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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Die zukünftigen Parteien

kaiserlichen Erlasse; auch ohne sie wäre den sogenannte" Ordnungsparteien die
Macht der sozialen Bewegung durch die Wahlen zum Bewußtsein gebracht
worden. Die Erlasse dienen mir zur Verstärkung dieses Bewußtseins und zur
Beruhigung für ängstliche Gemüter, weil sie dein Freunde einer stetigen Ent¬
wicklung zeigen, daß an höchster Stelle nicht mir die Lage genan erkannt,
sondern auch der feste Wille vorhanden ist, ihr entgegenzuarbeiten. Der Fatalist
freilich, der aller hundert Jahre das Hervorbrechen einer alten Gedankenflnt
in neuem Gewände mit zwingender Notwendigkeit erwartet, wird einfach
1789/90 und 1889/90 in seinen Gedanken neben einander stellen, um die jetzige
Bewegung ganz begreiflich zu finden.

Aber wie sie auslaufen, wohin sie uns führen wird, wer will das sagen?
Von dem Beibehalten des Sozialistengesetzes kann im Ernste doch niemand
etwas Einschneidendes hoffen. Es hat seine Schuldigkeit gethciu -- oder auch
nicht. Das heißt, es hat den äußern Spektakel etwas zurückgehalten, hat die
Führer zur Vorsicht gemahnt und gewissermaßen erziehend, wenn auch nur
äußerlich, auf die Anhänger der Sozialdemokratie gewirkt; aber den Ge¬
danken Einhalt geboten, die Bewegung der Geister zurückgehalten -- hat es
das? Nein; es hat die Ausgewiesenen gelehrt, Mittelpunkte für neue Ver¬
breitung zu errichten, es hat die Überzeugung zum Fanatismus gesteigert, es
hat die verfolgte Sache mit dem Nimbus des Märthrertums umgeben. Was
Wunder, daß aus den Wahlen solche Ergebnisse hervorgegangen sind! Die neue
soziale Gesetzgebung hat dies nicht hindern können. Ihre Wirkungen werden
recht greifbar erst dem nächsten Geschlecht zu Gute kommen. Auch beziehen
sie sich nnr auf den kranken und alten Arbeiter -- der gesunde hat andre
Wünsche auf dem Herzen.

Aber sind diese auch berechtigt? Und inwieweit? Da stehen wir mitten
in der sozialen Frage. Wer will sie entscheiden? Versagt dem Arbeiter jedes
Eingehen auf seine Forderungen, und ihr werdet sehen, daß wir einer Kata¬
strophe zueilen. Gebt dem Arbeiter nach, dann -- hier scheiden sich die An¬
sichten. Der Optimist wird sich dem entzückenden Gedanken hingeben, daß
dnrch die Reform der Umsturz vermieden und jedem Arbeiter ein menschen¬
würdiges Dasein innerhalb der menschlichen Gesellschaft gewährleistet werde.
Der Pessimist weiß auch hier nichts andres zu sagen, als: es ist alles ver¬
geblich; mit den Zugeständnissen wachsen die Wünsche, die Begierden ins
Ungemessene -- ein Blick in den Abgrund.

Wir halten es mit unserm jungen Kaiser. Die Lösung der sozialen Frage
ist die größte und schwierigste Aufgabe, die der Gesellschaft gestellt ist. Daß
sie auf friedlichem Wege gelöst werde, dazu müssen alle, die den Wert einer
ruhigen Entwicklung schätzen, ihre Kräfte anspornen; das muß die Hauptauf¬
gabe aller Parteien oder der einen Zukunftspartei werden, die die Beseelung
der menschlichen Gesellschaft vor allem in der Herbeiführung gesunder sozialer


Die zukünftigen Parteien

kaiserlichen Erlasse; auch ohne sie wäre den sogenannte» Ordnungsparteien die
Macht der sozialen Bewegung durch die Wahlen zum Bewußtsein gebracht
worden. Die Erlasse dienen mir zur Verstärkung dieses Bewußtseins und zur
Beruhigung für ängstliche Gemüter, weil sie dein Freunde einer stetigen Ent¬
wicklung zeigen, daß an höchster Stelle nicht mir die Lage genan erkannt,
sondern auch der feste Wille vorhanden ist, ihr entgegenzuarbeiten. Der Fatalist
freilich, der aller hundert Jahre das Hervorbrechen einer alten Gedankenflnt
in neuem Gewände mit zwingender Notwendigkeit erwartet, wird einfach
1789/90 und 1889/90 in seinen Gedanken neben einander stellen, um die jetzige
Bewegung ganz begreiflich zu finden.

Aber wie sie auslaufen, wohin sie uns führen wird, wer will das sagen?
Von dem Beibehalten des Sozialistengesetzes kann im Ernste doch niemand
etwas Einschneidendes hoffen. Es hat seine Schuldigkeit gethciu — oder auch
nicht. Das heißt, es hat den äußern Spektakel etwas zurückgehalten, hat die
Führer zur Vorsicht gemahnt und gewissermaßen erziehend, wenn auch nur
äußerlich, auf die Anhänger der Sozialdemokratie gewirkt; aber den Ge¬
danken Einhalt geboten, die Bewegung der Geister zurückgehalten — hat es
das? Nein; es hat die Ausgewiesenen gelehrt, Mittelpunkte für neue Ver¬
breitung zu errichten, es hat die Überzeugung zum Fanatismus gesteigert, es
hat die verfolgte Sache mit dem Nimbus des Märthrertums umgeben. Was
Wunder, daß aus den Wahlen solche Ergebnisse hervorgegangen sind! Die neue
soziale Gesetzgebung hat dies nicht hindern können. Ihre Wirkungen werden
recht greifbar erst dem nächsten Geschlecht zu Gute kommen. Auch beziehen
sie sich nnr auf den kranken und alten Arbeiter — der gesunde hat andre
Wünsche auf dem Herzen.

