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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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der Letzte, der gewillt wäre, sie hinwegznreden. Aber so unthätig und nutzlos,
wie eine Anzahl unwissender und unfähiger sozialdemokratischer Demagogen es
in die Welt schreit, hat sich der Staat in den sechstausend oder zehntausend
oder noch mehr Jahren, seitdem er besteht, doch nicht erwiesen! Wir sind auch
nicht drzu da, die in notwendiger Entwicklung von Ursache zur Wirkung ge¬
wordenen Zustände der Gegenwart zu schmähen, zu belachen oder zu be¬
trauern, sondern wir sind dazu da, sie verstehen und nach Maßgabe dieser
Erkenntnis unsre Handlungen einrichten zu lernen. Was für Pflichten legt
uus nun die Gegenwart auf?

Der Grad der erlangten politischen Freiheit ist heute kein Gegenstand der
Beschwerde unter vernünftigen Menschen mehr. Im wesentlichen dürfen wir
ihre Entwicklung mit den Ideen der französischen Revolution für abgeschlossen
betrachten. Soweit diese Ideen gesund waren, sind sie der politischen Ver¬
fassung unsers jungen Reiches zu Grunde gelegt. Und selbst wo Nur in
Rechtsgewährungen weiter gegangen sind als andre Volker, z. B. in unsern
Preßgesetzen und im allgemeinen Wahlrecht, wollen wir uns das uicht leid
sein lassen. Denn je mehr Einzelne bei der Gesetzgebung gehört werden, desto
sicherer dürfen wir darauf rechnen, daß jedes berechtigte Eiuzelinterefse berück¬
sichtigt wird. Nur muß es dabei bleiben, daß der Ausschlag uicht beim Parla¬
ment, also bei den Einzelinteressen, sondern bei der ihre Autorität aus höherm
Ursprünge herleitenden sür das Ganze verantwortlichen Monarchie liegt, daß
diese gemeinschädlichem Mehrheitsbeschlüssen des Reichstages, wie wir deren
früher erlebt haben und jetzt leider wieder erwarten müssen, ihre Zustimmung
versagen darf.

Dagegen ist es der Drang nach erweiterten wirtschaftlichen Rechten, der
heute die Geister, und zwar mit Recht, bewegt. Es ist die sogenannte soziale
Frage, mit der es die fortschreitende staatliche Entwicklung zu thun hat.

Über die soziale Frage befinden sich aber die meisten Menschen in dein
großen Irrtum, daß sie sie für etwas Funkelnagelneues, in der Welt noch nicht
Dagewesenes halten, für etwas, was erst mit der Fabrikarbeit über uns ge¬
kommen sei, für eine Frage, die es nur mit den Lohnarbeitern der untern
Klassen zu thun habe. Nein, so liegt die Sache nicht. Die soziale Aufgabe
ist so alt wie der Staat selbst. Der aufmerksame Leser wird bereits bemerkt
haben, daß bei mir die Wirksamkeit des Staates und der Sozialismus zusammen¬
fallen. Ich sagte, das Wesen, der Zweck des Staates bestehe darin, den an¬
geborenen, an sich schrankenlosen Egoismus einzelner Menschen und Klassen
den Bedingungen des Gesamtinteresses zu unterwerfen, rohe, natürliche mensch¬
liche Kraft in sittliche Freiheit umzuwandeln. Genau dasselbe will auch der
Sozialismus. Auf den verschiednen Entwicklungsstufen des Staates mußte
natürlich das soziale Problem immer in andern Formen auftreten, aber immer
hat es sich für den Staat darum gehandelt, einzelnen Klaffen z. B. in der


der Letzte, der gewillt wäre, sie hinwegznreden. Aber so unthätig und nutzlos,
wie eine Anzahl unwissender und unfähiger sozialdemokratischer Demagogen es
in die Welt schreit, hat sich der Staat in den sechstausend oder zehntausend
oder noch mehr Jahren, seitdem er besteht, doch nicht erwiesen! Wir sind auch
nicht drzu da, die in notwendiger Entwicklung von Ursache zur Wirkung ge¬
wordenen Zustände der Gegenwart zu schmähen, zu belachen oder zu be¬
trauern, sondern wir sind dazu da, sie verstehen und nach Maßgabe dieser
Erkenntnis unsre Handlungen einrichten zu lernen. Was für Pflichten legt
uus nun die Gegenwart auf?

Der Grad der erlangten politischen Freiheit ist heute kein Gegenstand der
Beschwerde unter vernünftigen Menschen mehr. Im wesentlichen dürfen wir
ihre Entwicklung mit den Ideen der französischen Revolution für abgeschlossen
betrachten. Soweit diese Ideen gesund waren, sind sie der politischen Ver¬
fassung unsers jungen Reiches zu Grunde gelegt. Und selbst wo Nur in
Rechtsgewährungen weiter gegangen sind als andre Volker, z. B. in unsern
Preßgesetzen und im allgemeinen Wahlrecht, wollen wir uns das uicht leid
sein lassen. Denn je mehr Einzelne bei der Gesetzgebung gehört werden, desto
sicherer dürfen wir darauf rechnen, daß jedes berechtigte Eiuzelinterefse berück¬
sichtigt wird. Nur muß es dabei bleiben, daß der Ausschlag uicht beim Parla¬
ment, also bei den Einzelinteressen, sondern bei der ihre Autorität aus höherm
Ursprünge herleitenden sür das Ganze verantwortlichen Monarchie liegt, daß
diese gemeinschädlichem Mehrheitsbeschlüssen des Reichstages, wie wir deren
früher erlebt haben und jetzt leider wieder erwarten müssen, ihre Zustimmung
versagen darf.

Dagegen ist es der Drang nach erweiterten wirtschaftlichen Rechten, der
heute die Geister, und zwar mit Recht, bewegt. Es ist die sogenannte soziale
Frage, mit der es die fortschreitende staatliche Entwicklung zu thun hat.

Über die soziale Frage befinden sich aber die meisten Menschen in dein
großen Irrtum, daß sie sie für etwas Funkelnagelneues, in der Welt noch nicht
Dagewesenes halten, für etwas, was erst mit der Fabrikarbeit über uns ge¬
kommen sei, für eine Frage, die es nur mit den Lohnarbeitern der untern
Klassen zu thun habe. Nein, so liegt die Sache nicht. Die soziale Aufgabe
ist so alt wie der Staat selbst. Der aufmerksame Leser wird bereits bemerkt
haben, daß bei mir die Wirksamkeit des Staates und der Sozialismus zusammen¬
fallen. Ich sagte, das Wesen, der Zweck des Staates bestehe darin, den an¬
geborenen, an sich schrankenlosen Egoismus einzelner Menschen und Klassen
den Bedingungen des Gesamtinteresses zu unterwerfen, rohe, natürliche mensch¬
liche Kraft in sittliche Freiheit umzuwandeln. Genau dasselbe will auch der
Sozialismus. Auf den verschiednen Entwicklungsstufen des Staates mußte
natürlich das soziale Problem immer in andern Formen auftreten, aber immer
hat es sich für den Staat darum gehandelt, einzelnen Klaffen z. B. in der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/501>, abgerufen am 23.07.2024.