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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Der Zunftzwang

aller es geht nicht. Nachdem man den GeWerken die Macht eingeräumt hätte,
die Zahl der Meister willkürlich zu beschränken, würde die Frage entstehen,
ob die Zahl der Lehrlinge ebenfalls beschränkt oder freigegeben werden solle.
Im letztern Falle würden jene Lehrlinge und Gesellen, denen jede Aussicht
ans Selbständigkeit versperrt ist, noch weit zahlreicher werden als jetzt; die
Gesellen wäre" erst recht "Arbeiter"; sämtliche Meister hingegen würden in
den Stand der Fabrikanten aufsteigen. Für die Arbeiter wäre es dann ein
schlechter Trost, daß der Mann, der sie "ausbeutet," jetzt nicht mehr Kommerzienrat
Cohn, sondern Obermeister Müller heißt, und wir bekämen die alte Arbeiter¬
frage in veränderter, aber nicht in verbesserter Auflage. Oder die Zahl der Lehr¬
linge würde ebenfalls beschränkt, sodaß jedem neu eintretenden Handwerksgenossen
die zukünftige Selbständigkeit gesichert wäre. Dann würden sich die Staats¬
behörden vor die Wahl gestellt sehen, jedes Jahr zu Ostern die überschüssigen
kvnfirmirte" Jungen entweder totschlagen zu lassen oder nach Kamerun zu
verladen. Es giebt in ganz Europa keinen Staatsmann, der toll genug wäre,
einen solchen Zustand herbeizuführen.

Aus dem Unrecht der Zünftler folgt aber nicht etwa, daß die Liberalen
Recht haben. Nichts ist lächerlicher als der Feuereifer reiner Nächstenliebe,
mit dem sie für das Recht und die Freiheit des armen Arbeiters eintreten,
sich um jedem beliebigen Ort und durch jede beliebige ehrliche Beschäftigung
nicht allein zu ernähren, sondern auch zum Fabrikanten emporzuschwingen.
Einige gedankenlose Schwärmer scheint eS ja wirklich nnter den Zeitungs¬
schreibern zu geben, die sich einbilden, alle Schusterjungen konnten Schuh-
fabrikauteu werden, vöwvhl die Heinzelmännchen, die dann für die Arbeit
erforderlich wären, längst ansgestorbe" sind. Aber die Hauptstützen der unbe¬
schränkte" Gewerbefreiheit wissen ganz genau, wie die Sache steht und was
sie wolle". Sie wissen, daß die zukünftige Fabrikantenschast des Schuster-
jungen nicht mehr wert ist, wie der Marschallsstab im Tornister des gemeinen
Soldaten, daß zwar der Kapitalist die Freiheit hat, eine Schuhfabrik zu er¬
richte", daß jedoch dem kleinen Meister nur die Freiheit bleibt, zu wühle", ob
er als Arbeiter beim Fabrikanten eintreten oder zu Hause "in Geselleulvhu
für ih" arbeite" null. Die Freiheit, für die ma" eifert, ist nicht die Freiheit
der Handwerker, sondern nur die der Kapitalisten.

Auch mit den Bvrschnßvereinen, die als zeitgemäßer Ersatz für die alten
Innungen gepriesen werde", ist weit mehr den Kapitalisten als den Handwerker"
gedient. Zu sechs Prozent bekommt der sichere Mann Geld bei jeder Bank
"ut bei jedem rechtschaffenen .Kapitalisten, ohne daß er zwei Bürgen braucht;
wer aber seinen Kredit mit zwei Bürgen zu stützen genötigt ist, der hat eben
keinen Kredit und soll sich auf kein Geschäft einlasse", das Kredit erfordert.
Es war das Zeiche" eines schlechten Gewissens, daß die Vorschußvereine sich
so heftig gegen die Bestimuumg des neue" Ge"osse"schaftSgcsetzes sträubte",