Aber sind diese auch berechtigt? Und inwieweit? Da stehen wir mitten
in der sozialen Frage. Wer will sie entscheiden? Versagt dem Arbeiter jedes
Eingehen auf seine Forderungen, und ihr werdet sehen, daß wir einer Kata¬
strophe zueilen. Gebt dem Arbeiter nach, dann — hier scheiden sich die An¬
sichten. Der Optimist wird sich dem entzückenden Gedanken hingeben, daß
dnrch die Reform der Umsturz vermieden und jedem Arbeiter ein menschen¬
würdiges Dasein innerhalb der menschlichen Gesellschaft gewährleistet werde.
Der Pessimist weiß auch hier nichts andres zu sagen, als: es ist alles ver¬
geblich; mit den Zugeständnissen wachsen die Wünsche, die Begierden ins
Ungemessene — ein Blick in den Abgrund.

Wir halten es mit unserm jungen Kaiser. Die Lösung der sozialen Frage
ist die größte und schwierigste Aufgabe, die der Gesellschaft gestellt ist. Daß
sie auf friedlichem Wege gelöst werde, dazu müssen alle, die den Wert einer
ruhigen Entwicklung schätzen, ihre Kräfte anspornen; das muß die Hauptauf¬
gabe aller Parteien oder der einen Zukunftspartei werden, die die Beseelung
der menschlichen Gesellschaft vor allem in der Herbeiführung gesunder sozialer


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[0594] Die zukünftigen Parteien kaiserlichen Erlasse; auch ohne sie wäre den sogenannte» Ordnungsparteien die Macht der sozialen Bewegung durch die Wahlen zum Bewußtsein gebracht worden. Die Erlasse dienen mir zur Verstärkung dieses Bewußtseins und zur Beruhigung für ängstliche Gemüter, weil sie dein Freunde einer stetigen Ent¬ wicklung zeigen, daß an höchster Stelle nicht mir die Lage genan erkannt, sondern auch der feste Wille vorhanden ist, ihr entgegenzuarbeiten. Der Fatalist freilich, der aller hundert Jahre das Hervorbrechen einer alten Gedankenflnt in neuem Gewände mit zwingender Notwendigkeit erwartet, wird einfach 1789/90 und 1889/90 in seinen Gedanken neben einander stellen, um die jetzige Bewegung ganz begreiflich zu finden. Aber wie sie auslaufen, wohin sie uns führen wird, wer will das sagen? Von dem Beibehalten des Sozialistengesetzes kann im Ernste doch niemand etwas Einschneidendes hoffen. Es hat seine Schuldigkeit gethciu — oder auch nicht. Das heißt, es hat den äußern Spektakel etwas zurückgehalten, hat die Führer zur Vorsicht gemahnt und gewissermaßen erziehend, wenn auch nur äußerlich, auf die Anhänger der Sozialdemokratie gewirkt; aber den Ge¬ danken Einhalt geboten, die Bewegung der Geister zurückgehalten — hat es das? Nein; es hat die Ausgewiesenen gelehrt, Mittelpunkte für neue Ver¬ breitung zu errichten, es hat die Überzeugung zum Fanatismus gesteigert, es hat die verfolgte Sache mit dem Nimbus des Märthrertums umgeben. Was Wunder, daß aus den Wahlen solche Ergebnisse hervorgegangen sind! Die neue soziale Gesetzgebung hat dies nicht hindern können. Ihre Wirkungen werden recht greifbar erst dem nächsten Geschlecht zu Gute kommen. Auch beziehen sie sich nnr auf den kranken und alten Arbeiter — der gesunde hat andre Wünsche auf dem Herzen. Aber sind diese auch berechtigt? Und inwieweit? Da stehen wir mitten in der sozialen Frage. Wer will sie entscheiden? Versagt dem Arbeiter jedes Eingehen auf seine Forderungen, und ihr werdet sehen, daß wir einer Kata¬ strophe zueilen. Gebt dem Arbeiter nach, dann — hier scheiden sich die An¬ sichten. Der Optimist wird sich dem entzückenden Gedanken hingeben, daß dnrch die Reform der Umsturz vermieden und jedem Arbeiter ein menschen¬ würdiges Dasein innerhalb der menschlichen Gesellschaft gewährleistet werde. Der Pessimist weiß auch hier nichts andres zu sagen, als: es ist alles ver¬ geblich; mit den Zugeständnissen wachsen die Wünsche, die Begierden ins Ungemessene — ein Blick in den Abgrund. Wir halten es mit unserm jungen Kaiser. Die Lösung der sozialen Frage ist die größte und schwierigste Aufgabe, die der Gesellschaft gestellt ist. Daß sie auf friedlichem Wege gelöst werde, dazu müssen alle, die den Wert einer ruhigen Entwicklung schätzen, ihre Kräfte anspornen; das muß die Hauptauf¬ gabe aller Parteien oder der einen Zukunftspartei werden, die die Beseelung der menschlichen Gesellschaft vor allem in der Herbeiführung gesunder sozialer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/594>, abgerufen am 25.08.2024.