minuten an zu gähnen. Mir wenigstens
gehts immer so.

Der zweite Fall betrifft die biographische Darstellung. Auch diese ist
natürlich eine Erzählung, kann sich also in keinem andern Tempus bewegen,
'als im Imperfectum. Aber der erste Satz: die Geburtsaugabe, wie stehts
damit? Soll man schreiben: Lessing war geboren, Lessing wurde geboren
oder Lessing ist geboren? In der That kann man alle drei Ausdrucksweise"
finden. Aber am häufigsten die falsche! Er ist geboren -- das kann man
doch vernünftigerweise nur von dem sagen, der noch lebt. Deu Lebenden kann
man fragen: Wann bist du geboren? Und dann antwortet er: Ich bin am
23. Mai 1844 geboren. Von einem, der nicht mehr lebt, kann man wohl am
Schlüsse seiner Biographie sagen: Gestorben ist er am ZI. Oktober 1880
lwiewohl man damit plötzlich aus dein Tone der Erzählung herausfällt in
den der bloßen thatsächlichen Mitteilung); aber nur Anfange der Biographie
kaun es doch nur heißen: er war oder wurde geboren; mit wurde versetze
ich mich um den Anfang des Lebenslaufes meines Helden, mit war versetze ich
mich mitten hinein in diesen Lebenslauf. Nun sehe man einmal, in wieviel
hundert und tausend Fällen in Zeitungsartikeln, im Konversationslexikon, in
.Kunst- und Litteraturgeschichten, in der "Allgemeinen deutschen Biographie" die
Gedankenlosigkeit begangen wird, daß man von Verstorbenen zu erzählen an¬
fängt, als ob sie lebten!

Nur im Vorübergehen will ich endlich noch der Liederlichkeit unsers
Akten- und Zeitungsstils gedenken, die in deu zahllosen stattgehabten und
stattgefundenen Versammlungen, Beratungen, Abstimmungen, Wahlen,
Audienzen n. s. w. zum Ausdruck kommt. Es lohnt der Mühe nicht, viel Worte
drüber zu machen. Der Fehler, ein aktives Partizipium der Vergangenheit
(denn eine Versammlung hat doch stattgefunden, aber sie ist es nicht!) wie ein
passives Partizipium der Vergangenheit mit einem Substantivum zu verbinden,
ist so über alle Maßen widerwärtig, daß man ihn der Tagespresse aller-
unterster Sorte überlassen sollte. Ich weiß sehr wohl, daß der Germanist
solche Verbindungen in Schutz nimmt mit Hinweis auf den gedienten Sol¬
daten, den gelernten Kellner und den studierten Mann. Aber was nimmt
der Germanist nicht alles in Schutz! Was findet er nicht alles richtig, un¬
anfechtbar und schön vor lauter historischer Objektivität! Ihm selber fällt es
natürlich gar nicht ein, von stattgehabten Versamnüunge" zu reden, sowenig


Allerhand Sprachdummheiten

Dn hat kein andres Tempus etwas zu suchen als das Präsens und das Per¬
fektum, das Präsens für die Geschichte selbst, das Perfekt für die Vorgeschichte.
Es wirkt dies unleugbar auf die Dauer etwas ermüdend, aber das ist nicht
die Schuld der Tempora, sondern die Schuld der Rezensenten, die nicht im¬
stande sind, eine Inhaltsangabe knapp zu halten und auf das Wesentlichste zu
beschränken. Erzählen hören kann man jemand stundenlang, über eine Inhalts¬
angabe fängt man schon nach fünf Minuten an zu gähnen. Mir wenigstens
gehts immer so.

Der zweite Fall betrifft die biographische Darstellung. Auch diese ist
natürlich eine Erzählung, kann sich also in keinem andern Tempus bewegen,
'als im Imperfectum. Aber der erste Satz: die Geburtsaugabe, wie stehts
damit? Soll man schreiben: Lessing war geboren, Lessing wurde geboren
oder Lessing ist geboren? In der That kann man alle drei Ausdrucksweise»
finden. Aber am häufigsten die falsche! Er ist geboren — das kann man
doch vernünftigerweise nur von dem sagen, der noch lebt. Deu Lebenden kann
man fragen: Wann bist du geboren? Und dann antwortet er: Ich bin am
23. Mai 1844 geboren. Von einem, der nicht mehr lebt, kann man wohl am
Schlüsse seiner Biographie sagen: Gestorben ist er am ZI. Oktober 1880
lwiewohl man damit plötzlich aus dein Tone der Erzählung herausfällt in
den der bloßen thatsächlichen Mitteilung); aber nur Anfange der Biographie
kaun es doch nur heißen: er war oder wurde geboren; mit wurde versetze
ich mich um den Anfang des Lebenslaufes meines Helden, mit war versetze ich
mich mitten hinein in diesen Lebenslauf. Nun sehe man einmal, in wieviel
hundert und tausend Fällen in Zeitungsartikeln, im Konversationslexikon, in
.Kunst- und Litteraturgeschichten, in der „Allgemeinen deutschen Biographie" die
Gedankenlosigkeit begangen wird, daß man von Verstorbenen zu erzählen an¬
fängt, als ob sie lebten!