Grenzbvion I 57
Der Zunftzwang

aller es geht nicht. Nachdem man den GeWerken die Macht eingeräumt hätte,
die Zahl der Meister willkürlich zu beschränken, würde die Frage entstehen,
ob die Zahl der Lehrlinge ebenfalls beschränkt oder freigegeben werden solle.
Im letztern Falle würden jene Lehrlinge und Gesellen, denen jede Aussicht
ans Selbständigkeit versperrt ist, noch weit zahlreicher werden als jetzt; die
Gesellen wäre» erst recht „Arbeiter"; sämtliche Meister hingegen würden in
den Stand der Fabrikanten aufsteigen. Für die Arbeiter wäre es dann ein
schlechter Trost, daß der Mann, der sie „ausbeutet," jetzt nicht mehr Kommerzienrat
Cohn, sondern Obermeister Müller heißt, und wir bekämen die alte Arbeiter¬
frage in veränderter, aber nicht in verbesserter Auflage. Oder die Zahl der Lehr¬
linge würde ebenfalls beschränkt, sodaß jedem neu eintretenden Handwerksgenossen
die zukünftige Selbständigkeit gesichert wäre. Dann würden sich die Staats¬
behörden vor die Wahl gestellt sehen, jedes Jahr zu Ostern die überschüssigen
kvnfirmirte» Jungen entweder totschlagen zu lassen oder nach Kamerun zu
verladen. Es giebt in ganz Europa keinen Staatsmann, der toll genug wäre,
einen solchen Zustand herbeizuführen.

Aus dem Unrecht der Zünftler folgt aber nicht etwa, daß die Liberalen
Recht haben. Nichts ist lächerlicher als der Feuereifer reiner Nächstenliebe,
mit dem sie für das Recht und die Freiheit des armen Arbeiters eintreten,
sich um jedem beliebigen Ort und durch jede beliebige ehrliche Beschäftigung
nicht allein zu ernähren, sondern auch zum Fabrikanten emporzuschwingen.
Einige gedankenlose Schwärmer scheint eS ja wirklich nnter den Zeitungs¬
schreibern zu geben, die sich einbilden, alle Schusterjungen konnten Schuh-
fabrikauteu werden, vöwvhl die Heinzelmännchen, die dann für die Arbeit
erforderlich wären, längst ansgestorbe» sind. Aber die Hauptstützen der unbe¬
schränkte» Gewerbefreiheit wissen ganz genau, wie die Sache steht und was
sie wolle«. Sie wissen, daß die zukünftige Fabrikantenschast des Schuster-
jungen nicht mehr wert ist, wie der Marschallsstab im Tornister des gemeinen
Soldaten, daß zwar der Kapitalist die Freiheit hat, eine Schuhfabrik zu er¬
richte», daß jedoch dem kleinen Meister nur die Freiheit bleibt, zu wühle», ob
er als Arbeiter beim Fabrikanten eintreten oder zu Hause »in Geselleulvhu
für ih» arbeite» null. Die Freiheit, für die ma» eifert, ist nicht die Freiheit
der Handwerker, sondern nur die der Kapitalisten.

Auch mit den Bvrschnßvereinen, die als zeitgemäßer Ersatz für die alten
Innungen gepriesen werde», ist weit mehr den Kapitalisten als den Handwerker»
gedient. Zu sechs Prozent bekommt der sichere Mann Geld bei jeder Bank
»ut bei jedem rechtschaffenen .Kapitalisten, ohne daß er zwei Bürgen braucht;
wer aber seinen Kredit mit zwei Bürgen zu stützen genötigt ist, der hat eben
keinen Kredit und soll sich auf kein Geschäft einlasse», das Kredit erfordert.
Es war das Zeiche» eines schlechten Gewissens, daß die Vorschußvereine sich
so heftig gegen die Bestimuumg des neue» Ge»osse»schaftSgcsetzes sträubte»,


