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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Vorhang und Drama

Natürlich folgten die Stürmer und Dränger dem Beispiel, das Goethe
im Götz gegeben hatte, Sie benutzen endlich den großen Vorteil, den ihnen
das Fallen des Vorhanges bot, zuerst wenn auch sparsam in der Weise, daß
sie Personen am Schluß des Aktes auf der Bühne lassen. Zwei Aktschlüsse
sind hier besonders anziehend. In Wagners "Kindermörderin" vom Jahre 1776
findet sich im ersten Aktschluß zum erstenmale die Vorschrift: "Der Vorhang
fällt," nicht etwa, weil er hier zuerst gefallen wäre, sondern weil er hier fallen
mußte, da hier eine Person auf der Vühne ist, die nicht fortgehen kann, die
trunken gemachte schlafende Frau Humbrecht. Dieselbe Vorschrift findet sich
in Klingers Zwillingen (ans demselben Jahre) am Schluß des vierten Aktes,
wo sich Guelfo niederlegt, um zu schlafen.

Sehr oft schließen um freilich auch Goethes Akte noch mit leerer Bühne,
aber es wird das nicht erzwungen, wo es sich nicht von selbst darbietet; es
wird nicht mehr ängstlich ans die Bindung der Szene" geachtet, und die Hand¬
lung des Zwischenaktes wird meist wirklich geschlossen. Mit einer Episode zu
schließen ist nicht mehr möglich. Den großen Forschritt zeigt uns z. B. der
Egmont. Der dritte Akt schließt mit der herrliche" Liebesszeue Egmonts und
Klürchens. Egmonts Schlußworte "Das ist dein Egmont" und darauf Klärchens
Autwort: "So laß mich sterben! Die Welt hat keine Freuden auf diese"
werdeu gesprochen, während der Vorhang fällt. Ein schöner harmonischer Ab¬
schluß, der zugleich die Höhe des Aktes bildet und i" unsrer Phantasie das
Bild, das uns der Akt bot, lange bewahrt, gerade deswegen, weil er in der
Situation schließt. Es ist ein Schluß, der bei Lessing undenkbar wäre. Lessing
hätte die Liebenden von der Bühne bringen und das herrliche Bild zerstören,
ein Motiv erfinden müssen, das beide entfernt, das sie im Zwischenakte be¬
schäftigt und wieder auf die Bühne geführt hätte. Wer fühlte hier nicht den
ungeheuern Fortschritt des Dichters, der das technische Mittel, das Fallen des
Vorhanges so weise für das Drama zu benutzen verstand? In derselben Weise
hat sich Goethe dieses Mittels am Schluß des vierten Auszuges bedient. Hier
fügt er sogar die Worte: "Alba bleibt stehen" und zum erstenmale in seinem
Drama die Vorschrift "Der Vorhang fällt" hinzu. Er versprach sich offenbar
eine besondre Wirkung hiervon. Alis der Thatsache, daß sich diese Vorschrift
bei Klinger, Wagner, Lenz und Goethe und auch bei Iffland, wie eine Durch¬
sicht seiner zahlreichen Dramen zeigt, gerade dort vorfindet, wo der Vorhang
fallen mußte, darf man wohl den Schluß ziehen, daß die Sitte, den Vorhang
nach dem Akte fallen zu lassen, nicht immer eingehalten wurde.")



^ Die dramatischen Dichter aus der Mitte des Jahrhunderts und der folgenden Zeit,
wie Brandes, Sprickmann, Jahr, Großmann, Spieß bedienten sich des mil dem Fallen des
Borhanges gegebenen Vorteils wenig. Sie stehen im großen und ganzen auf dem Lessingjchen,
dem französischen Standpunkte.
Vorhang und Drama

Natürlich folgten die Stürmer und Dränger dem Beispiel, das Goethe
im Götz gegeben hatte, Sie benutzen endlich den großen Vorteil, den ihnen
das Fallen des Vorhanges bot, zuerst wenn auch sparsam in der Weise, daß
sie Personen am Schluß des Aktes auf der Bühne lassen. Zwei Aktschlüsse
sind hier besonders anziehend. In Wagners „Kindermörderin" vom Jahre 1776
findet sich im ersten Aktschluß zum erstenmale die Vorschrift: „Der Vorhang
fällt," nicht etwa, weil er hier zuerst gefallen wäre, sondern weil er hier fallen
mußte, da hier eine Person auf der Vühne ist, die nicht fortgehen kann, die
trunken gemachte schlafende Frau Humbrecht. Dieselbe Vorschrift findet sich
in Klingers Zwillingen (ans demselben Jahre) am Schluß des vierten Aktes,
wo sich Guelfo niederlegt, um zu schlafen.

Sehr oft schließen um freilich auch Goethes Akte noch mit leerer Bühne,
aber es wird das nicht erzwungen, wo es sich nicht von selbst darbietet; es
wird nicht mehr ängstlich ans die Bindung der Szene» geachtet, und die Hand¬
lung des Zwischenaktes wird meist wirklich geschlossen. Mit einer Episode zu
schließen ist nicht mehr möglich. Den großen Forschritt zeigt uns z. B. der
Egmont. Der dritte Akt schließt mit der herrliche» Liebesszeue Egmonts und
Klürchens. Egmonts Schlußworte „Das ist dein Egmont" und darauf Klärchens
Autwort: „So laß mich sterben! Die Welt hat keine Freuden auf diese"
werdeu gesprochen, während der Vorhang fällt. Ein schöner harmonischer Ab¬
schluß, der zugleich die Höhe des Aktes bildet und i» unsrer Phantasie das
Bild, das uns der Akt bot, lange bewahrt, gerade deswegen, weil er in der
Situation schließt. Es ist ein Schluß, der bei Lessing undenkbar wäre. Lessing
hätte die Liebenden von der Bühne bringen und das herrliche Bild zerstören,
ein Motiv erfinden müssen, das beide entfernt, das sie im Zwischenakte be¬
schäftigt und wieder auf die Bühne geführt hätte. Wer fühlte hier nicht den
ungeheuern Fortschritt des Dichters, der das technische Mittel, das Fallen des
Vorhanges so weise für das Drama zu benutzen verstand? In derselben Weise
hat sich Goethe dieses Mittels am Schluß des vierten Auszuges bedient. Hier
fügt er sogar die Worte: „Alba bleibt stehen" und zum erstenmale in seinem
Drama die Vorschrift „Der Vorhang fällt" hinzu. Er versprach sich offenbar
eine besondre Wirkung hiervon. Alis der Thatsache, daß sich diese Vorschrift
bei Klinger, Wagner, Lenz und Goethe und auch bei Iffland, wie eine Durch¬
sicht seiner zahlreichen Dramen zeigt, gerade dort vorfindet, wo der Vorhang
fallen mußte, darf man wohl den Schluß ziehen, daß die Sitte, den Vorhang
nach dem Akte fallen zu lassen, nicht immer eingehalten wurde.")



^ Die dramatischen Dichter aus der Mitte des Jahrhunderts und der folgenden Zeit,
wie Brandes, Sprickmann, Jahr, Großmann, Spieß bedienten sich des mil dem Fallen des
Borhanges gegebenen Vorteils wenig. Sie stehen im großen und ganzen auf dem Lessingjchen,
dem französischen Standpunkte.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/532>, abgerufen am 23.07.2024.