Nur im Vorübergehen will ich endlich noch der Liederlichkeit unsers
Akten- und Zeitungsstils gedenken, die in deu zahllosen stattgehabten und
stattgefundenen Versammlungen, Beratungen, Abstimmungen, Wahlen,
Audienzen n. s. w. zum Ausdruck kommt. Es lohnt der Mühe nicht, viel Worte
drüber zu machen. Der Fehler, ein aktives Partizipium der Vergangenheit
(denn eine Versammlung hat doch stattgefunden, aber sie ist es nicht!) wie ein
passives Partizipium der Vergangenheit mit einem Substantivum zu verbinden,
ist so über alle Maßen widerwärtig, daß man ihn der Tagespresse aller-
unterster Sorte überlassen sollte. Ich weiß sehr wohl, daß der Germanist
solche Verbindungen in Schutz nimmt mit Hinweis auf den gedienten Sol¬
daten, den gelernten Kellner und den studierten Mann. Aber was nimmt
der Germanist nicht alles in Schutz! Was findet er nicht alles richtig, un¬
anfechtbar und schön vor lauter historischer Objektivität! Ihm selber fällt es
natürlich gar nicht ein, von stattgehabten Versamnüunge» zu reden, sowenig


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[0622] Allerhand Sprachdummheiten Dn hat kein andres Tempus etwas zu suchen als das Präsens und das Per¬ fektum, das Präsens für die Geschichte selbst, das Perfekt für die Vorgeschichte. Es wirkt dies unleugbar auf die Dauer etwas ermüdend, aber das ist nicht die Schuld der Tempora, sondern die Schuld der Rezensenten, die nicht im¬ stande sind, eine Inhaltsangabe knapp zu halten und auf das Wesentlichste zu beschränken. Erzählen hören kann man jemand stundenlang, über eine Inhalts¬ angabe fängt man schon nach fünf Minuten an zu gähnen. Mir wenigstens gehts immer so. Der zweite Fall betrifft die biographische Darstellung. Auch diese ist natürlich eine Erzählung, kann sich also in keinem andern Tempus bewegen, 'als im Imperfectum. Aber der erste Satz: die Geburtsaugabe, wie stehts damit? Soll man schreiben: Lessing war geboren, Lessing wurde geboren oder Lessing ist geboren? In der That kann man alle drei Ausdrucksweise» finden. Aber am häufigsten die falsche! Er ist geboren — das kann man doch vernünftigerweise nur von dem sagen, der noch lebt. Deu Lebenden kann man fragen: Wann bist du geboren? Und dann antwortet er: Ich bin am 23. Mai 1844 geboren. Von einem, der nicht mehr lebt, kann man wohl am Schlüsse seiner Biographie sagen: Gestorben ist er am ZI. Oktober 1880 lwiewohl man damit plötzlich aus dein Tone der Erzählung herausfällt in den der bloßen thatsächlichen Mitteilung); aber nur Anfange der Biographie kaun es doch nur heißen: er war oder wurde geboren; mit wurde versetze ich mich um den Anfang des Lebenslaufes meines Helden, mit war versetze ich mich mitten hinein in diesen Lebenslauf. Nun sehe man einmal, in wieviel hundert und tausend Fällen in Zeitungsartikeln, im Konversationslexikon, in .Kunst- und Litteraturgeschichten, in der „Allgemeinen deutschen Biographie" die Gedankenlosigkeit begangen wird, daß man von Verstorbenen zu erzählen an¬ fängt, als ob sie lebten! Nur im Vorübergehen will ich endlich noch der Liederlichkeit unsers Akten- und Zeitungsstils gedenken, die in deu zahllosen stattgehabten und stattgefundenen Versammlungen, Beratungen, Abstimmungen, Wahlen, Audienzen n. s. w. zum Ausdruck kommt. Es lohnt der Mühe nicht, viel Worte drüber zu machen. Der Fehler, ein aktives Partizipium der Vergangenheit (denn eine Versammlung hat doch stattgefunden, aber sie ist es nicht!) wie ein passives Partizipium der Vergangenheit mit einem Substantivum zu verbinden, ist so über alle Maßen widerwärtig, daß man ihn der Tagespresse aller- unterster Sorte überlassen sollte. Ich weiß sehr wohl, daß der Germanist solche Verbindungen in Schutz nimmt mit Hinweis auf den gedienten Sol¬ daten, den gelernten Kellner und den studierten Mann. Aber was nimmt der Germanist nicht alles in Schutz! Was findet er nicht alles richtig, un¬ anfechtbar und schön vor lauter historischer Objektivität! Ihm selber fällt es natürlich gar nicht ein, von stattgehabten Versamnüunge» zu reden, sowenig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/622>, abgerufen am 23.07.2024.