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[0457] Der Zunftzwang aller es geht nicht. Nachdem man den GeWerken die Macht eingeräumt hätte, die Zahl der Meister willkürlich zu beschränken, würde die Frage entstehen, ob die Zahl der Lehrlinge ebenfalls beschränkt oder freigegeben werden solle. Im letztern Falle würden jene Lehrlinge und Gesellen, denen jede Aussicht ans Selbständigkeit versperrt ist, noch weit zahlreicher werden als jetzt; die Gesellen wäre» erst recht „Arbeiter"; sämtliche Meister hingegen würden in den Stand der Fabrikanten aufsteigen. Für die Arbeiter wäre es dann ein schlechter Trost, daß der Mann, der sie „ausbeutet," jetzt nicht mehr Kommerzienrat Cohn, sondern Obermeister Müller heißt, und wir bekämen die alte Arbeiter¬ frage in veränderter, aber nicht in verbesserter Auflage. Oder die Zahl der Lehr¬ linge würde ebenfalls beschränkt, sodaß jedem neu eintretenden Handwerksgenossen die zukünftige Selbständigkeit gesichert wäre. Dann würden sich die Staats¬ behörden vor die Wahl gestellt sehen, jedes Jahr zu Ostern die überschüssigen kvnfirmirte» Jungen entweder totschlagen zu lassen oder nach Kamerun zu verladen. Es giebt in ganz Europa keinen Staatsmann, der toll genug wäre, einen solchen Zustand herbeizuführen. Aus dem Unrecht der Zünftler folgt aber nicht etwa, daß die Liberalen Recht haben. Nichts ist lächerlicher als der Feuereifer reiner Nächstenliebe, mit dem sie für das Recht und die Freiheit des armen Arbeiters eintreten, sich um jedem beliebigen Ort und durch jede beliebige ehrliche Beschäftigung nicht allein zu ernähren, sondern auch zum Fabrikanten emporzuschwingen. Einige gedankenlose Schwärmer scheint eS ja wirklich nnter den Zeitungs¬ schreibern zu geben, die sich einbilden, alle Schusterjungen konnten Schuh- fabrikauteu werden, vöwvhl die Heinzelmännchen, die dann für die Arbeit erforderlich wären, längst ansgestorbe» sind. Aber die Hauptstützen der unbe¬ schränkte» Gewerbefreiheit wissen ganz genau, wie die Sache steht und was sie wolle«. Sie wissen, daß die zukünftige Fabrikantenschast des Schuster- jungen nicht mehr wert ist, wie der Marschallsstab im Tornister des gemeinen Soldaten, daß zwar der Kapitalist die Freiheit hat, eine Schuhfabrik zu er¬ richte», daß jedoch dem kleinen Meister nur die Freiheit bleibt, zu wühle», ob er als Arbeiter beim Fabrikanten eintreten oder zu Hause »in Geselleulvhu für ih» arbeite» null. Die Freiheit, für die ma» eifert, ist nicht die Freiheit der Handwerker, sondern nur die der Kapitalisten. Auch mit den Bvrschnßvereinen, die als zeitgemäßer Ersatz für die alten Innungen gepriesen werde», ist weit mehr den Kapitalisten als den Handwerker» gedient. Zu sechs Prozent bekommt der sichere Mann Geld bei jeder Bank »ut bei jedem rechtschaffenen .Kapitalisten, ohne daß er zwei Bürgen braucht; wer aber seinen Kredit mit zwei Bürgen zu stützen genötigt ist, der hat eben keinen Kredit und soll sich auf kein Geschäft einlasse», das Kredit erfordert. Es war das Zeiche» eines schlechten Gewissens, daß die Vorschußvereine sich so heftig gegen die Bestimuumg des neue» Ge»osse»schaftSgcsetzes sträubte», Grenzbvion I 57

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/457>, abgerufen am 03.07.2024.