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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Die zukünftigen Parteien

cum den Formen der Inhalt entschwunden ist, so können sie als
wertlos zerschlagen werden, Oder sollte man sie, falls sie sich
noch brauchbar erweisen, mit neuem Inhalt erfüllen? Pflegt
man nicht neuen Wein in alte Schläuche zu gießen? Gewiß;
aber anderseits warnt man davor, neue Flicken ans ein altes
Kleid zu setzen.

Und diese Warnung hat etwas für sich. Denn leicht treibt der neue
Wein den alten Schlauch ans einander, und der neue Lappen bringt das alte
Gewand zum Reißen. Ohne Bild- den neuen Gedanken gebührt auch eine
neue Form; und dies umso mehr, wenn sich die alte überlebt hat, wenn sie
sich nur widerwillig den neuen Gedanken fügt.

Sind diese nur stark genug, dann werden sie sich leicht und mit einer
gewissen Naturnotwendigkeit die Form schaffen, sei es durch Neu-, sei es durch
Umbildung des Bestehenden. Die politischen Gedanken aber zeigen ihre Macht
in den direkten Wahlen. Deshalb sind diese unentbehrlich für die menschliche
Gesellschaft. Aus ihnen werden die Stimmungen erkennbar, die in der Volks¬
seele zur Zeit die führende Rolle spielen, mag auch noch so viel Beeinflussung
der Massen, noch so viel geschickte oder auch gewissenlose Mache mit unter-
gelaufen sein. Selbst die rnffinirteste Wahltechnik ist erfolglos, wenn sie nicht
vorhandene Stimmungen benutzen und sich ein herrschende Strömungen wenden
kann. Wer sich in pessimistischer Verstimumng über den Ausfall der Wahlen gegen
das bestehende Wahlrecht auflehnt, muß daher der Kurzsichtigkeit geziehen
werden. Denn nur dadurch, daß man Mittel in der Hand hat, ein Übel zu
erkennen, gewinnt man die Mittel, es erfolgreich zu bekämpfen.

Daß dnrch die letzten Wahlen die soziale Frage in den Vordergrund ge¬
rückt worden ist, wer wollte das bestreiten? Es bedürfte dazu nicht der


Grenzboten I 1830 74


Die zukünftigen Parteien

cum den Formen der Inhalt entschwunden ist, so können sie als
wertlos zerschlagen werden, Oder sollte man sie, falls sie sich
noch brauchbar erweisen, mit neuem Inhalt erfüllen? Pflegt
man nicht neuen Wein in alte Schläuche zu gießen? Gewiß;
aber anderseits warnt man davor, neue Flicken ans ein altes
Kleid zu setzen.

Und diese Warnung hat etwas für sich. Denn leicht treibt der neue
Wein den alten Schlauch ans einander, und der neue Lappen bringt das alte
Gewand zum Reißen. Ohne Bild- den neuen Gedanken gebührt auch eine
neue Form; und dies umso mehr, wenn sich die alte überlebt hat, wenn sie
sich nur widerwillig den neuen Gedanken fügt.

Sind diese nur stark genug, dann werden sie sich leicht und mit einer
gewissen Naturnotwendigkeit die Form schaffen, sei es durch Neu-, sei es durch
Umbildung des Bestehenden. Die politischen Gedanken aber zeigen ihre Macht
in den direkten Wahlen. Deshalb sind diese unentbehrlich für die menschliche
Gesellschaft. Aus ihnen werden die Stimmungen erkennbar, die in der Volks¬
seele zur Zeit die führende Rolle spielen, mag auch noch so viel Beeinflussung
der Massen, noch so viel geschickte oder auch gewissenlose Mache mit unter-
gelaufen sein. Selbst die rnffinirteste Wahltechnik ist erfolglos, wenn sie nicht
vorhandene Stimmungen benutzen und sich ein herrschende Strömungen wenden
kann. Wer sich in pessimistischer Verstimumng über den Ausfall der Wahlen gegen
das bestehende Wahlrecht auflehnt, muß daher der Kurzsichtigkeit geziehen
werden. Denn nur dadurch, daß man Mittel in der Hand hat, ein Übel zu
erkennen, gewinnt man die Mittel, es erfolgreich zu bekämpfen.

Daß dnrch die letzten Wahlen die soziale Frage in den Vordergrund ge¬
rückt worden ist, wer wollte das bestreiten? Es bedürfte dazu nicht der


Grenzboten I 1830 74
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[0593] [Abbildung] Die zukünftigen Parteien cum den Formen der Inhalt entschwunden ist, so können sie als wertlos zerschlagen werden, Oder sollte man sie, falls sie sich noch brauchbar erweisen, mit neuem Inhalt erfüllen? Pflegt man nicht neuen Wein in alte Schläuche zu gießen? Gewiß; aber anderseits warnt man davor, neue Flicken ans ein altes Kleid zu setzen. Und diese Warnung hat etwas für sich. Denn leicht treibt der neue Wein den alten Schlauch ans einander, und der neue Lappen bringt das alte Gewand zum Reißen. Ohne Bild- den neuen Gedanken gebührt auch eine neue Form; und dies umso mehr, wenn sich die alte überlebt hat, wenn sie sich nur widerwillig den neuen Gedanken fügt. Sind diese nur stark genug, dann werden sie sich leicht und mit einer gewissen Naturnotwendigkeit die Form schaffen, sei es durch Neu-, sei es durch Umbildung des Bestehenden. Die politischen Gedanken aber zeigen ihre Macht in den direkten Wahlen. Deshalb sind diese unentbehrlich für die menschliche Gesellschaft. Aus ihnen werden die Stimmungen erkennbar, die in der Volks¬ seele zur Zeit die führende Rolle spielen, mag auch noch so viel Beeinflussung der Massen, noch so viel geschickte oder auch gewissenlose Mache mit unter- gelaufen sein. Selbst die rnffinirteste Wahltechnik ist erfolglos, wenn sie nicht vorhandene Stimmungen benutzen und sich ein herrschende Strömungen wenden kann. Wer sich in pessimistischer Verstimumng über den Ausfall der Wahlen gegen das bestehende Wahlrecht auflehnt, muß daher der Kurzsichtigkeit geziehen werden. Denn nur dadurch, daß man Mittel in der Hand hat, ein Übel zu erkennen, gewinnt man die Mittel, es erfolgreich zu bekämpfen. Daß dnrch die letzten Wahlen die soziale Frage in den Vordergrund ge¬ rückt worden ist, wer wollte das bestreiten? Es bedürfte dazu nicht der Grenzboten I 1830 74

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/593>, abgerufen am 23.07.2024.