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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Nach den Reichstagswcchlen

gab es Wölfe und Bären, wo heute das Land einem Garten gleicht, darin
sich die Menschen mit ihrer friedlichen Arbeit in blühenden Städten und
Dörfern angesiedelt haben. Damals gab es eine Anzahl freier Herren, die
sich den Grund und Boden gewaltsam unterworfen hatten, die von Ritter¬
sitzen aus eine gewaltsame Herrschaft führten, daneben fast nnr Leibeigne und
Knechte. Es gab fast keinen freien Bauernstand, das Bürgertum hatte in
wenigen befestigten Städten eben erst angefangen sich zu entwickeln, es gab ein
kümmerliches Handwerk, keine Industrie, wenig Handel. Wenn wir uns den
damaligen Zustand von Land und Leuten gegenüber dem heutigen sinnlich vor
die Augen zaubern könnten, so würden wir den ungeheuern Fortschritt deutlich
einsehen, der mit der allmählichen Entwicklung der staatlichen Gesamtmacht
über den Einzelnen auf allen Gebieten menschlicher Thätigkeit möglich geworden
ist. Von Menschenalter zu Menschenalter hat sich der staatliche Schutz aus
mehr einzelne Menschen und Arbeitsgebiete erstreckt, wie unsre dicken Gesetz¬
bücher beweisen. Die hieraus entsprungene Blüte der Wissenschaft, der Kunst,
des Gewerbes, des Erfindungsgeistes u. s. w. hat eine Erweiterung der Ge¬
nüsse unsers Daseins gebracht, von der unsre Vorfahren keine Ahnung hatten,
die auch dem Armen bis zu einem gewissen Grade zugute gehen und die wir
nur deshalb nicht genügend schätzen, weil wir daran gewöhnt sind, weil wir
sie für selbstverständlich halten. Aber der Ärmste unter uns würde bellte in
seiner Lebensführung nicht mit den Rittern lind Herren tauschen, die vor
tausend Jahren über weite Strecken Landes geboten. Das Bett, das künstliche
Licht, das bequeme Hausgerät, die behagliche Kleidung und Wohnung, die
verfeinerte Nahrung, das Bier, der Tabak und unzählige dergleichen Dinge,
ganz abgesehen von den Darbietungen der Wissenschaft in den Büchern, der
bildenden Kunst, der Musik, der Schauspielkunst, das sind die Mittel, mit
denen heute auch der Ärmste den Genuß seines Daseins bis zu einem gewissen
Grade erhöht, und die vor tausend Jahren auch dem Reichsten noch nicht oder
fast noch nicht zugänglich waren.

Und neben dieser mit der fortschreitenden Allsdehnung der staatlichen Ge¬
walt wachsenden Beteiligung des Einzelnen an der wirtschaftlichen Wohlfahrt
ist auch seine Beteiligung an der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten
und des Staates selbst, d. i. die Entwicklung zur politischen Freiheit gestiegen.
Niemand hat heute mehr eine Macht auf die Person des andern nußer aus
Grund gegenseitigen Vertrages; alle, vom höchsten bis zum niedrigsten, sind
heute beinahe gleich vor dem Gesetz; jeder darf heute seine Meinung in
Schrift und Wort beinahe frei äußern, es giebt Selbstverwaltung in der Ge¬
meinde, der Genossenschaft u. s. w., und endlich nimmt heute jeder kraft des
allgemeinen Wahlrechts Teil an der Gesetzgebung.

Gewiß, schwer sind die Übel, zahlreich die Leidenden unter den Kindern
des Volkes, die uns in unsern Tagen leider noch umgeben, und ich bin gewiß


Nach den Reichstagswcchlen

gab es Wölfe und Bären, wo heute das Land einem Garten gleicht, darin
sich die Menschen mit ihrer friedlichen Arbeit in blühenden Städten und
Dörfern angesiedelt haben. Damals gab es eine Anzahl freier Herren, die
sich den Grund und Boden gewaltsam unterworfen hatten, die von Ritter¬
sitzen aus eine gewaltsame Herrschaft führten, daneben fast nnr Leibeigne und
Knechte. Es gab fast keinen freien Bauernstand, das Bürgertum hatte in
wenigen befestigten Städten eben erst angefangen sich zu entwickeln, es gab ein
kümmerliches Handwerk, keine Industrie, wenig Handel. Wenn wir uns den
damaligen Zustand von Land und Leuten gegenüber dem heutigen sinnlich vor
die Augen zaubern könnten, so würden wir den ungeheuern Fortschritt deutlich
einsehen, der mit der allmählichen Entwicklung der staatlichen Gesamtmacht
über den Einzelnen auf allen Gebieten menschlicher Thätigkeit möglich geworden
ist. Von Menschenalter zu Menschenalter hat sich der staatliche Schutz aus
mehr einzelne Menschen und Arbeitsgebiete erstreckt, wie unsre dicken Gesetz¬
bücher beweisen. Die hieraus entsprungene Blüte der Wissenschaft, der Kunst,
des Gewerbes, des Erfindungsgeistes u. s. w. hat eine Erweiterung der Ge¬
nüsse unsers Daseins gebracht, von der unsre Vorfahren keine Ahnung hatten,
die auch dem Armen bis zu einem gewissen Grade zugute gehen und die wir
nur deshalb nicht genügend schätzen, weil wir daran gewöhnt sind, weil wir
sie für selbstverständlich halten. Aber der Ärmste unter uns würde bellte in
seiner Lebensführung nicht mit den Rittern lind Herren tauschen, die vor
tausend Jahren über weite Strecken Landes geboten. Das Bett, das künstliche
Licht, das bequeme Hausgerät, die behagliche Kleidung und Wohnung, die
verfeinerte Nahrung, das Bier, der Tabak und unzählige dergleichen Dinge,
ganz abgesehen von den Darbietungen der Wissenschaft in den Büchern, der
bildenden Kunst, der Musik, der Schauspielkunst, das sind die Mittel, mit
denen heute auch der Ärmste den Genuß seines Daseins bis zu einem gewissen
Grade erhöht, und die vor tausend Jahren auch dem Reichsten noch nicht oder
fast noch nicht zugänglich waren.

Und neben dieser mit der fortschreitenden Allsdehnung der staatlichen Ge¬
walt wachsenden Beteiligung des Einzelnen an der wirtschaftlichen Wohlfahrt
ist auch seine Beteiligung an der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten
und des Staates selbst, d. i. die Entwicklung zur politischen Freiheit gestiegen.
Niemand hat heute mehr eine Macht auf die Person des andern nußer aus
Grund gegenseitigen Vertrages; alle, vom höchsten bis zum niedrigsten, sind
heute beinahe gleich vor dem Gesetz; jeder darf heute seine Meinung in
Schrift und Wort beinahe frei äußern, es giebt Selbstverwaltung in der Ge¬
meinde, der Genossenschaft u. s. w., und endlich nimmt heute jeder kraft des
allgemeinen Wahlrechts Teil an der Gesetzgebung.

Gewiß, schwer sind die Übel, zahlreich die Leidenden unter den Kindern
des Volkes, die uns in unsern Tagen leider noch umgeben, und ich bin gewiß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/500>, abgerufen am 25.08.2024.